RUDOLF KASSNER


Kassner — Buch der Erinnerung

BUCH DER ERINNERUNG

1938

4. DER MAGISCHE LEIB
S. 170—258
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DER MAGISCHE LEIB

Erinnerung an Reisen in Nordafrika, den beiden Indien und Turkestan (1905—11)

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Was folgt, hätte anfangs heißen sollen: Der Barbar. Zuweilen schien mir nämlich, als hätte ich alle meine Reisen vor dem Kriege, die mich von Europa wegführten, um seinetwillen gemacht, damit ich ihm endlich begegne: dem wirklichen, dem echten Barbaren. Ich erinnere mich jetzt sehr wohl eines Satzes aus einem Brief an eine Freundin, den ich aus Tanger schrieb, da ich das erste Mal afrikanischen Boden betrat. Es war einige Wochen nach dem Besuch des deutschen Kaisers dort und dessen unglückseliger Rede. ‚Ich habe den Barbaren gesehen.‘ So lautete mein Satz. Es gab ihn damals noch, und zwar eben den echten und eigentlichen. Ich weiß nicht, ob es ihn heute noch gibt, nachdem er gelernt hat, in vielen Belangen die Angleichung an die Barbaren Europas, die falschen, uneigentlichen, zu vollziehen.
Wenn man von mir eine nähere Bestimmung des Barbaren verlangt — ich bringe ihn keinesfalls in einen Gegensatz zum zivilisierten Menschen. Es wäre auch falsch, wenn einer Barbarentum und Kultur einander gegenüberstellen wollte, wie es die Griechen getan haben aus ihrer Idee von Maß und Freiheit heraus. Der Barbar, den ich gesucht und noch gefunden habe, hatte oft mehr

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Kultur als vielfach der Zivilisierte beider Hemisphären. Doch das weiß man schon alles. Dem Barbaren gegenüber, wie ich ihn verstehe, ist mir beides fremd geblieben: der Hochmut und die Abwehr des Griechen ebenso wie die Verhimmelung des Romantikers in der Art Byrons oder Chateaubriands und vieler anderer. Mich hat nie darnach verlangt, sein Kostüm zu tragen, seine Gewohnheiten nachzumachen oder für eine gewisse Zeit anzunehmen, auf seiner Spur der Liebe zu folgen und seine Weisheit oder seine Art von Frommheit oder Gottgläubigkeit zu versuchen, wie es etwa der in meiner Jugend viel gelesene Pierre Loti getan hat, dessen Buch über Indien das schlechteste ist von denen, die ich kenne, wenn ich dabei absehen will von einem deutschen über denselben Gegenstand, das gleich nach dem Kriege in einigen hunderttausend Exemplaren auf den Markt geworfen wurde.
Der Barbar also war für mich der Mensch von anderer Art, mit einem anderen Lebensrhythmus, einem anderen Gefühl für Gegenwart, mit einer anderen Tiefe. Gewiß, aber es war da noch etwas vorhanden, was mich von ihm unterschied und das ich gleich fühlte, kaum daß ich seiner gewahr geworden war in den ersten Verkörperungen: ein anderes Ichbewußtsein und daraus dann resultierend das andere Selbstgefühl. Auf den ersten Blick lag der Unterschied zwischen mir und ihm darin, daß ich wohl auf ihn, er aber keineswegs auf mich neugierig war. Mehr noch als das: daß ich von vornherein, vom Ich her neugierig war, auf das Fremde eingestellt, dieses suchend und darum über die Grenzen des Gegebenen hinausdrängend, er hingegen völlig eines blieb mit seiner Welt, darin ich als Feind funktionierte, Feind seiner Welt. Und wenn er neugierig war, so war er es auf

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mich als seinen Feind, so war er es mit der Waffe in der Hand. Ich hatte damals sehr deutlich das Gefühl: er hat gar kein Ich, so wie ich es habe: als Vorwand, als Schwierigkeit, sondern statt dessen gleich Leidenschaft, Begehren, Lüge, Offenheit und was es sonst noch wäre. Und das müßte man ihm ansehen und anfühlen. Und darum bin ich gereist, um ihm das anzusehen und anzufühlen.
Was heißt das nun: das Ich als Vorwand, das Ich als Schwierigkeit? Das soll noch mit Hilfe von Beispielen erläutert werden. Erst viel später, nachdem ich nach dem großen Kriege alles Reisen aufgeben mußte, bin ich zur Konzeption des magischen Menschen ohne Ich (als Vorwand) gelangt, zur Konzeption des magischen Menschen mit dem Ich als purer Mitte, zur Idee vom magischen Leib (Leibseele, Seelenleib), der zerrissen oder zerteilt werden kann und trotzdem ganz bleibt und heil, und zwar genau darum, weil er nicht unser vorwändiges, schwieriges Ich, sondern statt dessen eben Mitte hat, den Rausch der Mitte, den Rausch als Mitte.
Diese Konzeption oder Idee bekam ich, wie gesagt, erst nach dem Kriege; des magischen Leibes aber war ich schon vorher ansichtig und gewahr geworden. Es war, kurz gesagt, der Leib, Leibseele oder Seelenleib, ohne Ich. Wenn wir ein Schwert oder Messer nehmen und es in diesen Leib stoßen, so stoßen wir damit, heißt das, auf kein Ich und können somit auch keines verletzen.
Ich sage jetzt nicht mehr darüber oder höchstens das noch, daß wir darum und nur darum statt eines Menschenleibes, den wir töten möchten mit einem Stoß oder Hieb, auch eine Puppe nehmen dürfen zu diesem Zwecke, denn auch die Puppe hat kein Ich. Kein schwieriges, kein vorwändiges.

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In Chairuan nicht weit von Tunis wohnte ich einer Sitzung, einer Kulthandlung der Aissauahs bei, einer mohammedanischen Sekte Nordafrikas, verwandt jener der Derwische. War es in einer Moschee? Nein, sondern in irgendeinem dazu bestimmten, sonst gänzlich unbeschriebenen Raum geschieht es, daß jeden Freitag am Nachmittag Männer sich versammeln, ältere, jüngere, dem Knabenalter kaum entwachsen, aus allen Ständen. Dort schließen sie um einen Alten herum, der auf einem Schemel sitzt, einen weißbärtigen Gottesmann, ganz dicht einen Kreis, mit Schultern, Armen und Hüften einander berührend, aneinander haftend, und bringen sich ebbend und flutend durch immer schneller werdendes Beugen zum Boden hin, vom Boden weg, zueinander hin, voneinander weg unter heiseren, sehr lauten, im Augenblick bis zum Schrei anwachsenden Atembewegungen, die im Rhythmus der Biegungen der Körper bleiben, in einen Zustand des Rausches, währenddessen von Zeit zu Zeit einer, der mit der Berauschung bis an den Rand gefüllt ist, ausbricht aus dem Kreis und mit den Augen, nein: nicht mit den Augen, da diese jetzt wie geblendet sind, sondern mit dem ganzen bebenden Körper fleht zum Alten in der Mitte hin, daß man ihm einen Skorpion oder Glasscherben oder die mit Stacheln durchsetzte birnenförmige Frucht einer Kaktee zum Kauen und Verschlucken reiche oder ihm den Arm oder eine der Wangen mit einem dolchartigen Schwert durchbohre, was dann einer von den paar Männern im Inneren des Kreises auch gleich tut. Sobald das geschehen und die Übung vollzogen ist, geht der trunken Leidende zum Gottesmann in der Mitte, der, ohne sich vom Schemel zu erheben, ihm ganz leise ein Wort aus dem Koran, ein

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heilendheiliges, ins Ohr haucht, worauf jener das Bewußtsein wiedererlangt und als ein Erwachter aus dem Kreis der Trunkenen heraus unter die Zuschauer tritt.
Ich sehe ihn noch vor mir, den zauberhaft schönen Jüngling, der Rasse nach Berber, von weißer Hautfarbe, der sich bei Beginn der Kulthandlung unter die Zuschauer mischte, darunter Europäer waren gleich mir, unser Erstaunen durch seine übermäßige Schönheit ebenso erregend, wie vor 2000 Jahren und mehr Charmides Staunen und Empfinden der Männer um Sokrates erregt hatte, da jeder von diesen, als der Jüngling sich zu ihnen gesellte, das Verlangen verriet, daß er sich neben ihn setze. Plötzlich aber war der junge Berber, ohne sich weiter um unser Staunen zu kümmern, aus den Zuschauenden verschwunden, im lärmenden Strom der Berauschten untertauchend, auftauchend, davon so lange gehalten, bis wir auch ihn im Innern des Kreises vor den Männern der Skorpione, Schwerter und Stachelfrüchte sahen, wie er mit seinem schönen Körper flehte, daß man ihm die Wange durchbohre... Am nächsten Morgen traf ich ihn vor dem Hotel an, wo er, ein Holzkistchen unter dem Arm mit Bürsten darin, schwarzen und gelben Pasten, auf die Fremden wartete, sollte einer von ihnen den Wunsch haben, daß ihm die Schuhe geputzt würden. Von der Wunde in der Wange war nur mit Mühe eine Spur zu finden, doch im Gesicht, um die Mundwinkel, im Auge lag ein Trauriges, das ich gestern nicht wahrgenommen hatte.
Abseits aber von den Zuschauern im Kultort kauerten in verdunkelter Nische hinter einem Holzgitter Frauen, auf dem Schoß Kinder, die sich mit ihren Händchen da und dort an das Gitter klammerten. Die Frauen waren unverschleiert, doch konnte man nicht mehr von

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ihnen wahrnehmen als hier und da ein dunkles, sehr leuchtendes Augenpaar, das gleich wieder, sobald es sich beobachtet sah, ins Dunkle der Nische zurückwich oder sich hinter einem nackten Kind verbarg. In bemessenen Intervallen aber ertönte immer wieder aus dem Dunkel ein zischender, züngelnder, tierhafter Laut, Schrei oder wie man das nennen will, was diese Frauen ausstießen, indem sie die Zunge im Munde heftig bewegten. Es drang mir bis ins Mark. Mit demselben Laut hörte ich in Susa Frauen, abseits vom Getriebe des Bahnhofes zu einem Haufen zusammengeschart, wiederum Kinder mit den braunen entblößten Armen festhaltend, zwei Pilger empfangen, die, aus Mekka kommend, dem Eisenbahnzug entstiegen. Es gibt keinen ähnlichen, ähnlich aufwühlenden Laut unter Menschen. Gehirn und Geschlecht sind darin eines, die Zunge ist kein Organ mehr der bloßen Rede oder des bloßen Geschmacks. Dieser Laut kommt aus keinem Ich.
Ebensowenig wie das leise Pfeifen der Kobra in der Paarungszeit aus einem Ich kommt. Mich hat in Madras einmal eine Russell-Viper mit einem so furchtbar stoßend-zischenden Laut angefahren, daß ich vor Herzklopfen keinen Schritt weiter machen konnte. Auch dieser Laut kam aus keinem Ich, sondern war ein Laut aus der Mitte, aus magischer Mitte.
Ich habe im Leben erfahren, daß alle Tiere, nicht nur Schlangen, sondern auch der Maulwurf, ein Sandkäfer, darum eine so große Kraft besitzen, weil sie unter allen Umständen aus der Mitte wirken und gar nicht anders können. Wir Menschen wirken nur unter den besonderen Umständen der Begnadung oder Befeuerung aus der Mitte. Man kann es auch so sagen: weil oder insoweit wir nicht gleich den Tieren aus der Mitte wirken, haben

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wir die Imagination, welche den Tieren, welche aber auch den Aissauahs, dem magischen Leib, dem magisch Menschen, fehlt. Darum ist dieser ganz stark oder ganz schwach, aber niemals so gleich uns mit unserem vorwändigen, schwierigen Ich stark und schwach zugleich.

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Ich suche mir das, was ich die Schwierigkeit des Ichs oder das Ich als bloße Schwierigkeit nenne, an Beispielen klarzumachen: Jener japanische Soldat gleich, der sich mit vielen Hunderten von Kameraden darum bewirbt, zusammen mit einem von ihm zu lenkenden Torpedogeschoß, daran er angeschlossen oder daran er gebunden wird, zu explodieren und in tausend Stücke zerrissen zu werden, hat kein schwieriges Ich oder keine Schwierigkeiten damit. Ich möchte sagen, daß er daran, am Ich, weder hängen noch darin stecken bleibt. Er lebt so, wie er ist, in der Mitte zwischen der magischen Welt der Wiedergeburten oder Vergeltungen und jener Termitenwelt, darin den Kriegern die Rüstung und Waffe an den Leib angewachsen ist, gleichwie uns Arm und Bein angewachsen sind. Darin lebt er, und mitten durch beide Welten geht er, geht sein Leib hindurch und explodiert am Ziel. Wenn er unser Ich mit allen Schwierigkeiten und den daraus resultierenden Vorstellungen und Ideen von Individualität, Freiheit, wenn er unsere Imagination hätte, würden sich vor dem Explodieren am Ziel allerlei Hindernisse ergeben müssen, und das Explodieren möchte nicht so leicht, so spielend, so spontan vor sich gehen.
Die Vorstellungen der alten Perser nach Cyrus vom Menschenleib waren magisch. Herodot ist eine Fundgrube für Beispiele solcher Art. Bei stürmischer See, da das Schiff mit Xerxes unterzugehen drohte, gibt der

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Kapitän den Rat, daß man so und so viele Menschen ins Meer werfe, damit auf diese Weise das Schiff leichter werde. Das geschieht, und der König wird gerettet. Zum Dank für seine Rettung hängt Xerxes dem Kapitän eine goldene Kette um den Hals; weil aber bei der Fahrt dafür so viele Menschen ihr Leben lassen mußten, läßt er ihm den Kopf abhauen. Über der Kette, wie wir annehmen wollen. Der Kapitän war offenbar ein Mann ohne Ich, magischen Leibes. Es gab überhaupt in dieser Welt nur ein einziges Ich, und das hatte der König, das war der König.
Eine andere Geschichte Herodots handelt von einem Großen des Königs, der sich für alles, was er bisher für Xerxes und dessen Heer und Ausrüstung zum Zuge gegen die Griechen geleistet, die Gunst ausbittet, daß einer von seinen fünf Söhnen nicht mit in den Krieg ziehe. Worauf Xerxes erzürnt diesen einen Sohn töten und den Leib der Länge nach in zwei Teile hacken läßt. Und mitten durch diese beiden Teile am Wege links und rechts, die so zerteilt sind vom Kopf herab bis zur Scham gleich dem Leib eines Ochsen oder Schafes im Laden des Fleischers, werden die Heere gegen die Griechen ziehen, und im Heere werden sich die vier Brüder des Zerhackten und der Vater befinden. Was hier nicht vorhanden ist, das ist die griechische Idee von Maß und damit in Verbindung von Freiheit. In der Idee vom Maß des Menschen allein liegt die Idee von dessen Unteilbarkeit.
Gleich zu Beginn meiner Reise in Indien bin ich im November 1908 einer Einladung des Maharadschas von Kapurthala zu dessen Geburtstagsfeierlichkeiten gefolgt. Wir hatten uns auf dem Schiff getroffen. Bevor ich aber auch hier in Kapurthala in Nordindien auf den eigentlichen Gegenstand meiner Erinnerung und Betrachtung,

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den magischen Leib betreffend, eingehe, will ich schnell alles dessen dankbar gedenken, was uns Engländern, Franzosen, Österreichern in den wenigen Festtagen damals geboten wurde. Am Abend vor dem Geburtstag großes Staatsdiner. Wir ausländischen Gäste saßen zusammen mit dem englischen Residenten, dem Kriegsminister, Innenminister, dem Adjutanten an der Tafel des Fürsten und dessen europäischer Frau, einer gewesenen Tänzerin aus Malaga von großer Schönheit. Rechts von unserer Tafel durch eine Glaswand getrennt aßen die Hindunotabeln, links gleichfalls durch eine Glaswand geschieden in einer Art von Veranda die mohammedanischen Männer von Amt, Würde und Vermögen. Diese bekamen Schöpsenfleisch, Kuhfleisch, jedes Fleisch, die Hindu höchstens Hühnerfleisch. Uns aber war das Essen von einem französischen Koch zubereitet. Der Adjutant des Fürsten, Patriot, Bengale, der Brahmanenkaste angehörend, Feind der Engländer, aß vom Roastbeef gleich uns, und ich hütete mich sehr davor, eine Bemerkung in dieser Richtung fallen zu lassen, denn er war gleich beleidigt und wollte genau so sein wie wir, wie wir Männer aus London, Paris und Wien, er wollte als Inder nicht einmal die indische Sonne richtig vertragen, wie sie ein Bengale eben verträgt, trug einen Tropenhelm und sprach dazu Cockney-Englisch.
Am Tage darauf sahen wir von oben aus Logen dem Durbar zu: der Maharadscha sitzt auf dem Thron, und seine steuerpflichtigen Untertanen bringen, vom Herold dazu aufgefordert, dessen melodischer Ruf durch die Säle tönt, von fern an das Rufen der Muezzins von der Moschee herab erinnernd, doch anderen Ursprungs, jeder auf einem weißen Tuch, einer Art Serviette, in goldener Münze den Zehent, welchen der Maharadscha mit

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sehr lässiger Gebärde der Hand einstreicht und in einen neben dem Thron liegenden Sack aus grobem Leinen fallen läßt. Hinter Schleiern verborgen, sahen die drei Hindufrauen des Maharadschas, uns gegenüber sitzend, der Zeremonie zu. Wir wurden gebeten, nicht neugierig zu sein und etwa mit unseren Gläsern durch die Gaze der Schleier hindurchzudringen zu suchen. Nach dem Diner, um das noch schnell nachzuholen, hatte es Nautschmädchen gegeben, die tanzten und sangen, darunter eine berühmte Primadonna aus Agra, der, während sie sang, Betel in braunem Strom über die schlechten Zähne aus dem Mund floß. Mir fiel auf, wie sich die Mädchen, sobald ein Tanz oder Lied beendet war, sofort auf dem Boden hinkauerten, mit ihren kostbaren Gewändern von allen Farben, den mit Juwelen übersäten Hälsen und Köpfchen den herrlichsten aller Teppiche bildend. Eine Hindufrau darf nicht stehen, herumstehen, stehend anordnen. Das erste, was sie beim Betreten des Abteils im Eisenbahnzug tut, ist: sich setzen, sich hinkauern. Dann erst kommen der Mann, die Diener, Dienerinnen, bringen Koffer, Körbe, Schachteln und ordnen alles um sie herum, während sie sitzt und vor lauter Dasitzen kaum den Mund aufzutun oder zu denken wagt.
Was gab es noch in Kapurthala? Eine Parade der zwei Sikhregimenter, welche die englische Regierung dem Maharadscha erlaubt. Ein pig-sticking. Auch wurde abends eine Ziege draußen im Dschungel angebunden für den Panther oder Leoparden, den einer der Gäste erlegen sollte. Und endlich gab es auch ein großes Mißverständnis meinerseits, das verzeihliche Mißverständnis des Europäers, und zwar kurz vor meiner Abfahrt am sehr frühen Morgen noch vor Sonnenaufgang. Der Wagen, ein halbgedeckter französischer Herkunft, stand vor meinem

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Zelt bereit, darin ich die drei Tage und Nächte über zu wohnen hatte, da das Gästehaus im Park voll war; zwei indische Grooms in Turbanen, die hinter dem Fond des Wagens während der Fahrt zu stehen hatten, hielten die Pferde vorn am Zaumzeug. Da ich aus dem Zelt trete, redet ein Dutzend Bedienter auf meinen Diener Ali heftig ein, der, hin und her gerissen zwischen Einsicht und Abwehr, meinen Sonnenheim in der Hand hält, er trug seinem Rang entsprechend nie mehr, nie einen Koffer — abseits davon steht der Sweeper, der Feger, mit dem Besen in der Hand, der Paria. Was ist also geschehen? Ali tritt, während die Blicke der anderen ihm aufmerksam, ja gespannt folgen, auf mich zu und sagt mit Ehrerbietung, aber doch auch mit Entschiedenheit: ich hätte dem Sweeper mehr Trinkgeld gegeben als dem Brahmanen oder Mann aus der Brahmanenkaste, der mir am Morgen den sogenannten ‚frühen Tee‘ ans Bett gebracht, und das ginge nicht an und sei ganz ungehörig un vielleicht in Kapurthala noch nie vorgekommen. In der Tat hatte ich europäisch gefühlt und gedacht, mein ‚Mitleid‘ falsch placiert und irgendwie auf eigene Faust Vergeltung im Allerkleinsten und ganz Persönlichen üben wollen, was wohl in Europa anginge, hier aber zunächst einmal taktlos war, sinnlos und unvernünftig. Dieses Mißverständnis mußte also erst behoben werden, bevor mich mein Wagen mit den beiden Hindugrooms hintem mir durch die herrlichste Teich- und Seelandschaft führte Die Luft roch nach verbranntem Holz, Hunderte, Tausende von Wasservögeln aller Art, Reiher, Flamingos, Kormorane, Wildenten, Bläßhühner, Taucher, flogen auf, segelten in der Luft, schwammen, tauchten, schrieen, kreischten oder waren ganz stumm, da die Sonne einen roten Tiger gleich hinter dem Schilf aufsprang.

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Doch das, worauf ich von Anfang an kommen wollte, war das alles nicht, sondern war die Feier im Sikhtempel am Morgen des Geburtstags. Der Maharadscha wird da im Festgewand aus dunkelblauem, über und über vergoldetem Sammet mit einem edelsteinbesetzten Dolch im Gürtel auf die eine Schale einer mächtigen Waage gestellt, die offenbar zu den Tempelutensilien gehört; auf die andere kommen dann ein lebendes Zebukalb, zwei oder drei Säcke mit Mehl und Reis, ein großes Gefäß mit Butter (ghi), worauf die Brahmanen überall in Indien heute noch so gierig sind wie vor 4000 Jahren zur Zeit der Veden, und ein wenn auch kleines, so doch gewichtiges Säckchen mit Goldpfunden. Das wird nun gegeneinander ausgewogen; den Priestern, die den Maharadscha umstehen, bleibt die Austarierung der Waage überlassen, indem sie sich nicht ohne einen gewissen Humor an die Stricke der Waagschale hängen, auf der das Geburtstagskind steht. Danach erst tritt der Maharadscha vor den Altar, wo ihm vom Oberpriester aus einem mächtigen Folianten, mit Sonnen, Monden, Konstellationen, Tierkreisfiguren, Drei-, Fünf- und sonst welchen Vielecken, Buchstaben und Ziffern darin, das Horoskop für das kommende Lebensjahr gestellt wird.
Es ist nun evident, daß eines bei dieser Prozedur nicht mitgewogen werden kann: das Ich samt seinen gegebenen und möglichen Schwierigkeiten. So ein Menschenleib gegen den Besitz, gegen Dinge des Besitzes gewogen — das ist sicherlich die einfachste, augenfälligste Form des magischen Leibes. Nur innerhalb der magischen Raumwelt (ohne Ich) können Dinge auf solche Weise gegeneinander Geltung gewinnen, Gewicht haben und auch als Dinge bestehen.
Diese Lehre empfing ich damals sehr eindringlich im

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Sikhtempel von Kapurthala. Es liegt darin auch heute noch für mich der letzte Sinn, die Uridee des Besitzes. Welche zudem auch gar nicht die Tatsache leugnet oder zu leugnen vermöchte, daß am Besitz stets Gewalt, Übermacht, Gewalttätigkeit, ja Grausamkeit hängt. Wo Dinge sind und als solche existieren, aufeinander stoßen, dort ist auch Scheidung, Trennung und Schwertstreich.

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,Ich habe den Barbaren gesehen‘ — als ich das so niederschrieb im Brief, frohlockend darob, da hatte ich im Sinn und noch vor Augen Berber, lange aschblonde, die weiße Haut gebräunt, ohne Kopfbedeckung, oft barfuß, in einer Bekleidung, die sich von den Lumpen des Bettlers kaum unterschied, wie sie aus ihren Höhlen und Hütten in den Bergen rings um Tanger nach der Stadt kamen, durch die Menschenhaufen am Markt, auf den Straßen hindurchstießen nach irgendeinem Ziel. Jeder trug eine Flinte, einen sehr langen Vorderlader, geladen, nicht geladen, oft war sie wohl nicht geladen, weil das Geld für die Patrone fehlte; aber diese Flinte war ein Teil ihres Wesens und gehörte zu ihnen wie Arm und Bein zum Körper und das Auge zum Gesicht. Einer davon ist mir ganz gegenwärtig heute noch. Wohin ich kam in den acht Tagen oder auf meinem Esel ritt, bin ich ihm begegnet: immer im gleichen schnellen, entschlossenen Schritt irgendwohin eilend, die Flinte geschultert, nicht ohne eine gewisse wundervolle Sinnlosigkeit. Abends im maurischen Café mit mindestens zwei Dutzend Uhren an den Wänden, von denen jede zu einer anderen Zeit schlägt, liegt er ausgestreckt da und hört den Uhren zu, hört den Liedern zu, die vom Verlust von Granada, von der Wiedereroberung Spaniens singen,

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hört nicht zu. Die Flinte liegt neben ihm. Es ist so, wie wenn er in zwei Teile geteilt daläge: in sich und in die Flinte. So hört er zu und hört auch nicht zu. Da er sich vom Boden erhebt und nach der Flinte greift, trifft sein Blick mich für den Bruchteil einer Sekunde, blitzend. Warum erst jetzt und warum mich? Es war merkwürdig. So wie wir beide sind oder waren: jeder in seiner Welt oder seine Welt in sich tragend, sah ich ihn, sah er mich nicht. Darum hatte er die Flinte, und darum war oder bin ich stets unbewaffnet im Leben. Darum gehört zu ihm, gehört in seine Welt der Feind draußen, der lauernde, der Dieb, der Räuber hinter dem Felsen versteckt, hinter einem Busch auf dem Heimweg.
Der Seher ist ohne Waffe, und es gehört zu ihm, daß er ohne Waffe ist und ohne den Feind draußen, der ihm auflauert. Darum sieht er Geist und Seele, Seele und Körper als eines. Wenn das auseinandergehen und sich ein Spalt bilden sollte zwischen Geist und Seele, Körper und Seele, so müßte es soviel bedeuten wie, daß er Unrecht hätte und litte, beides, oder daß ein Unrechtes da wäre, dessentwegen die anderen Menschen Waffen trügen und nicht ablegten.
Ich gedenke heute nach dreiunddreißig Jahren dieses Barbaren, den ich nicht ließ und der mich nicht ließ, mit großer Dankbarkeit, weil sein bloßer Anblick schon mir eine entscheidende Lehre zu vermitteln vermocht hat. Es gibt kein größeres Glück als das Glück des Geistes, das ich im Zusammensehen des Vielfachen und um seiner Vielfachheit willen Gespaltenen: Geist, Seele, Körper, erblicke. Dieses Glück allein enthält den Frieden, den Samen des Friedens, und zwingt uns, die Waffen im Tempel zu verschließen oder zu zerstören.
Die Verbrecher, Räuber, Diebe wurden in Tanger, wohl

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überall in Marokko damals hinter Eisengittern in einer Art von Käfigen, in Höhlen oder Löchern gehalten. Jedermann, auch ein Fremder wie ich, hatte auf solche Weise Zutritt zu den Gefängnissen, indem er sich einfach vor die Gitter hinstellte. Der Staat sorgt nicht für die Ernährung der Gefangenen, sondern diese waren gänzlich auf die Opferwilligkeit der Verwandten oder überhaupt der Einwohner der Stadt angewiesen, die ihnen Stücke Brot, Wasser oder was immer sonst brachten. Sollten die Menschen einmal der Gefangenen vergessen, so mußten diese verhungern und verdursten. Welche Blicke, welche Klage aus Blicken trafen da nicht den, der vorbeiging oder stehen blieb vor den Gittern! Die Klage kam nicht aus der Seele, sondern aus den Eingeweiden der Seele, die wie aufgerissen und bloßgelegt im Blick lagen. Von Revolte war auch nicht die geringste Spur vorhanden, denn wo Revolte ist, dort sind auch Vorstellungen, Begriffe, Ideen. Und die waren alle nicht vorhanden, darum sage ich auch, daß die Angst aus den Eingeweiden der Seele kam, den aufgerissenen und bloßgelegten.
Eines aber läßt sich dennoch mit aller Bestimmtheit behaupten, daß auf dem Wege, welchen die Blicke der Angst nahmen hin zum Auge und zur Seele dessen, der geben sollte jetzt in dieser Stunde, Allah zu finden war und ist, Allah, der Allmächtige und der Mildtätige, und daß ferner, wenn Allah nicht da wäre: in der Mitte des Weges, Mitte bildend, auch der Weg nicht wäre, dieser nicht und auch ein anderer nicht. Warum geben denn die, so vorbeigehen und vor den Gittern halten? Aus Spontaneität, aus der Freiheit heraus des Guten? Was soll das Gerede davon! Sie geben, weil sie den Räuber fürchten, weil so, wie sie beschaffen sind, auch die Räuber sind, die irgendwo und überall lauern. Und so muß Allah zwischen

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beiden Frieden stiften und die Mitte bilden. Wenn es Allah nicht gäbe, so würde es nicht nur keinen Weg geben von der Bitte zur Erfüllung, sondern es würde dann auch keinen Unterschied mehr geben zwischen dem Räuber und dem Beraubten, oder der Beraubte müßte zum Räuber werden und so fort im ewigen Wechsel. Damit das nicht geschehe, darum ist Allah und ist Allahs Dasein Gesetz und Mitte der Welt. Und ist in seiner Allmacht auch die Mildtätigkeit eingeschlossen. Was nur die Frommen verstehen und bisweilen wohl auch die Weisen.

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Herodot erzählt die Griechen hätten de Siege über die Perser ihrer besseren Bewaffnung zu verdanken gehabt. Diese wäre zweckmäßiger gewesen, wie wir uns heute ausdrücken, und hätte das am Körper zu schützen gewußt, was zu schützen war, ohne ihn darum in seiner Beweglichkeit zu hindern. Herodot bringt, wenn ich mich recht erinnere, den Gedanken der Zweckmäßigkeit und Wissenschaft mit der Idee des Maßes zusammen und weiter mit jener der Freiheit, so wie die Griechen die Freiheit verstanden haben: vom Maß her. Die Perser ließen nach allem vieles am Körper ungeschützt und bloß, so daß die Griechen dank ihrem technisch um so viel mehr entwickelten Verstand mit ihnen leichtes Spiel hatten.
Die letzte Ursache für dieses Ungeschütztsein oder die Idee davon ist aber genau die, welche ich schon vorhin angeführt habe: der magische Leib, das magische Fleisch, die Vorstellung davon, de magische Vorstellung vom Menschen und von der Welt überhaupt, welche so, wie sie ist, jene andere griechische von der Zweckmäßigkeit und vom Maß ausschließt, ja ihr gewissermaßen entgegengesetzt ist.

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Der ganze Orient, der nahe und der ferne, hat sich die Idee der Zweckmäßigkeit nie zu eigen zu machen verstanden und an deren Stelle seit je eben die Magie besessen, womit wir zugleich auch den weitesten Begriff für letztere gewinnen. Daß die Flinte zu den Berbern in den Straßen von Tanger gehört wie das Auge zum Gesicht, hat nichts mit Zweckmäßigkeit zu tun. Ebensowenig wie der Mensch aus Zweckmäßigkeit oder um der Zweckmäßigkeit willen geschaffen ist. Wenn wir dem Barbaren die Waffen und den Schutz durch dieselben nehmen, so ist dieser unbewaffnete, unbeschützte, hilflose Leib dann nicht nackt, wie der Grieche nackt war: aus der Idee, aus der großen, das ganze griechische Wesen erfassenden Idee des Agonalen, des Wetteifers heraus, in welche sich jetzt die Idee der Zweckmäßigkeit verwandelt hat. Nein, das ist der Barbar nie, er kennt die Idee der Nacktheit nicht, vielmehr er hat diese als Idee nicht; die Idee seiner Nacktheit ist Magie, ist Verzauberung. Genau so ist es. Und dementsprechend besitzt er auch nicht die Idee des Wetteifers, statt dessen aber die des Gauklers, des Zauberers, des Mannes der Tricks, welche sich zur Magie genau so verhält wie das Spiel, der Wettkampf zur Zweckmäßigkeit.
Ich glaube nicht, daß man den Unterschied zwischen Europa und Asien, zwischen Griechentum und Barbarentum auf eine kürzere Formel bringen könnte. Zuletzt birgt sie in sich die verschiedenen Konzeptionen, die Europa und Asien von der Individualität an sich haben.
Aus diesem Gesichtspunkt heraus habe ich erst den Gaukler, den trickman, wie er in Indien von meinem Diener Ali genannt wurde, die Schlangenbändiger einzusehen vermocht. Sie kamen mir immer nackt vor,

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auch wenn sie es nicht waren. Marokko hatte, scheint es, schon zur Zeit der Römer die berühmtesten Schlangenbändiger; ich habe gefunden, daß sie sowohl den ägyptischen als auch den indischen überlegen waren. Ich erinnere mich sehr deutlich jenes auf dem Großen Socco, dem Marktplatz von Tanger, der sich von einer schwarzen Mamba, die zu den gefährlichsten und wildesten Schlangen in Afrika gehört, in den Arm und in die Zunge beißen ließ. Sie lag in einem Sack zu seinen Füßen, und er griff in ihn hinein, wie einer in einen Sack mit Nüssen oder Äpfeln hineingreift. Ich habe die Prozedur, den eigentlichen Zauber schon einmal — in dem Buch Verwandlung — beschrieben: nachdem er sich einigemal von dem wütenden Tier hat beißen lassen, hält er ein wenig Stroh vor den Mund und bläst so lange hinein, bis dieses Feuer fängt. Die zugrunde liegende Idee ist offenbar: Verwandlung des Giftes in Feuer, in Sonne, Umkehr des Todes in Leben. Bevor er Geld sammeln geht, zeigt er den Zuschauern den Giftsack des Schlangenzahnes, indem er mit einer Stecknadel das Zahnfleisch ein wenig wegschiebt.
Menschen, die hinter alles kommen wollen, werden jetzt ausrufen: Schwindel, der Giftsack ist leer, er hat vorher die Mamba so lange in ein Tuch beißen lassen, bis das Gift draußen war. Was die Schlangenbändiger in Indien in den meisten Fällen allerdings tun. Tatsache ist aber folgendes: daß Jahre, nachdem ich dort auf dem Großen Socco unter den Zuschauern gestanden hatte, ein Engländer, der — sagen wir abergläubisch: statt meiner — an derselben Stelle stand, vielleicht ein wenig näher, von der Schlange, Mamba oder Kobra, gebissen wurde und nach ganz kurzer Zeit starb. Es ist anzunehmen, daß der Biß ihn im Hals, in der Nähe der großen Schlagader traf,

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was den Tod in der kürzesten Zeit herbeiführen müßte. Ich führe das nur wegen des vermeinten Schwindels an. Ich gehöre meinem Naturell nach zu den ,Gläubigen‘, da ich es im allgemeinen schwerer finden möchte, zu schwindeln als nicht zu schwindeln. Im übrigen sah ich sehr genau, wie mein Schlangenbändiger damals ein zartes grünes Kraut schnell und unbemerkt schluckte, bevor er sich beißen ließ.
Ich denke heute diesen Schlangenbändiger, der dunkel war wie der lange Körper der Mamba, zusammen mit den aschblonden Berbern aus den Bergen, wie sie mit ihren Flinten einzeln durch die Straßen der Stadt wild schritten. Das Denkwürdige am Gesicht des ersteren war, wie es die Bewegungen der Schlange, deren wütendes Vorstoßen in seinen Zügen aufgenommen, aufgefangen hatte und somit zum Spiegel des Tieres geworden war, wie der Mensch sich in die Schlange verwandeln, wie er schlangenhaft werden mußte. Darin bestand seine Nacktheit: das Nackte des sich Verwandelnden. Er war nackt, wie ein Tier und nicht wie ein Mensch nackt ist.
Beide, das aufgerissene Gesicht des Gauklers und das ganz verschlossene des Mannes mit der Flinte, waren Gesichter von Fanatikern, wie man das so nennt, zu schnell nennt, und zwar darum zu schnell, weil man keine sehr genaue Vorstellung damit verbindet. Ich möchte hier meinen aus der Anschauung gewonnenen Begriff davon hersetzen: der Fanatiker, auch der Fatalist — beide Begriffe decken sich nicht, schneiden sich aber —, kennt das eine nicht: das tat wam asi, das: Das bist du der Buddhisten oder jenes tua res agitur des Römers. Warum? Weil er keine Einbildungskraft, keine wahre, hat. Darum muß sich der Gaukler von der Mamba in die Zunge beißen lassen oder, wie ich mich

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oben ausgedrückt habe, sich in die Schlange verwandeln, oder darum schlucken die Aissauahs Skorpione, Glassplitter und lassen sich die Wange durchbohren mit der Spitze eines Schwertes, und darum gehört zum Berber die Waffe dazu wie das Auge zum Gesicht, darum setzt er sich gleichsam in der Waffe fort und sieht mit ihr. Die meisten Menschen, denen der tiefe Begriff der Einbildungskraft fehlt, werden das Gegenteil für wahr halten und meinen, der magische Mensch, der Fatalist, der Fanatiker hätten mehr Einbildungskraft als wir oder als die Griechen, die sich so schnell aller Dinge zu entkleiden wußten: um des Maßes willen. Die Wahrheit ist, daß jener, der magische Mensch, der Fatalist, der Derwisch, eben die Magie und den Fatalismus hat an Stelle der Einbildungskraft.
Beim Anblick des Kampfes zwischen einer Kobra und einem Mungo, den ich im Hotelgarten in Ahmedabad für fünf Rupien inszenieren ließ, ist mir aufgefallen, wie der Körper des kleinen, unglaublich behenden Raubtieres, dessen Fell so feucht glänzt, als ob es aus allerdünnsten Schüppchen bestünde, und das keineswegs gegen das Gift der Schlange immun ist, wie manche meinen, und den Sieg nur seiner Geschicklichkeit und Flinkheit verdankt, dem der Schlange immer ähnlicher wird für den, der hinsieht, wie er sich zu biegen, ja zu schlängeln weiß wie die Kobra selber. So muß, sage ich, auf höherer Ebene der Schlangenbändiger zur Schlange werden. Darum ist er nackt, nackt von der Nacktheit alles sich Verwandelnden, nackt wie das Tier und nicht nackt, wie der Mensch nackt ist, der Mensch als Maß der Dinge genommen. Dieses Nackte des Maßes kennt der Orient nicht, die Nacktheit des Griechen ist ihm Wesentlich fremd. Was hat er statt dessen? Eben die Ein-

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heit als Ausdruck und Ziel der Magie. Europa hat um des Maßes willen die Trennung von Subjekt und Objekt, von Mensch und Ding zu betreiben, Asien, Afrika verlangen die Einigung beider. Der Ausdruck, der letzte, endgültige, von dieser aber ist die Magie.
Alle Kunst nun in dem Bereiche des Magischen ist auf den Tanz zurückzuführen. Sagen wir es so: Die Einheit, die endlich-unendliche Einigung von Mensch und Schlange kann ideell nur im Tanz dargestellt werden. Oder in der Skulptur der indischen Tempel, soweit Skulptur erstarrter Tanz bedeutet. Und insoweit sie aus dem Tanz kommt oder der Tanz vor der Skulptur da war, ist alle Kunst magischen Ursprungs. Das war eine von den Lehren, die ich im Anblick der südindischen Tempel von Madura, Tanjor und anderer empfing. Im Tanz, kann man auch sagen, finden wir den Übergang, die Brücke aus der Welt des Kultes und des magischen Leibes in jene der Idee und des Dramas, in jene des Maßes.

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Bevor ich in Tanger landete und das erste Mal in meinem Leben Europa den Rücken zukehrte, bin ich durch Wochen in Spanien gereist und habe vielen Stiergefechten beigewohnt. Am Auferstehungsonntag in Sevilla, vor allem aber in Madrid. Ich gestehe offen ein, daß ich damals vor mehr als einem Menschenalter den Donnerstag und Sonntag, an welchen Tagen, zumal in Madrid, die Stiergefechte stattfanden, jedesmal nur mit der größten Ungeduld erwarten konnte, daß mein Körper, meine Nerven danach wie nach einem Gift fieberten, daß aber die Erregung schon in der Pferdebahn, darin ich, von der Plaza de toros bis zur Plaza del Sol fahrend, Platz fand, einem schwermütigen Unbe-

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hagen — der Zustand ist nicht genau zu fassen gewesen — zu weichen begann. Was mich freilich nicht gehindert hat, drei Tage darauf mir wiederum am Morgen schon einen Sitz ,im Schatten‘ für die Corrida zu sichern.
Trotz allem Fieber und aller darauffolgenden Schwermut fand ich sehr bald eines heraus, daß entweder die Stiere zu gut für den Toreador und die ganze Mannschaft der Picadores und Banderilleros oder umgekehrt die Stiere zu unwillig und träge waren, als daß sie vermocht hätten, alles aus dem Toreador und der Begleitmannschaft herauszuholen, was in diesen gesteckt haben mochte. Daran hat auch eine Corrida real in Aranjuez, welcher der König beiwohnte und darin es nur Stars gab, nichts ändern können. Ganz befriedigt war ich vielleicht nur einmal, als der damals berühmteste, an den Schläfen schon ergrauende Toreador Fuentes eine Stufe in der Rangordnung herunterstieg und den Banderillero abgab. Es war ganz wunderbar anzusehen und höchst erregend, wie er sich vom Stier angreifen ließ und ihn dann einfach damit zum Stehen brachte, daß er ihm ruhig, bedacht und ohne auszuweichen die zwei Banderillos, statt ihn damit zu spicken, zwischen die Hörner legte. Ich erinnere mich noch sehr wohl, wie ich mir nach der Corrida auf dem Heimweg sagte: das Vollkommene und ganz Richtige im Leben und auf Erden wäre vielleicht mit Sicherheit nur zu erreichen, wenn man es vermöchte, alles um eine Klasse, einen Rang herabzusetzen, herabzuschrauben, jeden General zum Oberst, jeden Toreador zum Banderillero zu machen und so weiter, wenn man mit einem Wort die Spitzen abschlüge, wie Alkibiades in der Nacht vor dem Auslauf der Flotte die Hermesköpfe abgeschlagen haben soll nach der Meinung der Athener.

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Mit dem einen Versuch, diese von Grund aus zynische Weltanschauung auszuspinnen, hatte ich zugleich den anderen unternommen, so gut es ging, das an Melancholie grenzende Unbehagen zu überwinden oder zum mindesten niederzuhalten. Ich erinnere mich aber nicht, wie weit ich damals schon im Ausspinnen und Zu-Ende-Denken meiner Idee gekommen war. War ich schon so weit, mir sagen zu können, daß nur in einer Welt der Zu- und Glücksfälle, in einer Welt des Spiels die Spitze oben zuletzt fehlen dürfte, und daß Spitze, Idee, Maß und die Gesichte der Seher, daß alles das nur Ausdruck sei für die große Unausweichlichkeit, das Schicksalmäßige, dem wir alle unterliegen?
Aber noch etwas viel Entscheidenderes sollte ich mir als Lehre aus den Stiergefechten holen. Ich weiß nämlich eines sehr genau: das Drama zwischen Mensch und Stier, das wollte ich haben, das wollte ich erlebt haben. In diesem Sinne muß ich mich in den Briefen geäußert haben, die ich von dort an Hermann von Keyserling geschrieben habe, und auch später, als ich heimgekehrt war, in Gesprächen mit Freunden, soweit solche von Fragen nach dem Wesen des Dramatischen beunruhigt waren, wie etwa Hugo von Hofmannsthal, den ich in diesen Jahren viel sah. Damit, daß es ein Drama sein sollte, ein Trauerspiel, in dessen letztem Akt der Toreador mit seinem hinter einem dunkelroten Tuch versteckten Degen vor den Stier tritt, der vor Erregung und Erschöpfung schwer atmet, wollte ich mir das Ganze humanisieren, da das Drama im letzten nur eine Auswirkung des Humanen sein kann und soll. Und doch fühlte ich hinter allen Wünschen das eine, daß es eben kein Drama sei, was da zwischen Mensch und Stier geschieht, daß zum Drama etwas gehöre, was hier un-

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bedingt fehlt: Gleichgewicht, Gleichmaß, die Einigung zwischen den Partnern, eine Einigung im höheren Sinne. Eine solche war nun nicht da, und je mehr ich nach ihr suchte und sie verlangte, um so weniger war sie da. Das fühlte ich damals, aber über dieses Gefühl kam ich nicht hinaus.
Heute weiß ich, daß es ein Drama weder war oder ist noch sein konnte oder kann. Was aber ist es? Der Rest eines kultischen Aktes, den Kampf zwischen Mensch und Dämon darstellend, was in dem meinem Gefühle nach Labilen, in dem, um die Sprache des Sports zu sprechen: Unfairen der Handlung zwischen Mensch und Stier zum Ausdruck kommt. Wir finden dasselbe Labile auf Bildern des Quattrocento, den Kampf zwischen dem heiligen Georg und dem Drachen darstellend. Ich denke im besonderen an ein kleines Bild aus der Sammlung des Grafen Lanckoroński, welches früher dem Paolo Uccello zugeschrieben wurde. Das ein wenig Affektierte, Zierlich-Zierhafte, Spielerische zwischen dem Ritter und dem Drachen ist nur der Spiegel des Labilen, des Ungleichen im Kampfe. Was kann der Mensch gegen das Ungeheuer, und was dieses wiederum gegen die göttliche Sendung?
Alles Drama kommt aus dem kultischen Akt, aus der kultischen Opferung; im Stiergefecht freilich, wie es heute verläuft, ist dieser ursprüngliche Akt abgeleitet worden in ein grausames, nerven- und blutaufpeitschendes Schaustück für die Menge, darin der Einzelne als solcher, das heißt hier: als maßgebender, wertbestimmender Faktor fehlt oder, soweit er da ist, aus dem Gegensatz von Erregung und Unbehagen nicht zu seiner Bestimmung zu gelangen vermag.
Ich finde keinen geeigneteren Ort als diesen, um folgendes hinsichtlich des Dramas zu sagen: Zum Drama ge-

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hört beides, der Einzelne und die Menge. Das heißt auch, daß das Gleichgewicht und die Spannung innerhalb des Dramas genau jener zwischen dem Einzelnen und der Menge entspricht oder dahin übertragen werden könnte. Weshalb letztere für sich genommen immer im Grunde dramatisch ist. Aristoteles redet von der Spannung zwischen Mitleid und Furcht im Zuschauer, von der Mischung beider; nun bin ich überzeugt, daß diese Spannung und Mischung von Mitleid und Furcht im Zuschauer auf jene — sagen wir: ältere, ursprünglichere zwischen dem Einzelnen und der Menge zurückgeführt werden muß.
Noch das: im kultischen Akt als solchen ist keine Grenze gezogen zwischen Mensch und Dämon, Mensch und Gott, Mensch und Tier. Daher dann, noch einmal, die kolossale Labilität, das Abschlachten am Schluß, ferner auch die Zerstückelung des Stierfleisches, welches an die Armen um wenig Geld am Ort selbst verkauft wird. Viele darunter, bin ich überzeugt, werden es so essen, wie Wilde das Fleisch des getöteten Feindes essen, ob Mensch oder Tier: um dessen Kraft sich anzueignen.
Im Drama aber und mit demselben ist die Grenze gezogen zwischen Mensch und Tier, Mensch und Dämon, Mensch und Gott. Und damit setzt dann das Maß, setzt die Idee des Maßes, die Idee überhaupt ein. Zuerst aber war, darf nicht übersehen werden, das Drama da und vor dem Drama die magische Opferung, der Blutrausch und manches andere solcher Art.
Im Zusammenhang damit möchte ich noch etwas sagen, was ich damals in der Jugend gewiß mehr zu fühlen vermochte, als daß ich es wirklich gewußt hätte. Die ganze spanische Kunst, gewiß auch der spanische Mensch haben auf eine gewisse Weise, sagen wir es so:

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im Vergleich mit dem Franzosen vor dem Maß, vor der Idee Halt gemacht, sind davor stehen, sind bei der Leidenschaft geblieben und nicht darüber hinausgegangen. In einem sehr bestimmten Sinn ist der Spanier jener Mensch, der sich am weitesten vom Griechen, wenn wir das Griechische als die eigentliche Wurzel des Europäischen nehmen wollen, entfernt gehalten hat.
Der endgültigste Ausdruck für dieses Entferntsein liegt zweifellos in Don Quijote vor. In Don Quijote als jenem Einzelnen, der in der Menge, die dem Toreador nach der Tötung des Stieres zujubelt, fehlt, weil er — was tut? Weil er gegen Windmühlen ficht. Ich liebe, beide zusammen zu denken: den Toreador und Don Quijote, von dem Dostojewski sagt, daß er nach Christus der edelste Mensch war von denen, die auf dieser Erde gewandelt sind.
Wenn ich mich recht erinnere, fiel mir damals die Maßlosigkeit besonders im spanischen Barock auf, wenn das überhaupt noch Barock genannt werden darf, was im 17. Jahrhundert in der Kunst entstand. Darin hatte sich die Einigung zwischen den beiden Elementen des Naturalismus und der puren Phantastik, des rein Dekorativen, niemals so vollzogen wie im italienischen oder im österreichischen Barock. Und dann das noch: an die Kämpfe im heutigen Spanien denkend, fühle ich dieselbe Maßlosigkeit, dasselbe Kompromißlose wie vor so vielen Jahren bei den Stiergefechten und als Folge davon in mir selbst dasselbe an Schwermut grenzende Unbehagen.

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Ich will hier keineswegs eine Abhandlung über den magischen Leib, über Magie und so weiter schreiben, sondern Erinnerungen aus fremden Erdteilen, an Völker,

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Rassen unter eine einzige Idee, eben des magischen Leibes, bringen und damit beleuchten. Ich habe schon Beispiele für das, was ich unter dem magischen Leib verstehe, gegeben: das einfachste und deutlichste scheint mir doch das vom Schiffskapitän des Xerxes zu sein, dem der König zuerst eine goldene Kette um den Hals hängen und den er dann enthaupten ließ. Man könnte, wenn man darüber zu philosophieren hätte, folgendes sagen: Dieser Schiffskapitän ist ein Mensch ohne ,seinen Widerspruch‘. Und darum geht das Schwert des Richters so glatt und widerstandslos genau über oder unter der goldenen Kette durch den Hals durch und trennt Haupt vom Rumpf. Statt Mensch ohne seinen Widerspruch darf auch Mensch ohne Humor oder Mensch in einer Welt ohne Humor gesagt werden. Wobei nur noch hinzugefügt werden müßte, daß, da ihn König Xerxes nicht hat, ihn unmöglich die Untertanen haben dürfen. Die magische Welt ist wesentlich humorlos, oder der Humor ist darin rein phallischen Ursprungs und phallischer Art, ist auf das genaueste die phallische Groteske.
Ich habe den persischen Schiffskapitän zu Beginn als Mann ohne Ich bezeichnet. Das ist insofern richtig als dort, wo kein Widerspruch ist, auch kein Ich sein kann. Ich frage aber jetzt: Hat er nicht vielleicht genau genommen zwei Ich — eines für den Rumpf, eines also, das belobt wird und die goldene Halskette bekommt, und dann das andere, das getadelt und zugleich mit dem Kopf abgehackt wird? Oder hat er nicht trotz allem nur eines, dieses eine Ich aber ließe sich teilen wie ein Apfel oder wie eine Körperzelle? Also nicht so teilen, wie sich ein Mensch teilen läßt: in sich selbst und den Widerspruch? Man sieht, daß sich auf unserem Schiffskapitän,

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der vor mehr als zweitausend Jahren auf so sinnvolle Art und Weise geköpft wurde, eine ganze Philosophie aufbauen ließe, was so vielleicht von keinem anderen Kapitän behauptet werden könnte.
Nehmen wir nun an, daß dieser Schiffskapitän auferstehen werde nach dem Tode, was ohne weiteres zugestanden werden muß. Dann wird am Halse die Schnittfläche zu sehen sein und der Kapitän daran unter den anderen erkannt werden. So erscheinen auch einige von den Märtyrern mit ihren Verletzungen, Wunden, Hieben und Schnitten am Jüngsten Tage, und so waren im Herzen der heiligen Klara von Montefalco, als man ihren Leib öffnete, um ihn einzubalsamieren, die Leidenswerkzeuge Jesu Christi eingeprägt. Oder so verbreiten die Leiber der Heiligen nach ihrem Tod nicht den Geruch der Fäulnis um sich.
Der Moslem überall in Afrika sowohl als auch in Indien hat die bestimmte Vorstellung, daß, wenn er mit einem Bein oder Arm oder Ohr stirbt, er oder sein Leib auch mit einem Bein oder Arm oder Ohr auferstehen werde. Als im Jahr 1857 während der Meuterei, welche die völlige Einverleibung des größten Teiles von Ostindien in das britische Imperium zur Folge hatte, einige von den aufständischen Truppen im Norden mit Worten nicht wiederzugebende Bestialitäten an englischen Frauen und Kindern begangen hatten, wurden, heißt es, die Leiber der Rädelsführer vor die Mündung von Kanonenrohren gebunden und in tausend Stücke zerschossen: damit nichts, keine Identität übrig bliebe, die ruhmbedeckt im Paradies auferstehen könnte, vielmehr müßte. Auch hier liegt der Fall vor vom Menschen ohne seinen Widerspruch Das Ich ist mitzerschossen worden in tausend und aber tausend kleine Teilchen, was sich alles ge-

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wissermaßen als undurchführbar erwiese, wenn ein Widerspruch da wäre.
Eine andere Form der Bestrafung des ,magischen Leibes‘ war in Nordindien die, daß man den Leib des Rebellen oder Verbrechers mit einer Schweinshaut umhüllt und ihn also, für alle Ewigkeit verunreinigt, hängen läßt. Alle kultischen Reinigungen und Waschungen, aber auch alle Formen der Befleckung haben die Vorstellung des magischen Leibes zur Voraussetzung.
Der Mohammedaner hat weder die christlich-paulinische Idee vom verwandelten oder verklärten Leib noch jene der Hindus von der Wanderung der Seele durch viele Leiber von Menschen und Tieren. Was sich alles, wenn es richtig verstanden wird, auf die große Identitätsformel des Islams Allah ist Allah zurückführen läßt. Gott allein, heißt das, ist Geist, der Menschengeist dagegen Logik, und zwar genau jene, welche die Körper wohl berühren, aber nicht verwandeln kann. Mit dieser großen göttlichen Identitätsformel hängt es, wie leicht eingesehen werden muß, unmittelbar zusammen, daß einer nur mit einem Bein auferstehen wird, wenn er mit einem Bein gestorben ist.
In keiner Religion ist die Trennung zwischen Schöpfer und Geschöpf so klar, so schneidend vollzogen wie in der mohammedanischen. Den augenfälligsten Ausdruck finde ich davon über alle islamitischen Länder verstreut in der ebenso wunderbaren wie klaren und einfachen Architektur, wo Gotteshaus und Grabmonument ein und dieselbe Form haben. Hier ist arm reich und reich arm dank wiederum dem Satz Allah ist Allah. Liegt, frage ich, nicht darin, in eben der Gleichheit, in der Ähnlichkeit von Gotteshaus und den Tausenden von Grabmonumenten, welche in wechselnder Größe wie nach

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einem Modell gearbeitet, von Gartenanlagen, spiegelnden Kanälen oder Teichen umgeben, selten aus Marmor, meist aber aus Ziegeln verfertigt, im Schatten von Terebinthenbäumen oder in verwüsteter, verlassener Landschaft mitten unter Ruinen erhalten, den Boden Nord- und Mittelindiens, der Natur sich nur widerwillig vermählend, bedecken, liegt darin nicht die eindeutigste Verkündigung der Nichtverwandlung ausgesprochen, vielmehr niedergelegt? Haben wir dann nicht zuletzt auch das reinste Gesicht, das Antlitz selbst des islamitischen Fatum oder die Spiegelung von dessen Idee? Wobei ich in diesem, im Fatum, weiter den eigentlichen Ausdruck von der Humanität, ja das ganze Humane, die Vernunft des Islams erblicke.
Wir Europäer, durch Jahrhunderte Leser Homers und der Bibel, sind Logiker und Krieger, beides zusammen, Menschen also, die mit dem Schwerte und mit Begriffen zu trennen und zusammenzufügen gelernt haben. Einer kriegerischen Seele und einem mathematisch-logischen Kopf wie Napoleon mußte darum der Islam als die sinnreichste Religion erscheinen.
Ich gestehe, daß ich mich in Indien zu Beginn meiner Reise, die mich vier Monate in Anspruch nahm, aus meinem Europäertum, aus meinem Latinismus und Bibellesen heraus an diese klare Trennung von Schöpfer und Geschöpf, wie die islamitische Kunst sie vor allem in der Architektur offenbart, mit meiner ganzen Seele zu klammern suchte, vor den ungewohnten Gebilden des Hinduismus zurückscheuend, darin Schöpfer und Geschöpf in Zerstörung und Erneuerung sich ewig durchdringen.
Die Kehrseite freilich der Erscheinung eben jener Angleichung von Vernunft und Fatum, die Kehrseite des

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sublimen Entzugs der Freiheit, wie er sich in de Angleichung ausspricht, ist eine gewisse Entwicklungsunfähigkeit alles Mohammedanischen, eine deutliche Öde, womit sich islamitisches Wesen zu oft und allerorts umgeben hat, weshalb der Islam zu wahrer Erhabenheit vielleicht nur in der Wüste zu gelangen vermag. Auf was für Gegensätze ist früher nicht der Reisende im Kaukasus oder an der Wolga gestoßen, sooft sein Weg ihn aus einer blühenden deutschen Ansiedlung in das zunächst liegende Dorf eines Tartarenstammes führte?

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Von Peshawur, im Nordwesten Indiens, wollte ich den Khyberpaß besuchen, der nach Kabul führt und, da er die Verbindungstraße zwischen Indien und Rußland bildet, von den Engländern sehr streng bewacht wird. Der Weg galt damals und gilt wahrscheinlich heute noch für gefährlich; Beweis dafür war, daß die englische Regierung nur an einem einzigen Tag der Woche die Verantwortung für die Sicherheit des Reisenden übernahm. Am Freitag. Oder waren es zwei Tage, Freitag und Dienstag? Automobile gab es derzeit in ganz Indien noch sehr wenige, ich mietete mir darum eines der leichten und gut gefederten Wägelchen der Gegend, daran zwei sehr flinke Araber zogen, wie sie vom persischen Golf her von Händlern nach Indien gebracht werden, und fuhr am frühen Morgen bei schneidender Kälte von Peshawur ab. Auf dem Bock wie immer Ali aus Lucknow.
Wenn ich an Peshawur zurückdenke, sehe ich Häuser vor mir aus gelbem Lehm an schnurgraden Straßen, kunstlose mit Kalk bestrichene Moscheen mit Minaretten gleich Schornsteinen, ich rieche Kamele, die zwei-

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höckerigen, zottigen aus Mittelasien, Schafherden, den oft knöcheltiefen, weichen, lehmigen Staub der Straßen, das verbrannte Holz in der Luft, nach welchem ganz Nordindien riecht, zumal am Abend. Die Männer sind von weißer Hautfarbe, tragen dichte schwarze Bärte, sind abweisend, von rauhem Gebaren, sehr männlich, alles Kaufleute, Besitzer von Kamel- und Schafherden, auf Besitz eingestellt und von der Verschwiegenheit des Besitzenden.
Ich habe stets achtgehabt auf die verschiedene Art, womit sich Menschen auf Besitz einstellen und die je nach Rasse, Klima, Religion zu wechseln scheint. Mein Freund Chaudhuri führte mich einmal in Kalkutta durch schmutzige enge Gassen mit hohen Häusern, von deren Mauern der Kalk abzubröckeln begann. Die Fensterscheiben waren mit Staub und Spinnweben so bedeckt, daß das Licht kaum durchdringen mochte. Hier wohnen, sagte er, lauter reiche Leute, Millionäre, wie er sich ausdrückte, die ihre Schätze: Edelsteine, Korallengeäst, Silberbarren, Gold, gemünzt und ungemünzt, in ihren Kellern verstecken. Man würde sie, wenn man ihnen auf der Straße begegnete, für Bettler halten, so verwahrlost ist ihr Äußeres. Ihre Betten sind voll Ungeziefer, und am Tage lassen sie Arme darin liegen, damit sich die Flöhe und Läuse an diesen vollsaugen, sie selbst nachts dann von ihnen Ruhe hätten und das Ungeziefer zu töten sich nicht genötigt sähen. Sie dürften zum großen Teile der Sekte der Jainas angehören.
Aus solchen Besitzenden mag dann ab und zu ein Verzichtender, der Asket, hervorgehen. Ich kann mir aber keinen solchen unter den schwarzbärtigen Männern aus Peshawur denken. Der Asket möchte dort ebensowenig wachsen, wie der Apfelbaum oder die Linde auf indischem Boden gedeiht. Wir haben hier dieselbe genaue,

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nette Abgrenzung zwischen Mensch und Ding, Mensch und Besitz, Mensch und Tier, Mein und Dein, wie wir sie vorhin zwischen Schöpfer und Geschöpf gefunden haben, dasselbe Fehlen des Überschwangs, des Hinübergleitens von einem zu anderen. Ich stelle mir nebenbei vor, daß es weder unter diesen Männern von Peshawur noch auch unter den Bettlermillionären in Kalkutta so etwas wie den Geizigen in unserem Sinn gebe, den Geiz als Sünde, den Geizhals als Figur eines Schauspiels. Wer dort besitzt, ist damit schon geizig. Der Geiz gehört zum Ding, das unser ist, ebenso dazu wie zu dem, dem das Ding gehört. Im Geizigen europäischer Herkunft aber, im Schauspiel oder in der Geschichte, im Roman des Geizigen haben wir unter allen Bedingungen eines: den Kampf mit den Erben, den Konflikt zwischen der deutlichen Lebensfeindlichkeit des Geizigen, vom Geiz Ausgetrockneten und der Lebensfülle Liebender, solcher Verwandten, die enterbt werden. Im letzten Sinne geht es hier um den Kampf zwischen dem Einzelnen, der sich isoliert, und der Art, die sich propagieren will und muß. Den kennt der Asiate, ob er nun Hindu oder Islamit sei, nicht so, wie wir ihn kennen, weil er, der magische Mensch, der magische Leib, der Mensch ohne ,seinen Widerspruch‘, den Weg aus dem Kult in das Drama nicht oder noch nicht genommen hat oder nicht nehmen kann. Diese Bettlermillionäre von Kalkutta sind in einem kolossalen Ausmaße humorlos, und wir haben schon gesehen, daß Humorlosigkeit im bestimmten Sinn zum magischen Leib gehört. Ich bin nur froh, hier die Beziehung zwischen Besitz und dem magischen Leib aufgedeckt zu haben. Ach, man muß alles zusammenzusehen wissen, um für einen Augenblick wenigstens ganz glücklich sein zu können.

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Wir fuhren zuerst in einer gegen das Gebirge zu abfallenden Ebene, die ockergelb und sehr trocken war, durch Dörfer, daraus da und dort Türme aus braunem Lehm ragten. Ich mußte an San Gimignano denken, und die rauhe, rauchige Luft hier zauberte in mir für einen Moment die Wein- und Feigensüße der Landschaft um das toskanische Städtchen herum hervor, die ich Jahre vorher gleichfalls in einem Wägelchen durchfuhr, wenn auch nur mit einem Pferd und ohne Ali auf dem Bock. Von den Türmen der Dörfer wird aus Löchern, Schießscharten dem Feind aufgelauert, dem Nachbarn und Mann der Blutfehde, bis der Zeitpunkt oder die Gelegenheit gegeben sind, daß man ihm leicht und sicher eine Kugel aufbrennen kann. Dazu sind die Türme da, dazu ungefähr waren sie vor Jahrhunderten auch in den Städten Toskanas und Umbriens dagewesen.
Vor uns lag das Gebirge, baumlos, rosa, violettes Gestein mit ab und zu einem Smaragdstreifen darüber. Da die Sonne hochgestiegen war, war alles grau geworden, bis es der Abend wieder in eine Landschaft aus Edelsteinen verwandelte. Während wir den Paß in vielen Schleifen anstiegen, traten von Zeit zu Zeit Wachtposten bewaffnet hinter Felsen vor und sahen uns nach. Es sind Afridis, ein kriegerischer Bergstamm, dem die Engländer die Bewachung des Khyberpasses anvertrauen, die Söhne jener Männer, die sich unten in den Dörfern von ihren Türmen aus totschießen. Man kann den Engländern die Herrschergabe in keinem Fall streitig machen.
Eine Biegung der Straße, und drei nackte Kinder, jedes mit einem am Nabel baumelnden Amulett, weichen vor dem Wagen zurück, ein etwa achtjähriger Knabe tritt vor die zwei kleineren, sie schützend, schreit wie am Spieß und hält, am ganzen Körper gespannt und bebend vor

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Schrecken, den rechten Arm gegen mich ausgestreckt, mit den Fingern der Hand das Zeichen gegen den bösen Blick zu mir hin machend. Ich suchte ihn zu beruhigen, indem ich ihm ein paar Annas aus dem Wagen warf, doch der Knabe schrie noch heftiger, und sein schützender Körper spannte sich in der Angst noch mehr vor den Kleinen auf, die keinen Laut hervorbrachten. Ich habe nie ein Wesen so von bloßer Angst gespannt gesehen. Doch einmal einen Maulwurf, den ich mit meinem Stock auf seinem Gang durch die Erde zu unterbrechen suchte. Der war aus Angst zu einer kleinen schwarzsamtenen schnurrenden Trommel geworden.
Reichlich vor der Mittagsstunde waren wir bei der Moschee des Ali angelangt, wo wir unser Frühstück nehmen wollten, jeder für sich. Obgleich mein Diener, wie erwähnt, Mohammedaner war, würde er nicht einmal eine Banane aus meinem Eßkorb angenommen haben. Mein letzter Diener auf der Reise, mit dem ich von Ceylon nach Südindien übersetzte, war half-cast, Christ, und wurde als solcher einmal aus einem Abteil dritter Klasse von Eingeborenen einfach herausgelacht, so daß er in mein Abteil stürzte und mich völlig Ohnmächtigen um Hilfe bat. Trotz allem würde er, wenn wir zufällig einmal auf einer Eisenbahnstation das Essen im selben Raum nehmen mußten, da es weder ein Rasthaus, noch ein Hotel dort gab, sein Mahl nie anders verzehrt haben als im Winkel der Stube, mit der Schüssel vor sich hinkauernd und mir den Rücken kehrend.
Die indischen Speisevorschriften, denen sich alle Inder ohne Ausnahme oder mit der einzigen Ausnahme der Parias unterwerfen, sind in enger Verbindung mit der Kaste zu denken, und die Kasten wiederum mit der Vorstellung vom magischen Leib. Die vier Hauptkasten der

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Hindus, die Brahmanen, die Kschatrias, die Vaischas und Çudras, sind aus der Teilung des Leibes Brahmas entstanden; die Priester aus dem Haupt, die Krieger aus den beiden Armen, die Kaufleute aus dem Rumpf, die Handwerker und alles andere aus den Beinen. Damit ist die Relation der Kaste zum magischen Leib ein für allemal fixiert worden. Das Essen ist, möchte man sagen, ein Akt der Scham des magischen Leibes gleich den anderen Akten der Entleerung, Zeugung, des Gebärens. Wir Menschen Europas ,mit dem Widerspruch‘, wir Menschen des Maßes haben ein für allemal eine Grenze gezogen zwischen Oben und Unten (eben um des Widerspruchs, um des Maßes willen). Nicht so der Mensch der Kaste und des magischen Leibes, der Oben und Unten vertauscht. Das einzusehen ist von großer wichtigkeit für den, der den Osten verstehen will.
Man hat in Europa seit dem 18. Jahrhundert, vornehmlich in den Jahrzehnten des Liberalismus, die Idee der Kaste mißverstanden, deren Sinn nicht oder falsch gesehen, und darum möchte ich hier an dieser Stelle etwas Grundsätzliches darüber vorbringen: Wenn wir das Kastenwesen oberflächlich beurteilen, möchte man nämlich meinen, daß in der großen Anzahl der Kasten bei den Hindus (man zählt ihrer über achtzig), in den unzähligen und äußerst peinlichen Vorschriften der einzelnen, alle Lebenslagen, Lebensumstände betreffend, eine große Sensibilität zum Ausdruck komme, ein unendlich verfeinertes Spüren der Dinge, Werte und Oberflächen. Die genaue Wahrheit ist nun die, daß das Kastenwesen die ganze mögliche Sensibilität, über die ein Mensch verfügen möchte, eingezogen hat, bindet, in Regel und Form verwandelt und im letzten Grund dann schwächt, wenn nicht tötet. So daß man wohl sagen darf,

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ein ganz sicheres Kennzeichen des magischen Leibes sei Mangel an Sensibilität. Ich werde darauf noch zu sprechen kommen. Man muß diesen Mangel spüren, sehen, riechen. Ärzte, die in Spitälern zu tun hatten, haben mir ihn von ihrem Standpunkte aus, einem rein biologischen, bestätigt. Pragmatistisch gedacht, wäre die Kaste sogar als Mittel gegen allzu große Sensibilität zu empfehlen. Wir Europäer, Menschen mit dem Widerspruch, haben die Sensibilität entdeckt und gezüchtet. In gewissem Sinn kam sie im 18. Jahrhundert auf, in jenem Jahrhundert der Aufklärung, Humanität und Vernunft, das allem Kastenwesen den Todesstreich versetzt hat. Man vergleiche einmal das 17. und das 18. Jahrhundert in Frankreich. Im 17. ist alle Sensibilität noch Form, in der Form zurückgehalten und aufgehoben, im 18. ist Form gelockert und die Sensibilität frei geworden.
Es scheint, daß ich meine Fahrt zum Khyberpaß nur angetreten habe, um hier in einem fort davon abgelenkt zu werden. Ich hatte, auf einem Stein mitten unter Geröll in Sonne sitzend, mein Frühstück noch nicht beendet, den Eßkorb vor mir, als plötzlich von der Paßstraße her eine ganze Schar von Pathanen, Hunderte, Männer aus Kabul, auf mich zukam, die Kamele und Tragesel zurücklassend. Sie kam, um in der Moschee oder vor ihr das Mittagsgebet zu verrichten. Da Mohammedaner in der Nähe eines so heiligen Ortes, wie es die Alimoschee unzweifelhaft ist, leicht gereizt sind, so verzog ich mich, so rasch ich konnte, durch sie hindurch, die schon die ganze Strecke von der Straße her überschwemmt hatten. Auch hier fiel mir der Mangel an Neugier seitens der Menschen des Ostens auf. Kaum, daß sie mich bemerkten oder kaum, daß sie mich anders merkten, als etwa ein Dachs bemerkt wird, der vom Wald her in den Förster-

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garten eingebrochen war und am Morgen den Weg nicht gleich herausfindet. Was ich aber spürte, was ich roch, während ich mich durch die gewaltigen, hochgewachsenen, ruhig einherschreitenden Pathanen hindurchstahl — sie schritten langsam und ungefähr, wie Kühe sich in den Alpen plötzlich über einen Abhang am Bach verbreiten, überallhin, wo es etwas zu grasen gibt —, was ich also sehr deutlich spürte, war der Geruch von Mannheit, von Geschlecht, rein und unrein, wie Tiere zugleich rein und unrein sind. Wenn wir den Mohammedaner der Idee des Fatum entkleiden, welches sein Menschentum verkörpert, so bleibt das pure Geschlecht zurück mit allem Geruch des Geschlechts. Diese Männer kamen von Kabul und zogen gegen Peshawur. Drei Jahre später sah ich von Samarkand eine Karawane demselben Pathanen mit zweihöckrigen Kamelen und Eseln nach Kabul ziehen. Ist nicht Samarkand der Sitz jener theologischen Fakultät gewesen, von wo das islamitische Dogma ausgegeben wurde, daß die Frau keine Seele hätte?

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Ich habe hier die Dinge so zu sagen, wie ich sie empfinde. Beim Anblick der Parsees in Bombay, Männer und Frauen aus allen Altersklassen, mußte ich jedesmal an die Geier denken, durch deren Leiber alle toten Parsees seit Jahrtausenden hindurchgehen, ich habe dabei Geierfleisch, das an den vom Gefieder entblößten Hälsen und Beinen, gespürt, gefühlt, geschmeckt. Es ist nicht das, daß die Parsees häßlich wären. Hat es doch auch nicht viel Sinn, den Geier einfach häßlich zu nennen. Von allen Vögeln der Erde hat er den schönsten Flug. Herrlich, seinem Kreisen im Azur des Himmels hoch oben über dem Golf von Bombay mit den Augen zu folgen.

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Nein, es geht hier nicht um Häßlich und Schön. Oder wenn Häßlichkeit beim Parsee vorliegt, so ist das kein Begriff und durchaus ohne den Gegensatz des Schönen zu denken. Wie das beim Griechen statthat, der alles das in die Welt gesetzt hat: Maß und damit im Zusammenhang den Gegensatz und Widerspruch. Was wir hier bei den Parsees, unserer ersten Empfindung folgend, häßlich nennen möchten aus unserem Griechentum heraus, das uns ebenso angeboren wie anerzogen ist, ist eine tiefliegende, besser: dem Ganzen entströmende Reizlosigkeit. Als objektiver Ausdruck genommen für das, was ich eben Mangel an Sensibilität des magischen Menschen, des magischen Leibes genannt habe.
Das Magische liegt hier in einem bestimmten Mystizismus der Materie. Die Elemente: Wasser, Erde, Feuer, dürfen nicht verunreinigt werden. Darum wird der Leib des Toten den Vögeln vorgeworfen, was die Hellenen Homers, Anbeter des Helios, nur mit dem Leib des getöteten Feindes getan haben. Dürfen wir uns darüber wundern, daß die Parsees aus dieser Vorstellung heraus das vielleicht einzig und allein ganz unkriegerische, um den modernen Ausdruck zu wählen: das eine aus seinem ganz gestockten Wesen heraus pazifistische Volk auf Erden sind, daß ihnen die Divergenz von Krieg und Frieden völlig abhanden gekommen sein müsse, wenn sie diese jemals besessen haben? Daraus hat sich von selbst die denkbar natürlichste Beziehung zum Geld ergeben als dem neutralen Ding an sich, dem wurzel- und gestaltlosen, das irgendwie Feind und Freund verbindet, indem es beides auslöscht: Feindschaft und Freundschaft. Sind doch die Parsees die eigentlichen Bankiers von Indien.
Es wäre trotzdem verfehlt, eine Verwandtschaft zwischen den Puritanern und den Parsees in beider Beziehung zum

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Geld zu suchen. Jene der Puritaner zum Geld kommt von sehr weither, aber geradenwegs vom Bibelgott, sie ist sehr geistig oder weist, wenn man es lieber so haben will, auf einen ganz geistigen Gott zurück. Die Beziehung des Parsees zum Geld ist die genaue Folge des von mir so genannten Mystizismus der Materie. Ich möchte es darum so sagen: Im Geld des Puritaners hat sich die Materie in pure Bewegung verwandelt, im Geld des Parsees hat sie das Elementare, Elementhafte verloren und ist zum reinen Symbol geworden.
Die ganze Welt dieser als Leichen den Geiern ausgelieferten Menschen scheint mir reizlos, unblühend, gestockt: die Kleidung, die entsetzlichen Hüte aus Wachsleinwand, die Kurzsichtigkeit im Blick, ihre Wagen, alles. In den Berichten über ihre Begräbnisse und Begräbnisstätten, auf die man gelegentlich in den Zeitungen stößt, ist allemal die Rede von den ,Türmen des Schweigens‘, weil das offenbar schön klingt und ein Berichterstatter sich seine Reise nach Indien nicht hat verderben wollen dadurch, daß er schön klingende Worte nicht anbringt. Diese vier oder fünf an Größe verschiedenen sogenannten Türme des Schweigens gleichen ebenso vielen Gasometern, die oben offen sind. Sowie sich der Trauerzug mit der in ein weißes Tuch gehüllten Leiche auf der Bahre einem der Gasometer nähert, schwärmen hoch aus der Luft Hunderte von Geiern heran und hocken oben am kreisrunden Rande des Gasometers hin, sich ganz dicht aneinander drängend, Flügel an Flügel, die vor Gier nach dem Fraß aufschlagen und sich senken. Sie warten auf den Augenblick, da der letzte von den um die Leiche bemühten Verwandten das Innere des Raumes verlassen hat. Woraufhin sie sich auf den Leichnam stürzen und diesen innerhalb weniger Minuten verzehren.

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Das Skelett zerfällt in kurzer Zeit unter den Strahlen der indischen Sonne zu einem weißgrauen Pulver, das dann mittels einer ingeniös angebrachten Ableitungsvorrichtung weggeschwemmt wird. Es soll sich ereignet haben, daß ein Spaziergänger oder ein Kind auf der Strandpromenade einen Finger oder eine Zehe findet, die einer der auffliegenden Geier hat fallen lassen.
Noch das, bevor ich abschließe: die Parsees sind von äußerster Sittenstrenge und Sittenreinheit. Es kommt nicht vor, daß man einem Parseemädchen in einem der großen Freudenhausquartiere des ganzen nahen oder fernen Ostens begegnet. Ich kann nun nicht finden, daß der Puritanismus in diesem Fall nichts mit der genannten Reizlosigkeit zu tun hatte.
Ich möchte noch einmal auf die Idee der Schönheit zurückkommen, weil mir dort, wohin ich jetzt denke, die Lösung des Problems: betreffend die Schönheit, betreffend das Verhältnis des Ideellen zum Sinnlichen und so weiter, ganz offen dazuliegen scheint. Es muß stets im Auge behalten werden, daß Schönheit als Idee genommen von der magischen Welt in deren ganzem Umfang ausgeschlossen bleibt. Wo sie darin zum Ausdruck kommt, ist sie Schmuck und Ornament. Den Übergang, besser noch: den ersten Schritt vom Ornament und Schmuck zur Idee macht das Maß oder macht die Idee des Maßes, die griechisch ist. Mit der Idee des Maßes haben wir oder hat die Menschheit die Welt der Magie verlassen. Der magische Mensch ist ohne Gegensatz in sich, Mensch des Maßes hingegen trägt den Gegensatz sich oder erzeugt den Gegensatz aus sich oder ist dank dem Gegensatz erst ein Zeugender. Man denke jetzt noch einmal an alles das zurück, was ich über den persischen Schiffskapitän gesagt habe mit dessen zwei Ich oder mit

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dessen teilbarem Ich. Ich will mich nicht wiederholen und nur darauf noch hinweisen, daß genau derselbe teilbare Mensch sich zur Religion des guten und des diesem an Rang völlig gleichen bösen Geistes, Ormuzd und Ahriman, bekennen muß und zu keiner anderen. Weshalb auch die Religion der Perser in alter und neuer Zeit und mit Recht stets als die eigentlich magische gegolten hat und ihre Priester Magier hießen.
Wenn wir nun alles das bedenken und zudem nie außer acht lassen, daß das griechische Maß gleichsam den Vorhof anzeigt zu dem, was wir Einzeltum, Individualität nennen, so ergibt sich, daß de Schönheit Asiens zunächst oder im Grunde Schönheit der Art ist und nicht Schönheit des Einzelnen. Ich bin in Bombay den unschönsten, ich bin aber ebendort auch den schönsten Menschen, scheint mir, begegnet. Letztere waren Araber aus der Gegend des persischen Golfes, Pferdehändler, Väter mit ihren Söhnen. So hatte ich mich stets die Patriarchen, die Erzväter vorgestellt. Gleich mir ergingen sie sich des Abends am Strand, im gelben Burnus, darunter die braune Tunika, das mächtige Haupt von der an den Hals sich eng anschmiegenden Kapuze geschützt, so daß das bärtige magere Gesicht mit der Adlernase, den vollen geschwungenen Lippen ruhigen Auges den Beschauer ansah. Da sich die Sonne dem Horizonte näherte, um im Mehr unterzutauchen, breiteten Diener ein wenig abseits von der Menschenmenge gegen das schäumende Meeresufer zu die Gebetsteppiche aus. Das Gesicht zum untergehenden Sonne hin gerichtet, da genau dort Mekka liegt, knieten die Alten hin, neben ihnen zu rechter und linker Hand auf kleineren Teppichen die beiden jungen Söhne und in gemessener Entfernung hinter ihnen de Diener oder Sklaven. Und so beugten sie die Häupter

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und richteten sich wieder empor zur Sonne hin und berührten den Boden mit den Stirnen...
Schönheit war hier, noch einmal, Schönheit der Art, Sitte ist Ordnung des Stammes. In dieser Schönheit der Art kommt auch das zum Ausdruck, was ich eben für den Islam so bezeichnend gefunden habe: die Trennung von Schöpfer und Geschöpf. Bevor sich nämlich der Schöpfer von den Geschöpfen löst, müssen in seinem Geiste die Arten bestanden haben, die Namen der Arten, die Zahl der Arten. So ist es. Ohne die Art, ohne die Bestimmung und das Gesetz der Art würde sich kein Geschöpf vom Schöpfer haben trennen können oder wollen. Noch das: Menschen, deren Gotteshäuser den Grabdenkmälern so gleichen, wie sie es auf islamitischem Boden allenthalben tun, können an keiner anderen Schönheit teilhaben als an der Schönheit der Art. In der Schönheit des Einzelnen ist stets ein Überfließendes, Überströmendes enthalten, eine gewisse Exaltation und Romantik, die im engsten Zusammenhang mit der Idee an sich steht. Und nur im Bereiche des Einzelnen kann dann ein Unterschied gemacht werden zwischen der Schönheit des inneren und der des äußeren Menschen oder kann von einer schönen Seele im häßlichen Körper geredet werden, keinesfalls aber im Bereich der Art. Wir kämen hier auf das zurück, was vorhin über das Maß und den Gegensatz oder Widerspruch gesagt wurde.

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Nackt im Orient ist nur der Heilige, der Leib des Heiligen, des Überwinders, ob es sich nun um Mohammedaner oder Hindus handelt. In Sidi Okba, einer Oasenstadt am Rande der Sahara, lief in den Basaren ein nackter alter Mann herum ohne Lendentuch, das ent-

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blößte Geschlecht einer verschrumpften Dattel gleich. Ohne Turban. Das Haupt war ungeschoren, das Haar glich einem jener Gestrüppe in den der Wüste vorgelagerten grauen Steppen, an welchem jeder Araber, der barfuß, auf trockener Sohle schreitend, auf langer Wanderung vorbeikommt, allein oder als Glied einer Karawane, ein ganz kleines Fetzchen Tucht heftet. Zum Zeichen dafür, daß er hier Allahs gedacht habe.
Dieser nackte alte Mann war offenbar närrisch und galt für einen Marabu, wie man dort die Heiligen nennt. Er wurde von den Kaufleuten des Basars ausgehalten, er schlief, bei wem er wollte, man gab ihm zu essen, und jeden Morgen wurde er in ein Hemd gesteckt, das er sich dann vor den Augen der anderen vom Leib riß.
In der Lawra zu Kiew, dem berühmtesten Wallfahrtsort der orthodoxen Russen, sah ich zwei Bäuerinnen, de jede ihre Närrin mit sich führte. Es sollte ein Opfer sein, eine Beschwernis des Pilgernden, denn die Närrinnen benahmen sich wie ungezogene Kinder, schrieen, verunreinigten sich, gaben das Essen wieder. Am Mariahimmelfahrtstag sind in Cancale, wohl überall in der frommen, mystischen Bretagne, Altäre errichtet am Strand, davor Kinder, Frauen, Mädchen und wenige ganz alte Leute beten, de Männer fischen weit draußen im Meer bis Neufundland. Vor einem der vom Kerzenlicht erleuchteten Altäre stand abends ein Schubkarren, darin ein Blöder lag, grinsend und lallend. Im ersten Halbkreis um ihn herum knieten die Kinder, im zweiten die Mädchen in ihren weißen Hauben, hinter diesen die Mütter. Die wenigen alten Männer standen und bildeten den Rand gegen die Zuschauenden zu.
Der alte Nackte in Sidi Okba war eine Art Maskotte und wurde als solche von den Kaufleuten gehalten. So wie

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sich einer eine Puppe in sein Auto hängt. Er sollte den dunkelhäutigen Männern in ihren schneeweißen Tuniken, das geschorene Haupt mit dem Turban bedeckt, Glück bringen. Das sollte er. Als Glücksbringer baumelte und hing er zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf, zwischen Allah und den Männern des Handels, Gewinns und der Zeugung. Er, der ganz arm, ein Bettler war und nicht mehr zeugen konnte. Der Welt des Islams fehlt die Ironie, fehlt das Paradox. Fehlt auch die Idee der Umkehr. Statt dessen baumelt die Maskotte, wechselt das Glück und füllen die Gestirne den Abgrund aus zwischen dem Menschen und der Gottheit. Man kann auch sagen, daß hier das Glück den Menschen erst komplettiere. Ein Mensch ohne Glück wäre unvollkommen, es sei denn, daß er sich in einen nackten Heiligen verwandelt habe, in einen Narren, der täglich sein Hemd zerreißt. Nebenbei ist nur in einer Welt des Glücks die Gleichung zwischen dem Heiligen und dem Narren zu vollziehen. Sowie wir das Glück streichen, fällt der Narr vom Heiligen und der Heilige vom Narren ab.
Der magische Mensch, der magische Leib ist ohne Ironie, ohne Paradox, weil er ohne Gegensatz und Widerspruch ist. Und so ist er glücklich oder unglücklich, hat er Glück oder Unglück. Oder ist er abgeschlossen, begrenzt durch sein Glück. Und nur so gehört sein Gestirn zu ihm oder kann er von seinem Gestirn nicht los oder davon abfallen, wie eine Frucht vom Baum abfällt, daran sie gereift ist.
An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen: gilt der Satz von den ,Glücklichen‘, kann er von ihnen gelten? Das Evangelium kennt den Glücklichen nicht. Es ist wundervoll und ein großer Trost, von hier aus über Glück und Unglück in dem deutlich bestimmten Sinn nachdenken zu

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dürfen. Stets liegt dem Glück eine magische Vorstellung zugrunde, was so viel bedeutet wie, daß die Idee der Freiheit geleugnet oder übergangen ist. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen — diesem Satz setzt irgendwie schon den freien Menschen oder besser: eine Welt der Freiheit voraus. Darin liegt auch seine besondere Bedeutung.

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Die lebhafteste Erinnerung führt mich zurück nach Thanessar. Am Rande von Rajputana gegen das Penjab zu. Da ich, wie schon erzählt wurde, an einem bestimmten Tage in Kapurthala sein mußte, blieb mir nichts anderes übrig, als von Jaipure kommend, Udaihpur zu überschlagen, was mich freilich heute noch schmerzt, sooft ich daran denke, aber nach Thanessar wollte ich, koste es, was es wolle. Ich wußte davon nur, daß es eine der heiligsten Stätten Indiens und daß diese der Erinnerung an die große Schlacht der Pandusöhne im Mahabaratham geweiht, daß es die Landschaft Arjunas und Krischnas und der Bhagawadgita sei, welche mir wenige Jahre vorher Houston Stewart Chamberlain in der lateinischen Übersetzung von August Wilhelm Schlegel in die Hand gelegt hatte, damit ich auf diesem königlichen Wege in die Welt des indischen Idealismus eindringe. Ich fuhr in einer Tonga von zwei Zebus gezogen von der Station aus in die kleine Stadt, welche noch ganz den Charakter der Rajputenstädte bewahrt: die Straßen sind nach den Handwerken genannt oder bestimmt, die darin geübt werden. So gibt es eine Straße der Gerber, der Schmiede, der Weber, der Müller und so weiter. Ich sehe noch, wie in den offenen Läden der letzteren die Getreidekörner zwischen zwei Mühlsteinen zu Mehl langsam zerrieben wurden. Da in Thanessar keine Engländer leben, so gibt

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es kein Kantonnement in der Nähe der Stadt, dieser eine Meile weit vorgebaut, wie das überall in Indien der Fall ist, wo Engländer, Zivilbeamte, eine Garnison zu treffen sind. Statt dessen gab es ein Rasthaus, darin ich abends mit einem englischen Steuereintreiber zusammen mein Diner nahm. Dieser reist von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, unter seinem Gepäck ein Grammophon, auf dem er sich heute abend beim Kleiderwechseln die ,Lustige Witwe‘ vorspielen ließ.
Ich fuhr durch Thanessar durch und gelangte bald an einen See, an dessen Ufer ein Hindutempel aus weißem Marmor steht. Der See endet im Westen in ein schilfiges Gelände, dem scheinbar eine kleine, dunkelgefärbte Insel vorgelagert ist, die, wenn man lange hinsah, sich bewegte, da und dort aufriß und wiederum zuging. Es war in Wirklichkeit keine Insel, sondern ein breiter Haufen von dicht aneinander gedrängten dunkelgrauen Sumpfvögeln, vielleicht Reihern, Bläßhühnern. Das war nicht auszumachen. Vom Tempel führten Marmorstufen ins Wasser des Sees, und darauf saßen ohne Ordnung verstreut nackte Greise, barhäuptig, die Schädel in der Sonne wie Kupferkessel leuchtend, jeder vor sich einen alten mächtigen Folianten aus Pergament, darauf de Zeichen einer großen fremden Schrift für mein Auge deutlich erkennbar waren. Neben jedem der Greise stand die Trinkschale aus Messing, ohne welche kein Hindu zu finden ist, und um die Greise herum schritten oder saßen Affen. Einer davon hatte sich dicht an einen der Greise herangedrängt und blickte mit ihm zugleich in den Folianten. Mitten durch sie liefen die Stufen auf und ab die indischen Eichhörnchen, hüpfte der sehr solitäre indische Star. Die Tiere waren ohne Scheu vor dem Menschen wie im Paradies. Die Luft war lautlos. Vielleicht drang dann

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und wann ein Vogelgekreisch oder der Laut aufflatternder Flügel von der Vogelinsel her am jenseitigen Ufer. Es war sicherlich das erste Mal, seitdem ich indischen Boden betreten habe, daß ich nicht den pfeifenden Schrei der indischen Bussarde hören mußte, der von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang die Luft durchschneidet und in mir immer den Eindruck eines zugleich Wilden und Traurigen hinterließ. Als ich ein paar Jahre darauf im ,Falkenwäldchen‘ bei Moskau fuhr und derselbe oder ein sehr ähnlicher Vogelschrei an mein Ohr drang von den zahllosen Falken daselbst, sah und roch und hörte und schmeckte ich im Augenblick asisches Land, asische Art und Wildheit, asisches Weh.
Ich stand wie verzaubert im Bezirk des Tempels von Thanessar und rührte mich nicht vom Ort, bis daß es Abend geworden war. Dabei hatte ich das Gefühl, daß ich weder für die heiligen Männer noch auch für die Tiere um sie herum vorhanden sei. Mir war, als ob ich davon verzaubert dastand, daß sie mich nicht sähen.
Auch de Nacktheit dieser Greise war nicht griechisch, sondern die magischer Leiber, doch schien mir ihr Sinn sehr verschieden vom Sinn der Nacktheit des heiligen Narren von Sidi Okba. Die Leiche des Islamiten wird in die Erde gelegt werden, die Greise von Thanessar kehren, nachdem der Tod eingetreten, zur Sonne zurück im Feuer, darin ihre Leiber verbrannt werden. Abends bei untergehender Sonne am Ufer heiliger Ströme.
Eine andere Vorstellung von Glück haftet an beidem: an der Rückkehr des Leibes zur Erde und an der Verbrennung. Vom Glück des Narren von Sidi Okba habe ich alles gesagt, was zu sagen ist. Glück ist hier, oder Glück herrscht, weil Schöpfer und Geschöpf sich nicht berühren. Glück stößt uns jetzt zu, überfällt uns, bewegt sich

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im Zwischenraum. Glück ist darum stets auch an ein Äußeres, an ein Außen gebunden, an den Leib, an den Erfolg. Die mögliche, die äußerste Verinnerlichung des Erfolges, des Außen hat erst in der Erwählung oder, wenn man will, in der Zahl der Erwählten statt.
Das Glück der Heiligen von Thanessar aber liegt zunächst darin, daß das Geschöpf und der Schöpfer keine Grenze gegeneinander haben und ineinander übergreifen. Mit anderen Worten: Glück ist hier, daß wir nicht aus der Gottheit fallen. Ebensowenig, wie die Planeten aus dem Bezirke oder aus dem Gravitationsfeld der Sonne zu fallen vermögen. Glück ist also nicht mehr an die Zahl gebunden. Ist es aber darum schon Innerlichkeit? Die Frage muß so gestellt werden, und die Antwort lauten: Nein. Oder so: dieses Glück ist noch äußere Innerlichkeit. Und genau das ist Magie, Reich der Magie, magische Welt: das, was ich äußere Innerlichkeit nenne, Seligkeit des Glücklichen, Sonnen- oder Sternenlicht des Geistes. Zuletzt läuft alle Magie in Metaphorik aus, in Bildlichkeit.
Eine kurze Zwischenbemerkung: Der europäische Realismus im weitesten Sinn und magische Kunst schließen einander aus. Die übertriebene, ans Groteske streifende Metaphorik der Dichtkunst in Asien, vornehmlich in Indien, ist dort aus dem magischen Boden emporgeschossen. Wenn es in der Buddhalegende heißt, daß der Erleuchtete als weißer Elefant in den Leib seiner Mutter eingezogen ist, um sich von ihr gebären zu lassen, so haben wir in einem beides: Magie und Metaphorik. Davon könne eine ganze Ästhetik ausgehen.
Ich habe in Indien erst das Heidentum begreifen gelernt. Ich habe dort erst aus der lebendigsten Anschauung gelernt, was das eigentlich heiße, wenn einer sagt: das

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Heidentum sei ohne Innerlichkeit im letzten und tiefsten und einzigen Sinne. Ohne jene spezifische Innerlichkeit also, darin die ,Freiheit des Christenmenschen‘ wurzelt. Alle Bücher, die ich vorher über indisches Wesen gelesen hatte, wissen davon nichts. Ich habe meinen Indischen Idealismus nicht mehr auflegen lassen, weil auch darin nichts davon gewußt wird. Schopenhauer ahnt ebenfalls nichts von dem, was ich äußere Innerlichkeit oder Magie oder magischen Leib nenne.
Hier liegt der Unterschied zwischen dem Buddhismus und dem Christentum, genauer: zwischen dem Gottmenschentum Buddhas und dem Gottmenschentum Christi.
Im Gottmenschentum Buddhas steckt noch Magie, noch das, was ich äußere Innerlichkeit nenne. Ohne diese Magie würden hier Gott und Mensch nicht zusammenhalten oder müßten sich voneinander lösen. In gewisser Hinsicht ist darum das Gottmenschentum Buddhas leicht, ja der Inbegriff des Seligen selbst und verlangt eines nicht: den Glauben. Das ist ein Ungeheures. Ganz Asien kennt ihn nicht: diesen Glauben im Sinne der vollkommenen Innerlichkeit. Wie das Gottmenschentum Buddhas von der Magie, so lebt das Gottmenschentum Christi vom Glauben als dem ganz reinen, als dem supremen Ausdruck der Innerlichkeit. Nur dank dem Glauben oder mittels desselben fallen wir dann nicht aus der Gottheit oder fallen wir nicht von der Gottheit ab, und insofern allein und auf keine andere Weise ist dann auch der Glauben Glück und Glück weiter die Seele selbst oder deren tiefste Regung.
Buddhgaya, nicht weit von Benares gelegen, im Dreieck der Buddhalandschaft Nordindiens die östliche Spitze bildend, wenn wir in Kapilavastu, Buddhas Geburtsort,

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die nördliche, in Benares die westliche Spitze des Dreiecks sehen, Buddhgaya also ist der berühmteste Wallfahrtsort der Buddhisten, hierhin kommen sie von ganz Asien. Buddha empfing daselbst, unter dem indischen Feigenbaum sitzend, die letzte Weihe der Erleuchtung. An einem Teich, der mit Lotosblumen bedeckt ist und in den die Priester und Frommen Marygold, die Opferblume Indiens, werfen, so daß das Wasser die Farbe einer Jauche gewinnt, genau so wie der Ganges in Benares, steht ein Schrein, welcher die uralte Statue des sitzenden Buddhas, bekränzt gleich einem indischen Gott, birgt. Über den Schrein schattet der indische Feigenbaum, aus dem alten gezogen, unter dem die Erleuchtung vor mehr als zweitausend Jahren über den lebendigen Sakhyasohn gekommen war. Ich sage, daß über die Statue ein Kranz von Blumen — war es Jasmin, war es Marygold? — von den Schultern herab zum Nabel hing wie bei einem indischen Gott. In der Tat gilt hier Buddha für einen Avatar, eine Wiedergeburt und Verwandlung Wischnus. Und als ich vor ihn hintrat, empfing mich kein buddhistischer Mönch, sondern ein Wischnupriester, auf der Stirn das Zeichen der Angehörigkeit zu dieser gewaltigen, über ganz Indien hin verbreiteten Sekte der Wischnuiten.
Jetzt möchte ich etwas sagen, was ich damals freilich noch nicht wußte, wie ich heute es zu wissen glaube, was ich vielleicht nicht einmal ahnte, was sich aber trotzdem vom Anblick, von den Gesichten der Buddhagegend, die ich mit Eifer, ja mit einer gewissen Inbrunst besah, in den vielen Jahren, die seitdem verflossen sind, nähren konnte.
Für das Gottmenschentum Christi ist es ganz wesentlich, daß es unter gar keiner Bedingung als Avatar, als die

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Wiedergeburt einer bestimmten göttlichen Wesenheit gelten konnte und kann. Daher der Glaube, daher weiter auch die Schwierigkeit des Glaubens, das beinahe Übermenschliche desselben. Die Frage ist einmal so zu stellen, ob der Glaube an einen wiedergeborenen Gott, an die Verwandlungen eines Gottes noch Glaube im Sinne der Innerlichkeit, ob er nicht etwas wie erstarrte Einbildungskraft sei. Diese Fragestellung wird nur der ganz verstehen und beantworten können, der Einsicht genommen hat in meine genaue Unterscheidung von Glauben und Einbildungskraft (Über die Einbildungskraft).
Auch dem Gottmenschentum des Dionysos gegenüber ist der Glaube nicht Glaube, sondern Einbildungskraft. Nur für diese, zur Einbildungskraft hin, möchte ich sagen, ist Dionysos Verführer. (Weshalb in seinem Gefolge alles zu finden ist, nur nicht eine Figur wie der Teufel oder Mâra, der indische Todesgott, welcher Buddha zu verführen sucht.) Wir können wohl dem Verführer, wir können aber nicht an ihn glauben. Der Christ glaubt an Christus.
Geschichtlich gesprochen ist Christus der letzte Gottmensch, und es scheint mir ganz wichtig, daß auf ihn keiner mehr folgen wird, keiner mehr folgen kann. Wenn auf ihn noch einer folgte, so würde, wie gesagt, der Glaube nicht mehr Glaube, sondern Einbildungskraft sein. Das ist das eine, unsere Einstellung zu ihm betreffend. Das andere ist, daß damit, mit dem Umstand, daß Christus der letzte Gottmensch war, unendlich viel mehr als das bloß Zufällige einer geschichtlichen Tatsache behauptet wird. Sondern damit wird angezeigt, daß Christus, der Gottmensch, und mit ihm, durch ihn die Menschheit aus der Welt der Magie, des magischen Leibes in die der Freiheit getreten ist. Und innerhalb dieser

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Welt der Freiheit gibt es ebensowenig Verwandlung, wie es unmöglich ist, daß die Ströme der Erde vom Meere her zurückzufließen vermöchten.
Ich komme noch einmal auf Dionysos zurück. Zwischen den magischen Göttern, Avatars und Gottgeburten Asiens, zwischen Magie und Freiheit, steht er, der Sohn des Zeus und einer irdischen Frau, im Blitz gezeugt, in der Mitte, steht der Rausch, steht der Gott im Menschen, die Verborgenheit Gottes im Menschen, das Göttliche in der Menschenrede, steht das Bild, Bildrede, Bildlichkeit, Bildform, als eigentlicher Ausdruck des Menschentums, steht das Gleichnis, die Analogie und Ähnlichkeit zwischen Göttlichem und Menschlichem, im letzten und tiefsten die Einbildungskraft und nicht der Glaube, steht die Dichtung und steht die Kunst. Von hier aus erst kann die Stellung der Kunst eingesehen werden, welche sie in der magischen Welt, in der Welt des Maßes und in jener des strengen, des schwierigen Glaubens einnimmt. Nur in der Bildwelt des Maßes bedeutet die Kunst ein autonomes Reich, ein Zwischenreich, nicht so in der magischen und nicht in der Welt der reinen Innerlichkeit des Gläubigen.

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Es war wenige Jahre vor dem großen Kriege in Petersburg, wie es damals noch hieß. Mein inzwischen in Peking verstorbener Freund Baron Staël, dem ich noch zu seinen Lebzeiten in der Figur gleichen Namens des ,Aussätzigen‘ (in dem Buch Die Chimäre) ein Denkmal setzen durfte, hatte, da er Orientalist an der Petersburger Universität war, als Dolmetsch zu dienen einem Abgesandten des Dalai Lama an den Zaren. Dieser kam aus Lhassa, war zuerst zu Pferde mit einem Diener oder Alumnen, streckenweise zu Fuß, viele Wochen lang bis Kokand

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an der chinesisch-russischen Grenze gereist, hatte dann in Taschkent die russische Eisenbahn erreichen können und war von dort im Salonwagen sechs Tage lang bis nach Petersburg gefahren. Der Diener kochte für ihn den Reis und bereitete den Buttertee, den alle Tibetaner trinken und der in den Dörfern und Städten an Plätzen und Straßenkreuzungen neben Gebetmühlen oder Gebetfahnen gekocht wird, wie bei uns Kartoffeln oder Äpfel gebraten werden. Der Gesandte fuhr mit einer kleinen Buddhastatue, die er selbst trug und nicht der Diener. Er ließ sie so wenig aus den Händen wie die Mutter den Säugling. Er wußte nichts von den Ländern, durch die er fuhr, er wußte nichts von den vielen Grenzen, die er reitend, gehend, fahrend zu überschreiten hatte. Er sah nichts, er sah auch nicht, wie an der Grenze von Asien und Europa, bevor der Reisende sich der Wolga nähert, das Kamel den Holzpflug des Kalmücken mit der Fuchsmütze zieht, wie aber eines Morgens statt des Kamels eine Kuh oder ein kleiner Klepper da sind und ein bärtiger Mann in roter oder blauer Bluse und hohen Stiefeln hinter dem gleichen Holzpflug des russischen Bauern, ihn festhaltend und lenkend, durch die lockere Erde schreitet. Er hatte nichts von der ungeheuren Berglandschaft am Beginn seiner Reise gesehen, nichts von den Hochebenen mit Yakherden, von der Steppe, von den Baumwollpflanzungen und Fruchtgärten Turkestans, vom großen Strom und der Brücke, über die er fuhr, nichts von den vom Sturm der Ebene wie hingelegten schiefen Hütten in den Dörfern der russischen Ebene, nichts von den bunten Kirchen aus Holz am Rande endloser Wälder. Er sah weder nach rechts noch nach links, sondern in sich hinein, als ihn, der den Buddha nie aus den Händen ließ, die Hofequipage vom Nikolaijewski-Bahnhof nach dem

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Hotel Europe brachte, in dem für ihn auf Rechnung des Zaren eine Flucht von Zimmern reserviert war. Baron Staël begleitete ihn dahin, der Abgesandte trat ein, und das erste und eine, was er nun tat, war, daß er den kleinen Buddha auf ein Tischchen stellte, das der Tür zunächst stand, davor auf den Boden fiel und dem Erleuchteten dafür dankte, daß er ihn so sicher des langen, langen Weges geleitet habe, von dem er ganz und gar nichts vom Anfang bis zum Ende gesehen. Er wurde zum Zaren geleitet und war vorher dem Minister des Äußeren vorgestellt worden. Vor dem Zaren berührte er mit der Stirn den Boden und sagte, den Blick nach innen gerichtet, die Worte her, die durch den Dolmetsch zu übersetzen waren, und vernahm durch diesen die Antwort, welche der Zar für ihn vorbereitet hatte. So wie er gekommen war, fuhr er wieder von Petersburg ab. Ich sah ihn am Bahnhof, wo Staël auf mich hinwies und meinen Namen nannte. Um die Hand hatte er den Rosenkranz geschlungen, der aus hundertundacht Perlen besteht, entsprechend den hundertundacht Arten der Fesselung durch die Sinne.¹ Er sah mich, und er sah mich nicht. Seine Augen waren keine Spiegel, sondern Sterne. Das waren sie. Und so blieb an ihnen nichts haften, wie am Gestirn nichts haften bleibt und das Gestirn also seine Bahn hat und dahinrast, weil nichts daran haften bleibt. Er lächelte ein wenig, er hatte aber schon vorher gelächelt, er lächelt, sooft ein Mensch in seine Nähe tritt: um der Bahn willen und nicht aus Überlegenheit, wie die Araber wollen, daß

¹ Die Islamiten Syriens tragen Rosenkränze mit 33, 66 oder 99 Perlen. Diese bedeuten aber die Eigenschaften Gottes, deren Anzahl wohl nicht ganz festzustehen scheint. Man kann den Unterschied der beiden Religionen nicht besser kennzeichnen als mit dieser so verschiedenen Bedeutung der Perlen des Rosenkranzes.

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der Mahdi, der Gottesstreiter, der Sieger, lächeln soll. Das Lächeln des Mahdis, ohne welches ihn die Gläubigen nicht sehen sollen, gleicht einem Schild, darin die Strahlen, die tötenden, des einen, unendlich fernen und mächtigen Gottes aufgefangen und milde geworden erscheinen, so daß der Mensch daran nicht verglüht; das Lächeln des Mannes aus Lhassa, des Buddhisten, dem die Vorstellung von dem einen Gott der Semiten ganz fremd ist, war anders, war genau so wie das Geflimmer eines Sternes in der Nacht, war das Lächeln des Menschen, dessen Auge verlernt hat durch Jahrtausende, haften zu bleiben an den Dingen des äußeren Lebens: um der Bahn willen. Dieses Auge ist ganz und gar das des magischen Leibes, der ohne Pause von Verwandlung zu Verwandlung schreitet und nicht in dem lebt, was wir Natur, Landschaft, menschliche Gemeinschaft, Einsamkeit des geselligen Menschen und so weiter nennen.
Ein Deutscher, mit dem ich im Hotel in Benares zusammentraf, erzählte mir, er sei auf der Fahrt von Bombay nach dem Norden auf dem Mount Åbu gewesen, auf dem sich die berühmten Jain-Klöster befinden. Während er, Pflanzen sammelnd und Beobachtungen machend, um die mächtigen Klostergebäude herumstrich, sei ihm plötzlich aufgefallen, wie aus geringer Entfernung ein Mönch im gelben Mönchsgewande ihm und seinen Schritten aufmerksam folgte, ja beides mit dem Blick förmlich zu fixieren suchte. Der Deutsche habe sich aber dadurch nicht irremachen lassen und weiter am Boden nach Pflanzen Ausschau gehalten. Nur noch einen Blick wollte er auf den Mönch schnell werfen ... Da war dieser verschwunden, wie weggehoben vom Boden, auf dem er gesessen hatte. Der Deutsche habe nun nichts anderes gedacht, als daß der Mönch sich hinter einen der vielen Felsblöcke ver-

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zogen habe. Doch im Nu habe er wieder da gesessen, genau an derselben Stelle, in derselben Haltung, nur habe er ihn jetzt nicht mehr fixiert, sondern so vor sich hin und in sich hineingesehen, als sei weit und breit kein Fremder, kein menschliches Wesen und als wäre niemals eines da gewesen.
Ich habe wohl die meisten Tricks der Gaukler in Indien gesehen, die dort zu sehen sind: den Korbtrick, Ropetrick, den Mangobaumtrick. Im allgemeinen interessieren mich Tricks nicht. Ich bin auch gar nicht geschickt darin, wenn es gilt, sie zu erklären, und versuche es nicht. Sie scheinen mir nur soweit wichtig und bedeutsam, als ich sie mit dem magischen Leib, als dessen Äußerung und Tat, in Verbindung bringen kann. Mit dem magischen Leib und infolgedessen auch mit dem Mangel an Sensibilität, welcher diesen, wie gesagt, kennzeichnet, mit dem damit verbundenen Un-Begriff von der Natur. Diese ist Illusion und kann nur Illusion sein. Es kam dem Mönch auf dem Mount Åbu nur natürlich vor, da sein Blick heraustrat aus dem Inneren, darin er meist verborgen liegt wie die Schlange in der Ritze einer alten Tempelmauer, und des äußeren, des fremden Lebens habhaft werden wollte, sich unsichtbar zu machen vor dem Auge des Fremden. Wer wird sich nun darüber wundern, daß einem solchen Menschen in seiner magischen Welt eines völlig fehlen müsse: die Neugierde, die Neugierde des Europäers! Darin man wohl, wenn man will, die allergröbste Form der Sensibilität, ja den gemeinsten Ausdruck derselben, direkt eine Verhärtung davon, sehen mag.
Ich kam abends mit dem Dampfer von Kalkutta in Rangoon an und machte mich gleich nach dem Diner, das wie zumeist in den Hotels dort sehr schlecht war,

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nach der Shve-Dagon auf, einer der größten und berühmtesten Pagoden in Asien. Es war schon Nacht geworden, als ich die sehr lange Treppe hinaufging, an Schreinen vorbei, darin vor blumenbekränzten kleinen sitzenden Buddhas Lichter brannten. Es war ein wenig mühsam, da die Stufen — wohl mehr als hundert — ausgetreten waren, glitschig von faulenden Blumen, welche die Frommen fallen ließen, und den Körnern des Opferreises, die hier schon und oben um den Tempel herum überall verstreut waren. Als ich oben anlangte, war kein Mensch zu sehen, kein Menschenlaut zu vernehmen. Ein Schakal lief gerade vorbei, als ich die letzte Stufe genommen hatte. Es soll vorkommen, daß ein Leopard sich hier gelegentlich einen der umherirrenden Pariahunde holt. Hunde sind die Lieblingsspeise der Leoparden. In der Regenzeit muß man, muß sich der Eingeborene mit seinen nackten Sohlen vor der Russell-Viper in acht nehmen, die um Rangoon sehr häufig und wie alle Vipern ein Nachttier ist. Gleich rechts von der letzten Stufe fiel mir ein gedeckter Tisch auf mit allerhand Dingen zur Nahrung und Bekleidung des Menschen: Eier, ein Huhn, Schälchen mit Reis, Bananen, ein Stück gelben Tuches, gefaltet, ein Rasiermesser. Das ist alles für die Mönche gedacht, wenn sie des Morgens in den Tempel kommen. Der Mönch ist in Birma das, was bei uns der Soldat ist. Das will bedeuten, daß jeder Mann, wenn auch nur für eine Woche, Mönch gewesen sein, als Mönch gedient haben müsse. Im bürgerlichen Leben führt die Frau das Regiment, der Mann ist schwach, kindlich, ein Spieler, in der Geschichte und Politik immer nur schwer sich der Intrige entwirrend. In Bhamô, nahe der chinesischen Grenze, war ich mitten im Volke Zuschauer bei jenen Marionettenspielen, die überall in Birma in den Voll-

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mondnächten stattfinden. Als ich lange vor dem Morgen die Menge verließ, war wieder ein Tisch vor dem Eingang in den Raum der Gaffenden aufgestellt und mit solchen Dingen gedeckt, wie sie die Mönche brauchen. So ist das Mönchstum eingewoben in das Leben der Tätigen und Freudigen. Der Buddhismus hat keine Priester. Mir fällt jetzt ein: Verhalten sich Priester und Mönch zueinander nicht wie Vorsehung und Bahn? Die Vorsehung ist des Priesters, die Bahn des Mönches. So fühlt man letzteren in Birma überall. Wo man ihm fort und fort begegnet: allein, in Scharen, in der Eisenbahn, am Fluß, von Haus zu Haus wandernd mit der Bettelschale, die mit einem dunkelkirschroten Tuch zugedeckt ist: als den Menschen der Bahn. Wir Menschen Europas, in den Vorstellungen des Monotheismus auferzogen, wissen nicht, was Bahn heißt. Wenn wir das Wort gebrauchen, so reden wir wie so oft herum. Eines steht fest, daß dort, wo Bahn ist, noch etwas vom magischen Leib zurückgeblieben ist. Die Idee der Vorsehung hingegen trinkt und saugt alle Magie auf wie die Sonne den Tau der Nacht.
Dünne Drähte sind oben in Manneshöhe durch die Luft gezogen von einem Ende des enormen Tempelbezirkes zum anderen, an welchen Tausende von winzigen rechteckigen Messingplättchen befestigt sind, die in der Nachtluft zittern und schwingen und klingen. Und in dieser Sphärenmusik um die große, goldene Pagode herum, deren Spitze hoch in den Himmel ragt, liegen, stehen und sitzen in Schreinen, von diesen, vergoldet, blau oder gelb angestrichen, aus rohem Holz geschnitzt, Hunderte von Buddhas gleich riesigen Puppen mit großem Puppenlachen in der klirrenden Nacht.
Ich habe von früh immer das eine gedacht: wie Mensch und Gestirn zusammen sind, wie Mensch und Gestirn

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auseinander sind. Dank der Vorsehung erhebt sich der Mensch vom Gestirn weg und gerät in Länder und Gebiete jenseits aller Gestirne und Sonnen, in die Länder und Gebiete eben jener reinen Innerlichkeit des wahrhaft Gläubigen. In den Buddhas, die hier umherlagen, umhersaßen oder standen, waren um der Bahn willen Mensch und Gestirn zusammengekommen und geeint, und zwar so wundervoll, daß es schien, als wandelte ich in einem Himmel, der eingestürzt war, und als stieße ich an erloschene Sonnen an.

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Ich komme noch einmal auf den Unterschied zwischen dem Nackten des griechischen und dem des magischen Leibes zurück. Ersteres bedeutet Maß, Natur, im letzten Einzeltum und Individualität. Das Nackte des magischen Leibes ist im Kastenmäßigen eingehüllt, ist gewissermaßen dessen Fruchtkern. Darum ist der Heilige nackt. Er steht über den Kasten. Er allein und niemand anderer ist der Einzelne Asiens.
Ich möchte im Anschluß daran jetzt etwas sagen, was die meisten überraschen, viele vielleicht verletzen wird: das Unschöne, das Wort muß heraus: die sinnlose Häßlichkeit des verehrungswürdigen Ghandi geht für mich im Grunde darauf zurück, daß er zwei Dinge vermischt hat, die nicht vermischt werden dürfen: den Einzelnen und den Heiligen, die Nacktheit des natürlichen und die des magischen Leibes. Es ist bestimmt so, wie schwer es auch immer für einen bloß räsonierenden Geist sein mag, sich diese Ansicht zu eigen zu machen.
Ich erinnere mich in diesem Augenblick eines wundervollen, ja erhabenen Bildes draußen in den Malabar Hills, der Gartenvorstadt Bombays. In einem Garten vor einem

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Landhaus stehen und sitzen unter einem Tulpenbaum drei nackte Gestalten: ein Greis sitzend, von den vielen Jahren eines langen Lebens wie überhangen gleich einem Weidenbaum von seinen Zweigen, neben ihm ein Mann aufrecht, mit irgendeinem Handwerkszeug beschäftigt, ein wenig abseits davon, über den Zaun blickend, ein Knabe. Es glich einem Bild von Marées. Hier war Kaste in der Haltung, im puren, im atmenden Dasein aufgelöst, war in Ordnung übergegangen, Vermählung von Körper und Seele. In jedem Falle hatte die Nacktheit der drei Körper nichts mit Natur, Maß und Freiheit zu tun und war ganz ungriechisch.
Ich habe einmal einen Paria beschrieben, jenen im Hotel von Kalkutta, der jeden Morgen von meinem Diener ins Hotelzimmer hereingelassen wurde, damit er gewisse Dienste verrichte, vor denen ein Mensch von Kaste zurückscheuen würde. Man muß das in meinem Aufsatz über die Eitelkeit (Das Physiognomische Weltbild) nachlesen. Dieser Paria war zwar bekleidet mit einem hemdartigen Rock, der bis zu den Knieen reichte, machte aber dennoch den Eindruck des ganz Nackten. Sein Fleisch an den Armen, Beinen, Backen, im Genick und überall war wuchernd, wild, aus dem Sumpf gewachsen. Es erinnerte in der Tat an Sumpfpflanzen und an das Prolixe derselben. Man mußte es ihm, seinem Grinsen ins Leere ansehen, daß er ohne Ordnung und Maß war oder daß er seine Ordnung in der bloßen Vermehrung, in sinnloser Vermehrung finden müßte und in nichts anderem. Ich habe ihn uneitel genannt, weil es so schien, als müßte sich sein Blick vor dem Spiegel zerstreuen. In der Tat war das Eitle in ihm gestockt: im Fleisch, im Wuchernden, Wilden, Prolixen des Fleisches, und im Sinnlosen des ganzen Wesens. Er war der vollkommene Gegensatz des

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Überwinders, völlig undurchleuchtet, opak. Wie Fleisch opak ist.
Wir in Europa verstehen Kaste nicht mehr, und wir verstehen auch die Idee der Kaste in Indien nicht, wenn wir nicht einzusehen versuchen, daß unsere Idee des Humanen in Indien fehlt oder daß an Stelle des Humanen Kaste steht, das Magische derselben. Welches sich dann im Geschlechtlichen gespalten hat und gespalten bleibt. Daher kommt in den Verkehr der Geschlechter, in das rein Sexuelle ein Trauerbeladenes, fatal und dumpf zugleich, und daher fehlt darin auch unsere Form der Zweideutigkeit und des Witzes, was alles letztlich auf eben das genannte Humane zurückzuleiten ist. Im Zweideutigen hat sich das Humane erschöpft oder mit dem Leeren identifiziert. Das Humane war aber einmal dagewesen, was entscheidend ist.
Bei welchem Reiseschriftsteller habe ich es nur gelesen, daß sich die keuschesten Mädchen (keusch vom Fleisch her zunächst) unter den Menschenfressern am Kongo finden? Daß sie, am Sklavenmarkte ausgeboten, Seelenqualen erdulden, wenn sie von den Käufern oder Verkäufern auf ihre Jungfräulichkeit hin untersucht werden? Man wird mich fragen, was Menschenfresserei mit Kaste zu tun habe oder mit dem magischen Leibe. Sehr viel, denn die Anthropophagie steht vor der Magie oder geht ihr voran wie das Chaos vor der Ordnung.
Die Freudenmädchen der beiden magischen Kontinente Asien und Afrika haben alle, welcher Religion oder Rasse immer sie angehören mögen, etwas von behängten, bekränzten und bemalten Idolen. So sitzen sie in den Türeingängen ihrer Häuschen in Tunis, auf den holzgeschnitzten Balkons in Lahore, auf breiten Brettern der Buden, wie Ware in Läden feilgeboten, in der weithin

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sich ausdehnenden, Gärten umfassenden Freudenstadt von Kalkutta. Wie bei Idolen weiß man bei ihnen nicht, was Abwehr und was Verführung sei. Ihre Eitelkeit ist wie das Verzerrte von Herzen, die leer geworden sind. Wir Humanen machen einen Unterschied zwischen leer und eitel. Um der Revolte willen, ohne welche das Humane nicht bestehen, vielmehr zur Geltung kommen will und kann. Die Idole sind ohne Revolte oder haben die Revolte übersprungen.
Ich befand mich in Samarkand zur Zeit des Ramazan, des Fastenmonats der Mohammedaner, machte das Fest gleich am ersten Tag und in der ersten Nacht mit. Tagsüber darf weder gegessen noch getrunken oder geraucht werden, was die Sarten und Turkmenen, die wie im übrigen alle Moslems eine ganz eindeutige Beziehung zum Genuß besitzen, im höchsten Maße reizbar macht, so daß ein Fremder und Andersgläubigem zu solchen Zeiten Insulten leichter ausgesetzt bleibt als zu anderen. Unmittelbar nach Sonnenuntergang erdröhnt ein Kanonenschuß, zum Zeichen dafür, daß das Fasten bis Sonnenaufgang gebrochen wird. Die Straßen füllen sich mit Menschen, auf den Plätzen werden Schafe am Spieß gebraten, Köche und Küchenjungen halten lange Reihen und Kränze von Schaschlick über ihre Schultern und tragen sie schreiend durch die Menge, Backwerk wird angeboten, Trauben und von Zucker triefende Pfirsiche mit sehr dicker, zäher Schale, dem überaus trockenen und heißen Klima Mittelasiens entsprechend. Junge Männer, Jünglinge lustwandeln rauchend oder stehen gaffend vor Marionettenbuden, viele von ihnen halten eine Wachtel im Hohlen der Hand, die von Zeit zu Zeit aus ihrer Heimlichkeit den Wachtelschlag von sich gibt. Es gilt für elegant, so eine Wachtel mit sich herumzutragen im Hohlen der Hand. Wenn

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es mir auch nicht gelungen ist, zu erfahren, woher sich diese Gewohnheit ableite und was sie bedeuten oder bedeutet haben möge, so möchte ich dennoch auf Fruchtbarkeit, Liebesdrang oder ähnliches raten. Nachdem es Nacht geworden war, nahm ich mir einen russischen Fiaker und fuhr durch breite Pappelalleen zwischen Baumwollpflanzungen nach der Freudenstadt Samarkands, wohin wir trotz schneller Fahrt beinahe eine Stunde brauchten. Auf den Balkons der Holzhäuser daselbst, die auf Höfe gingen, wiederum diese ernsten Idole von Frauen, junge und ältere Tartarinnen, neben jeder ein Käfig mit der Wachtel. Unten gingen Männer auf und ab oder blieben stehen, darunter wiederum die Elegants mit der schlagenden Wachtel im Hohlen der Hand. Es ist nebenbei anzunehmen, daß noch keiner von ihnen seit undenklichen Zeiten einen einzigen Gedanken darauf verschwendet habe, wie sich wohl so eine Wachtel in solcher Lage befinde, in der sie durch Stunden zu verweilen hat. In den Häusern drinnen wurde getanzt, die Tartaren und Tartarinnen saßen sehr ernst da an den Wänden entlang; was an Lachen, Ausgelassenheit und Witz geboten wurde, das ging ausschließlich von den russischen Beamten oder Kaufleuten aus, die hierzu aufgenommen zu sein schienen: als Spaßmacher, als Hanswürste.
Eine Szene in Edinburg oben am Berg über der Stadt, vor der Kaserne eines schottischen Regiments. Auf einer Bank neben dem Eingangstor sitzen zwei Freudenmädchen, die eine noch mit dem Schein der Jugend, die andere das bleigraue Gesicht von der entsetzlichen Krankheit ihres Berufes angefressen, so daß sie von ferne dem Gespenst einer Toten gleicht, das hier Wache hält. In dem Augenblick öffnet sich die Seitentür und

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zwei Tommies mit roter Jacke und im Kilt treten heraus, das Käppchen schief auf dem Kopf, mit der Gerte die Luft peitschend. Kaum daß sie der beiden Frauen auf der Bank ansichtig geworden sind, brechen sie in Gelächter aus. Es ist so, wie wenn sie sie mit dem Gelächter anspucken wollten. Genau so sieht es aus.
Ein Ähnliches wäre unter Asiaten weder möglich noch vorstellbar. Was alles auf eben den magischen Leib zurückgeht, auf das Undurchdringliche des grinsenden Idols, auf die magische Nähe des Tieres (zum Unterschied von der naturgegebenen bei uns), auf die Kaste, auf eine Art der Eitelkeit, welche dem magischen, wiedergeborenen Menschen einverleibt erscheint und daraufgepappt ist, der Schminke gleich bei uns. Im höhnischen Gelächter der beiden herrlich gewachsenen Schotten mit den nackten Knieen unter dem Kilt lebt ganz tief unter der Schwelle des Unbewußten allerhand, was gar nichts mit Hohn zu tun hat: Zuallererst die Idee von der Fleischessünde, wie sie in der Bibel steht, die Idee dann von der Überlegenheit des Mannes über die Frau, wovon gleichfalls die Bibel redet, von Jugend, Gesundheit, Schönheit. Aus all dem heraus wurde dann auf das bleifarbene Totengesicht der einen gespuckt, vielmehr darüber gelacht oder würde man, wenn man von Natur aus weniger simpel wäre, als man es ist, einen Witz gemacht haben.
Der Witz oder Humor des Asiaten innerhalb des Sexuellen ist alles eher als Ausdruck der Zweideutigkeit, er zwinkert und schielt nicht, sondern ist clownisch, clownhaft. Der Clown als solcher ist nicht nur nicht zweideutig oder Träger der Ironie, sondern — wie soll ich das nur sagen? Er ist trotz allem, obgleich vielleicht am Anfang der Welt etwas gerissen oder geplatzt oder auseinandergegangen war und also nicht stimmt, eindeutig. Das ist

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das Wunderliche an ihm. Er ist eindeutig wie ein Ding, wie ein Spielzeug, wie der Name, der auf einer Sache picken bleibt und nicht mehr losgeht, wie etwas, das man anrührt und das jeder kennt, sobald es genannt wird. Ich wüßte als Beweis für die Tatsache des clownesken Witzes innerhalb des Erotischen beim Asiaten kein besseres Beispiel als in Tausendundeiner Nacht die Erzählung, welche in der neunten Nacht anhebt: Der Lastträger und die drei Damen.
Der englische Clown, der wirkliche, der ganz echte also, ist geschlechtslos. Besser: er ist so aus dem Männlichen heraus da, als ob das Männliche allein das Menschliche und es darum gleichgültig wäre, ob einer aus Fleisch, Holz oder Leder sei. Er hat sich unter anderen in einer Welt bilden können, darin man gewisse Dinge nicht gerne beim Namen nennt. Er ist der Witz, der Humor innerhalb einer Gesellschaft, zu welcher der Cant gehört oder die ohne Cant leicht unanständig wird: unanständig ohne Witz, ohne Ironie. Der Clown ist eine sehr unfranzösische Sache, auf alle Fälle nicht auf französischem Boden gewachsen.

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Ich will jetzt ein überaus geringfügiges Erlebnis kurz erzählen, das aber trotz seiner Geringfügigkeit die tiefste Ausdeutung ermöglicht und mich noch einmal zurückbringt auf die Relation zwischen dem magischen Leib und dem erotischen Menschenwesen.
Ich habe meine Reise nach Turkestan von Rußland aus unternommen, wozu es der Erlaubnis von seiten des Ministeriums des Äußeren sowohl als auch einer Empfehlung vom Kommandanten der Leibgarde des Zaren bedurfte. Die erste Station war Bokhara, die Stadt der

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dunkelbärtigen Sarten, die zweite Samarkand, nach der es mich schon um des herrlichen Namens willen seit meiner Jugend gezogen hat. Wenn ich heute dieser Stadt gedenke, fallen mir gleich die Schulen ein, darin der Unterricht in der warmen Jahreszeit im Freien gegeben wird. Ich sehe vor mir in den offenen Loggien im Hofe der hochberühmten islamitischen Theologenschule, von der seinerzeit das schon genannte Dogma ausgegangen war, daß die Frau keine Seele habe, ich sehe in ihnen je einen Lehrer und einen Schüler einander gegenübersitzen. Zwischen beiden der Koran, in der Hand des Lehrers der Stab. Ich gedenke der Judenschule am Marktplatz mitten unter feilschenden Kaufleuten und Bauern vom Land. Die Judenkinder hocken am Boden rings um einen Lehrer mit einem sehr fleischigen Gesicht, der auf einem Schemel sitzt. Neben ihm eine Rute und ein Topf mit Wasser. Ich dachte: zur Kühlung des erhitzten, vollblütigen Lehrers mit den fleischigen Backen und dem roten Hals. Falsch, denn schon sehe ich, wie er einen der Jungen vor sich erwischt, ihn übers Knie biegt und den entblößten kleinen Hintern, bevor die Rute appliziert wird, mit Wasser aus dem Topf neben sich ein wenig befeuchtet.
Unter den vielen Sehenswürdigkeiten der Stadt nannte mir mein Führer das Grabmal eines heiligen Mannes, das vor der Stadt lag. Ich nahm also eine russische Droschke und machte mich dahin auf den Weg, der Führer, der Russisch sprach, oben auf dem Bock. Der Weg, erinnere ich mich, war so voller Löcher und so staubig, daß ich schon umkehren und den heiligen Mann in Ruhe lassen wollte. Wir mußten durch eine ganze Schar von Leprakranken hindurch, die vom Felde heimkamen. Männer, Frauen, Kinder. Jede größere Stadt hatte in Turkestan in einiger Entfernung vom Weichbild

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eine Siedlung von Leprakranken, mit eigener Moschee, eigenem Ulema, eigenem Doktor, die alle gleichfalls von der Lepra befallen sind. Die Leprakranken heiraten untereinander, kriegen Kinder, die dann wiederum untereinander heiraten und Kinder kriegen und so fort. Die Besitzenden und Landeigentümer unter ihnen sind Leprakranke, die Arbeiter sind es, die Rechtskundigen, kurz alle. Die Frauen tragen keine Schleier. Wenn man einer Menschenschar mit Schaufel, Hacke oder Korb begegnet in diesen Landen, so braucht man nur darauf zu achten, ob die Frauen verschleiert gehen oder nicht. Ich habe versucht, so gut es ging, durch die Staubwolken hindurch, die sich immer von neuem ganz dicht erhoben unter den Hufen und Rädern meines Gespannes und unter den eilenden Schritten der heimkehrenden Leprosen, irgendwelche Anzeichen der Krankheit zu erkennen. Mehr war aber nicht zu sehen als ein unfrischer Zug in den Gesichtern der meisten, vielleicht auch ein Verzagtes, wie es Menschen nach einer Berauschung haben. Die von der Krankheit schon Betroffenen dürfen wohl die Häuser der Siedlung nicht mehr verlassen.
Das Grabmal des Heiligen, im Schatten von mächtigen Pappelbäumen zwischen Fruchtgärten gelegen, gleicht allen anderen, wie sie über die weiten islamitischen Lande Asiens und Afrikas verstreut sind. Unter der Kuppel steht der weißgetünchte Sarg. Neu war mir und den Blick gleich auf sich ziehend: statt der Straußeneier, die in der Sahara über den Särgen der Marabus hängen, das Gehörn einem Steinbockart, wie sie in den kahlen Gebirgen an der Grenze von Turkestan und Persien vorkommt. Überall in den Erdteilen des magischen Leibes dasselbe Phänomen, daß zum wundertätigen Grabe des Enthaltsamen die Symbole der Fruchtbarkeit und zeugenden

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Kraft, Ei und Gehörn, dazugetan werden: um des Gleichgewichtes willen, um des Gestirnes willen, um der Pilgerfahrt willen.
Als wir einigermaßen verstaubt vor dem Grabmal hielten, ging mein Führer den Schlüssel holen. Es dauerte eine Weile, bis er den Türhüter gefunden hatte. Und jetzt geschah, während er diesen herbeibrachte, das folgende, was, wie gesagt, fast nichts oder sehr wenig zu sein schien und doch voll von Sinn stak. Der Türhüter sagte zu meinem jungen, sehr ärmlich gekleideten, verhungert aussehenden Sarten, ohne sich dabei aufzuregen, fast gleichgültig, nebenher, wie man sich etwa nach einem sehr entfernten Verwandten schnell und beiläufig erkundigt: Ich habe die ganze Zeit über gemeint, du seist gestorben. Nichts anderes als das und dies, noch einmal, so nebenher, während er aus mehreren Schlüsseln am Schlüsselbund den richtigen wählte. Auf das hin brach nun aus dem Sarten, indem Körper, Hals, Kehle sich spannten, ein Fluchen aus, wie ich es vorher und seitdem nicht mehr gehört habe oder meine Vorstellung es nicht für möglich gehalten hätte. Es war in jedem Sinne anders als alles Fluchen bisher, obwohl ich einige Erfahrung darin zu haben glaubte und unsere Bauern in Mähren oder russische oder ungarische hierin auch etwas zu leisten imstande sind. Es war jedenfalls das Fluchen keines Christen. War es das eines Menschen? Nein, es war so, wie wenn ein Rohr platzt und das ganze Wasser ausströmt. Man fragt unwillkürlich: Gibt es so viel Wasser auf der Welt? Oder woher kommt so viel Wasser? Oder wird das Wasser je ein Ende nehmen? Natürlich hört es einmal auf, und zwar ganz plötzlich, so daß man noch einmal staunen muß: über das Plötzliche des Aufhörens. So war der ganze, recht armselig, mit kaum mehr als mit Lumpen

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bedeckte, etwas skrofulöse Mann zu einem Rohr, zu einer Leitung geworden, daraus sich Fluch über Fluch stürzend ergoß, vielmehr ein ganzer Strom von Flüchen ausfloß.
Worüber aber oder warum fluchte er so? Über den Türhüter natürlich, zu ihm hin, der aber ganz still blieb und nicht das allergeringste Zeichen von Erregung, kaum Betroffenheit zeigte. Er konnte und wollte das, was auf ihn einströmte, nicht fassen oder in sich aufnehmen, sondern stand da wie ein Mann im Wasser, das plötzlich angeflossen kommt. Der Mann bleibt stehen und streift die Hosen über die Kniee oder zieht die Stiefel aus. Das erstaunlichste aber war, daß der fluchende Sarte selber nicht erregt schien, wie unsereiner sich aufregt, wenn er laut wird, Blutandrang bekommt und ähnliches. Ist ein Rohr erregt, das da platzt? Nein. Es war so, wie wenn das ganz entsetzliche, scheinbar endlose Fluchen von den Vorfahren her in ihm gelegen hätte und einmal aus ihm heraus müßte. Und als es dann wirklich heraus und er ganz, ganz still geworden war, so still wie eine Landschaft nach einem Unwetter, sagte er mir, während wir durchs Tor zum Sarg des Heiligen schritten — der Türhüter hatte sich schon verzogen und unterhielt sich mit dem Kutscher —, sagte er durchaus sachlich: Er hat mich statt au grüßen gefragt, ob ich noch am Leben sei; er habe gedacht, ich sei schon gestorben. Das ist das Ärgste, was ein Mensch dem anderen antun kann: ihm eine solche Frage stellen.
Diese, ich wiederhole, überaus geringfügige, in gewissem Sinn lächerliche Szene zwischen zwei so ganz bedeutungslosen Menschen, wie dieser ärmliche Führer und der fühllose, schmutzige Türhüter mit seiner wie verrosteten Kehle es waren, habe ich nie aus dem Sinn ver-

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loren, ein ganzes Menschenalter oder beinahe soviel nicht. Heute aber erst kann ich sie mir deuten, damals konnte ich es nicht. Darum wohl mußte sie in mir liegen bleiben und sich bewahren. Vielleicht kann und muß ich aus diesem Grunde auf der Stelle und ohne Übergang die großartigste Deutung damit vornehmen oder ihr zukommen lassen.
Etwas hat hier gefehlt oder war nicht vorhanden gewesen. Woher auch das Übermaß des Fluchens zu erklären war, die Überschwemmung damit und dann das plötzliche Aufhören, die Stille und die Gleichgültigkeit, die darauf folgte. Was hat also gefehlt, was war nicht dagewesen? Ich sage es ohne Umstände: der Mittler hat gefehlt, und zwar dieser in jedem Sinne. Seitdem ich jetzt weiß, daß er gefehlt hat, seitdem ich das fühle, weiß ich erst, was Mittler oder Mittlertum ist oder bedeutet, oder weiß ich es viel genauer, als ich es je früher gewußt habe. Dieser fluchende, sich im Fluchen ganz und gar ausschüttende Moslem, dieser bis in die Wurzeln Abergläubische und abergläubisch an seinem armen Leben Hängende sah nur die eine Seite der Dinge. Gleich allen fanatischen Menschen, Fatalisten und Abergläubischen (in unserer Christensprache). Und darauf legte sich dann jenes wahre Unwetter von Flüchen: auf diese eine Seite. Jedes Unwetter kommt so, wie es kommt, weil oder indem sich ihm nur die eine Seite der Dinge darbietet und nicht auch die andere. Nun frage ich mich, ob nicht der, welcher die beiden Seiten der Dinge sieht oder sehen will, dazu den Mittler brauche. Durch ihn, den Mittler, wird nämlich das Sehen der beiden Seiten eine Tat und hört auf, eine Schaukelei, ein Dazwischen-sich-zurecht-Finden zu sein. Durch den Mittler wird es plastisch, wird das Sehen heroisch. Darum und daher der Mittler und das Mittlertum.

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Die eine Sicht, die Einseitigkeit derselben seitens eines fanatischen Menschen oder seitens des Fatalisten hat nur Sinn oder ist plastisch, wenn der Weg geradeaus führt zu jenem strengen und richtenden Gott, der da sagt: Ich bin, der ich bin. Wenn ihr dieses letzte und ganz bestimmte Ziel fehlt, wird sie, die Einseitigkeit, roh und gemein wie das Fluchen meines armseligen Sarten. Oder wie der bloße phallische Akt, wie der phallische Erguß, diese eine fanatische Tat des Körpers. Die gleichfalls noch des Mittlers entbehrt und darum gar nicht anders als in Leere oder Übertreibung enden kann. Denn erst indem sich der phallische Akt zum erotischen erhebt, tritt der Mittler in Aktion. Weshalb auch Plato den Eros, das Kind der Armut und des Reichtums, Mittler nennt.
Wenn die magische Welt zu Ende gekommen und der magische Leib sich erschöpft hat, dann ist die Zeit der Mittler da. Es gibt keinen Mittler und hat nie einen gegeben, dem nicht eine lange Periode des Magischen vorangegangen wäre. Also sind die Mittler nie am Anfang. Dieser bestimmt stets die magische Welt, welche gleichsam aus dem Anfang ist. Der letzte Sinn der Mittler ist, daß das Geheimnis sich nicht erschöpfe. Darum lieben die Menschen sie und halten sie für Söhne Gottes, die eingeborenen. Wenn das Leben aus dem Anfang wäre, so müßte es sich schon längst erschöpft haben gleich dem phallischen Akt oder gleich den Verwünschungen des abergläubischen Sarten in Samarkand.
Und dann noch eines, womit ich meine Deutung auch beendet haben will: Wo und wenn die Mittler fehlen, dort besteht die Gefahr, daß der Mensch oder die Welt des Menschen gemein werde. Nebenbei ist das Gemeine stets der Ausgang einer Erschöpfung, wohinter immer es sich zu verstecken versuche. Darin liegt die große Ge-

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fahr für den Menschen des magischen Leibes, für den Menschen Asiens, der aus den magischen Bezirken seiner Welt, welche mit der Vergangenheit, Religion, Kaste und Sitte gegeben ist, heraustritt, daß er, indem er Europa nachahmt, die europäische Geschichte nach-erleben will, seines Reizes im tiefsten Wortsinn verlustig gehen und gemein werden muß.
Noch eine Frage an den Schluß angehängt: Ob nicht die Opfer der Psychoanalyse — nennen wir sie so — etwas sind wie heimliche, versteckte, unglückliche Fanatiker oder Abergläubische des Lebensbegriffes, des Lustbegriffes, des Triebbegriffes oder ähnlicher Begriffe? Aus einer Welt kommend, in einer Welt lebend ohne Mittler. Ohne Einbildungskraft. Mit einer ewigen Angst vor Mediokrität, im letzten selber durchaus mittelmäßig. Die alte magische Welt kannte den Begriff der Mediokrität nicht. Dadurch war die magische Welt vor allem ausgezeichnet. Als sie zu Ende kam, gab es nur den Mittler in eben dem Sinn, den ich angegeben, gab es ihn gegen die Mediokrität oder Gemeinheit.

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Was ich mich beim Bekanntwerden mit fremden Volksstämmen, beim Anblick neuer Menschenarten, Menschenleiber stets fragte, ist das: Wie bringen sie die Zeit hin? Wie füllen sie die Zeit aus, die ihnen gegeben ist? Entstehen da nicht Lücken, Risse und leere Stellen? Wie sich solche bilden müssen bei einem Menschen, der nur mit Zwecken und Absichten ausgefüllt erscheint, beim Unfreien und Isolierten. Beim Taktlosen im weitesten Wortsinn. Wo Zweckvorstellungen und Absichten vorherrschen, bleibt der Mensch isoliert und wird unwillkürlich, wie gesagt, taktlos. Zeiten oder Zeitabschnitte interferieren dann.

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Indem nun der magische Mensch in Gruppen lebt, können sich solche Interferenzen oder Risse, Lücken oder leere Stellen nicht bilden. Weshalb die Bewegung der Gruppe als solcher und infolgedessen auch die des Gruppenmenschen unter allen Bedingungen rhythmisch verläuft. Wer von allen denen, die nach dem Osten ziehend in Port Said Halt machten, erinnert sich nicht der dunklen Rhythmen in Gesang und Gebärde, wenn Neger, Halbneger, Menschen des Hafens, frische Kohle in die harrenden Dampfer schaufeln! In Bombay sehe ich vom Balkon meines nach Öl riechenden Hotels, wie ein Klavier über den Platz getragen wird, irgendwohin. Welcher Aufwand an Menschenbeinen, Menschenschultern! An Menschenstimmen, aus denen dann allmählich ein Gesang sich bildet und zu mir aufsteigt. Die Einigung hatte sich langsam und unter Streit vollzogen, aber endlich ist sie da, und der wahrscheinlich sehr verstimmte Klavierkasten schwebt glorreich in einer Wolke von Stimmen durch die Luft. Doughty erzählt in seinem wundervollen Buch Arabia deserta, wie das Zerstampfen der wenigen Kaffeebohnen im kleinen Mörser morgens, bevor sich das wandernde Gefolge eines Scheiks um das Feuer setzt, um aus winzigen Tassen die drei bis vier Schlucke des kostbaren Getränkes zu nippen, einen überaus reichen, rhythmischen Akt voll überströmendem Menschlichkeit vorstellt seitens des Scheiks selbst, der den kleinen Stampfer im Mörser hüpfen läßt. Bei Tempelausgrabungen im südlichen Ägypten, denen ich beiwohnen konnte, gab es Szenen wie im Rheingold zwischen Alberich und den Zwergen, die den Nibelungenschatz herbeischleppen. So trieb dort der Aufseher die grabenden und siebenden Arbeiter, meist halbwüchsige, zudem zwergige Menschenkinder, mit einer kleinen Peitsche

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an. Letztere bildeten in jeder Lage eine Gruppe, waren in jedem Augenblick ein einziger Körper. Und was da zwischen dem peitschenschwingenden, scheinbar sinnlos tobenden Aufseher und der sich drängenden, schiebenden und überstürzenden Gruppe kleiner Menschlein lag, das war echte dramatische Spannung, ich möchte sagen: ein Bogenelement der dramatischen Urspannung, die sich ebensowenig wie die Gruppe oder der tobende Aufseher selbst zerlegen ließe.
Das rhythmische Leben bringt beides mühelos zusammen: Not und Verschwendung. Und soweit sich das Leben aus beiden zusammensetzt, ist es rhythmisch. Das sogenannte Taylorsystem will Not und Verschwendung der bloßen Ökonomie oder rein ökonomischen Zwecken opfern, und so geht die schöpferische Urspannung verloren und kommt es zu Interferenzen, Leerläufen, schließlich auch zu Un- und Irrsinn.
Man liest gelegentlich in Reisebüchern, Wilde seien faul. Ich glaube, auch der sonst so gut beobachtende C. Jung in Zürich urteilt so. Sind sie es wirklich? Oder sind sie es nur von unserem Standpunkte aus, vom Standpunkt des Einzelnen, vom Standpunkt des Zählenden und den Gang seiner Taschenuhr nach dem Signal der Sternwarte Regulierenden? Ist dieses Faulsein nicht vielmehr ein richtiges Aus-Spannen nach den mancherlei rhythmischen Erregungen im Leben der Wilden wie der Jagd und anderen?
Ich möchte darüber noch etwas sagen: über das höchst bedeutsame und ganz und gar wundervolle Zusammensein des rhythmischen und des magischen Lebens. Ein indianischer Stamm in einer Gegend, wo Bisons vorkommen, führt, bevor es zur Jagd kommt, Tänze auf, und zwar oft Tage lang, auf alle Fälle so lange, bis sich

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ein Bison zeigt. Der dann erlegt wird. Sie beschwören das Tier mit ihren Tänzen, und es erscheint ihnen ganz natürlich, daß es oder daß mehrere dann auch kommen. Aus dem Gesichtspunkt des Einzelnen oder Isolierten erscheint das alles unsinnig, und wie sollte es auch nicht? Der Einzelne und Isolierte urteilt: einmal muß der Bison kommen, und sollte er einmal nicht kommen, so ist das Zufall.
Dieser Einzelne nun versteht die Gruppe nicht, von welcher allein aus ein notwendiger Zusammenhang zwischen dem Tanz der Indianer und dem Erscheinen des Bisons besteht. Der Einzelne als solcher darf darum in der Gruppe nicht vorkommen oder muß daraus verschwinden, eingesperrt oder geknebelt oder meinetwegen getötet werden. Daß muß er wohl, denn er ist dort nur sinnlos.
Das Leibgericht der Beduinen um Tuggurt herum, wohl in der ganzen Sahara, ist der Kuskus, Stücke von Schöpsenfleisch, in einer hellgelben fetten Brühe schwimmend. So sitzen sie, die Männer der Wüste, an Tagen, da es ihnen wohlgeht und ein Schaf geschlachtet wurde, um eine große Schüssel herum, jeder mit dem Löffel die Speise vom Rande her zum Munde führend. Eines aber ist dabei strenge verpönt: mit dem Löffel in die Mitte der Schüssel fahren, sollte dort zufällig einmal ein gutes Stück Fleisch auftauchen, und nicht nur dann. Denn aus der Mitte löffelt Allah. Oder in der Mitte sitzt Allah und ißt mit, unsichtbar, den Geisterlöffel schwingend. Ich zog damals in der Wüste mit einem seinerzeit dort sehr berühmten Poeten umher, der auch André Gide auf dessen Touren in Südalgerien von Oase zu Oase begleitet hatte. Von ihm hatte Robert Hichens, wie der Araber nicht ohne Stolz erzählte, den Titel seines damals viel gelesenen

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Buches: The garden of Allah. Als der Engländer nämlich von Biskra aus in Begleitung des Poeten, der zugleich als Diener und Führer fungierte, zum ersten Mal in die Wüste fuhr, soll er erstaunt gewesen sein über deren große Schönheit. Worauf der Diener, dessen Namen ich vergessen, ausrief: Sir, it is the garden of Allah. Er war es auch, der mir von der Regel beim Kuskusessen erzählte. Sie ist in der Tat sublim und darf gar nicht anders bezeichnet werden. Auch hier könnte der Einzelne, wenn wir ihn zur Diskussion zulassen und nicht lieber gleich knebeln im Namen Allahs, der in der Mitte wohnt und die Mitte ist, könnte der stets Interferierende, Intervenierende und wesentlich Taktlose leicht alle seine möglichen Einwände anbringen: unvermeidlich fließe die Mitte gegen den Rand der Schüssel ab, und wenn die Leute am Rande mit dem Kuskus fertig seien, so wäre Allah in der Mitte dann auch damit fertig. Worüber nicht viel Worte zu verlieren wären. Die Regel, die Vorschrift oder Sitte geht allein den Gruppenmenschen an und geht von ihm aus. Und wenn es innerhalb dieser Gruppe überhaupt den Einzelnen gibt, so ist es Allah, Allah in der Mitte, in der magischen Mitte. Alle Mitte ist magisch. Und wenn in dieser Mitte der König ist als der Einzelne, Isolierte eines Stammes, Volkes oder Reiches, so ist der König von Gottes Gnaden. Denn Gnade ist nichts anderes als Magie, aus dem Reich der Gruppe in das Reich des Einzelnen und der Freiheit getragen.
Von hier aus ließe sich eine ganze Staatslehre konzipieren. Und zwar genau von Allah, der aus der Mitte heraus den Kuskus löffelt, über Platos Staat zum Pflichtbegriff Immanuel Kants und noch weiter bis dorthin, wo man ohne Gnade auszukommen sucht. Bei Kant und durch Kant ist jedenfalls der Mittebegriff, ist die Magie

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aufgehoben oder an deren Stelle der Pflichtbegriff getreten. Darin liegt auch dessen große Bedeutung.

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Von Tuggurt in Südalgerien aus, wohin man damals nur mit der sogenannten Wüstenpost gelangte, die morgens um drei Uhr aufbrach und von Biskra zwei Tage brauchte, während heute die Eisenbahn den Reisenden in wenig Stunden dorthin befördert, fuhr ich nach dem südlich gelegenen Tlemcen, um eine Siedlung mitten in der Sandwüste zu besuchen, die zugleich Burg, Festung, Grabdenkmal ist, rings umgeben von krenelierten Mauern aus dem Sand und Lehm der Wüste mit einem gewaltigen eisenbeschlagenen Tor aus Palmenholz. Als ich in meinem Sandcar mit den sehr breiten, eisernen Rädern vor dem Tor hielt, öffnete sich dieses wie im Märchen, zahllose Neger schoben die beiden Torflügel auf, lachend mit ihren fleischroten Lippen, während das übrige Gesinde sich auf den Zinnen der Mauern verteilte, mit den Beinen baumelnd und grinsend und schreiend vor allgemeiner Freude und Staunen. Es war in der Tat ein großer Akt, ein großer Beginn. Der Besitzer des Schlosses ist der späte Nachkomme eines berühmten Marabu, der zugleich Heiliger und Krieger gewesen war, als der Islam noch erobernd auftrat und heilige Männer solcher Art aus ihm hervorgingen. Sein Grab ist eine Pilgerstätte erster Ordnung in der Wüste, und die Nachkommen haben den Rang von Fürsten. Der gegenwärtige Besitzer war auf der Fahrt nach Mekka begriffen, sagte man mir, und zwar nicht zum ersten Male in seinem Leben, und so wurde ich von seinen beiden Söhnen empfangen: dem lichten, blonden Sohn einer Berberfrau, und dem dunklen einer Negerin. Man konnte an Ariost

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denken, an Shakespeare. Ich wurde in ein Gemach geleitet, das wohl als Empfangsraum zu gelten hatte, einen gar gewöhnlichen Tisch faßte aus Dielenholz und ein paar ebensolche Stühle, wurde mit Datteln aus einer benachbarten Oase bewirtet, die ich mit Freuden aß, und mit Kuskus, den ich nur mit größtem Widerwillen schlucken konnte. Es wurden mir dann die üblichen Fragen gestellt, wobei mein arabischer Diener den Dolmetscher machte: zuerst nach meinen Eltern, ob sie noch lebten. Als ich nein sagte, war man traurig, so zwar, daß sich die Trauer vom lichten Prinzen, der die Frage hatte stellen lassen, in sinkender Stärke seinem Gefolge, Jünglingen gleichen Alters, die plötzlich alle finster dreinblickten, mitteilte. Da ich aber gleich darauf die große Zahl meiner Geschwister nennen konnte, verzog sich die Finsternis von den Gesichtern, man wurde wiederum heiter, gleichfalls so, daß die Heiterkeit hurtig über alle Gesichter vom einen zum anderen lief.
Der magische Mensch fragt nach den Eltern, nach den Geschwistern, nach deren Zahl und was davon noch lebt und nicht lebt, er fragt nie nach dem Ich. Das tut er ebensowenig, wie er beim Kuskusessen mit dem Löffel in die Mitte fährt. Das muß noch schnell zur Bestimmung des Ich bei magischen Menschen hinzugesetzt werden, weil damit alles, was darüber schon gesagt wurde, noch einmal hell beleuchtet wird. Denken wir dabei schnell noch einmal zurück an den Kapitän des Xerxes und an den Sohn jenes Großen des persischen Königs, dessen Leib der Länge nach genau in zwei Teile gespalten wurde, damit das ganze Heer mitten hindurch ziehe gegen de Griechen.
Was mir aber besonders an den beiden Prinzen auffiel und mich merkwürdig ergriff, war, wie sie stets mit Ge-

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folge, aber niemals zusammen auftraten. Das ist nicht ein einziges Mal vorgekommen, obwohl sie doch in einem fort unterwegs zu mir und gleich wieder weg waren. Es sollte offenbar vermieden werden, daß sie einander mit ihrem Gefolge in der Tür beim Hereinkommen oder Herausgehen begegneten. Und damit ging wunderbar zusammen, daß beider Auftreten immer ganz plötzlich war und ebenso plötzlich und durchaus unvermittelt ihr Abtreten. Offenbar sollte ich nicht einen Augenblick lang aus dem Staunen herauskommen, darauf hatte man es abgesehen. Der lichte war der lebhaftere von beiden, lebhafter in der Sprache und in den Gebärden, so auch sein Gefolge, das ihn ununterbrochen widerspiegelte. Der Gedanke ist nicht zu denken, was geschehen sein würde, wenn der lichte oder auch der braune Prinz einmal allein, vielmehr sich selbst überlassen geblieben wären. Es geschieht eben nicht, und es darf darum so gesagt werden, wie ich es sage, und nicht anders, weil wir uns hier doch noch in einer morgendlichen Welt befinden: gegründet und angelegt mitten um ein Grab, das marmorne eines heiligen Mannes, darüber große Straußeneier hingen. Einen Augenblick lang freilich gab es so etwas wie eine Unterbrechung, wie einen Riß im höchst Erstaunlichen und Glorreichen des Ganzen. Mit allen Gefahren einer solchen Unterbrechung und eines solchen Risses. Ich denke noch heute mit Schrecken daran. Folgendes geschah: Der blonde Prinz — ich sagte schon, daß er der lebhaftere war, lebhafter auch in den Blicken, im Erfassen der Dinge mit dem Auge — erspähte plötzlich und sehr genau meine Tabatiere, eine russische, wie man sie damals hatte: aus lichtbraunem Birkenholz, mit langer blauer Zündschnur, durch die gar zierlich rötliche Fäden gezogen waren, den Glanz des Blauen erhöhend, und

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mit einem entschieden falschen Saphir darauf. Kaum aber daß er sie erblickt, ward aller Lärm und alles Gerede kurzweg unterbrochen. Stille hatte auch vom Gefolge Besitz ergriffen, meine unscheinbare Dose wurde im Nu so wichtig, daß ich sie dem Prinzen zuerst zur Besichtigung und gleich darauf als Geschenk anbot und wohl auch anbieten mußte. Worauf unmittelbar nicht nur der Prinz, sondern auch das Gefolge in Freudenrufe ausbrach und schon aufbrechen und zur Tür hinaus wollte, als eben das Entsetzliche geschah, daß die Dose verschwunden schien. Sie war von Hand zu Hand durchs ganze Gefolge hindurch gewandert und sollte zum prinzlichen Besitzer zurück, und da war sie plötzlich weg, nicht mehr da. Wo? Der Prinz sah mich an. Ist das so merkwürdig? Nein. Aber ach! welches Fragen, welcher Zweifel in diesem seinen Blick, welche Verzagtheit und wieviel Unfrohes nach so viel Freude, Trubel, Erregung und Hingabe an die einzige Gegenwart! Sollte ich am Ende ein Betrüger sein, weiß Gott von woher, ein Mann elender Tricks und Vorspiegelungen, kurz ein Windbeutel und Ungläubiger zugleich? Wo war nun alle Freude hin am Plötzlichen, an überraschenden Eintritten und Aufbrüchen? Sie war weg, und an deren Stelle war jetzt nichts oder das Loch des Mißtrauens, darin alles versank. Ich dankte Gott aus ganzem Herzen, als die Dose wieder auftauchte, und zwar ebenso plötzlich, wie sie verschwunden gewesen war. Woraufhin es dann den großen Abschied geben konnte, der doch von Anfang im Sinn des Ganzen gelegen hatte. Der lichte Prinz empfahl sich, indem er dabei die Dose fest in der Hand hielt, sagte viele Dinge, die ich mir alle gar nicht erst übersetzen lassen konnte, weil es so viele waren, und kam dann noch einmal, da ich schon am Tor angelangt und in

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Gedanken mehr mit der Rückfahrt beschäftigt war als mit etwas anderem. Warum kam er? Natürlich wiederum aus seinem sicheren Gefühl heraus für Überraschung, Freude, Ruhm, Prinzentum und Plötzlichkeit, daran auch sein Gefolge teilhatte, vielleicht auch darum, well der schwarze Stiefbruder, der Sohn der Negerin, nicht gekommen war. Warum aber war dieser nicht gekommen? Möglich, daß er sich darum verletzt fühlte, weil es keine zweite solche Dose gab für ihn. Ebenso möglich aber, sogar wahrscheinlicher, daß er mich schon vergessen hatte, plötzlich.

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Im Rhythmus, im rhythmischen Leben, im Tanz treffen beide zusammen: der magische und der natürliche Mensch.
Der magische Mensch ist Mitte, hat Mitte und lebt in einer Welt der Mitte. Und so auch der magische Leib. Wenn es nun heißt, daß seine Welt oder die Welt seines Gottes: Ich bin, der ich bin aus dem Anfang oder aus der ersten Ursache sei, so ist dieser Anfang oder so ist diese erste Ursache auch nichts anderes als Mitte.
Ich gebe das Beispiel einer solchen magischen Mittewelt an: Bevor ein primitiver Stamm in Mittelafrika, reines Gruppenmenschentum also, Jagd auf einen Löwen oder Leoparden macht, wird die Jagd geübt, geprobt, und zwar ganz bestimmt nicht zum Zeichen dafür, daß das Leben ein Schauspiel sei und so weiter. O nein, sondern einzig und allein um der Mitte, um des Anfangs, um des Ruhmes und Rausches willen, der aus allem Anfang hervorstürzt, oder mit anderen Worten, weil Spiel und Wirklichkeit, Nachahmung und Beispiel eines sind um der Mitte, um des magischen Leibes willen. Wer das erfaßt, hat vieles und sehr Wichtiges begriffen.

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Und aus dieser Mittewelt heraus führt der Rhythmus, führt der Tanz. Und zwar als Brücke oder Bogen hin zum Leben der Natur, zum Leben des natürlichen Menschen. Hier ist dann im Anfang schon das Ende und im Ende der Anfang gelegen und vorhergesehen oder wie immer man das nennen mag. Ich habe damit schon seit je das Wesen des Rhythmischen bestimmt und kann mich dabei nicht mehr aufhalten.
Denn ich will weiter und zurück: nach Europa, zu uns, zu mir, zum Einzelnen, zum Menschen, der nur noch mehr im übertragenen Sinn der Magie fähig ist, zum Seher und Menschen der Bilder. Dahin will ich zurück, davon will ich reden, und zwar, wie sich jetzt vielleicht ziemt, im Gleichnis. Im Gleichnis vom marokkanischen Esel.
Ich habe die Esel zu allen Zeiten meines Lebens mehr geliebt, als ich sagen kann, von Anfang, von den beiden Eseln an, Hengst und Stute, heißt das, mit denen wir als Kinder herumfuhren, sooft jene frei waren und es keine Säcke mit Hühnerfutter oder Ziegeln zur Ausbesserung kleiner Hausschäden zu ziehen gab, bis zu jenem höchst freien und solitären auf der Fahrt von Tuggurt zurück, als uns der Samum, der Wüstenwind, überfiel. Von diesem Esel will ich einiges sagen schnell noch, bevor ich zum eigentlichen, zum marokkanischen komme, schon darum, weil er der letzte bedeutende Esel meines Lebens war. Esel scheinen nämlich auszusterben... Niemand sieht einen Esel mehr, liebt ihn, weiß mehr etwas von ihm zu sagen.
Es war auf einer jener Wüstenstationen, darin die Pferde oder Maulesel — stets vier, beziehungsweise sechs — gewechselt wurden, ausgezeichneter Kaffee gereicht und um de Mittagsstunde ein zähes Perlhuhn oder ein mageres Kaninchen serviert wurde. Der feine Wüstensand,

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den der Samum aufjagte, kam durch alle Ritzen hindurch in die Tassen, Schüsseln und Teller, schwamm auf der Suppe oben und verdarb den Kaffee. Man schluckte ihn mit dem Rauch der Zigarette und hatte ihn, sooft man den Mund auftat und etwas sagen wollte, im Hals. Wir mußten die Fahrt unterbrechen, bis der Sturm sich besänftigt hatte, de Pferde wurden in den Stall geführt, der Kutscher und Postillon, ein Franzose, drückte sein Gesicht fest in die Kissen des Bettes, das im Speisezimmer stand. Mitreisende wanden ihre Köpfe in Tücher ein und versuchten, so gut es ging, so zu atmen. Ich sehe zum Fenster der Wirtsstube hinaus. Da steht im Freien der Wüste ein Esel, eben der, den ich meine, noch nicht der marokkanische, aber irgendwie doch jener letzte meines Lebens, steht da mit dem Gesicht gegen den Sturm, den Kopf ein wenig gesenkt, wie Jogins es bei gewissen Übungen tun, die Ohren, soweit es anging, abstehend, damit auch der Rückwand derselben ein Gefühl vom Ganzen zuteil werde, die Lider über die großen glasigen Eselaugen gezogen. Und so, mit gespreizten Vorderbeinen fest dastehend, ließ er sich vom Sand berieseln. Berieseln auf allen ausgedehnten Flächen und in alle Winkel und Ritzen hinein seines mit guter, fester, duldender Eselshaut überzogenen Körpers. Was ihn berieselte, war ein warmer, sehr feiner, der genaueste Sand, Sand von weit und überall her, Sand der größten Wüste der Erde, und so blieb der Esel stumm, stumm wie ein Ding, wie etwas, das sich fest zusammennimmt, damit nichts verloren gehe von der Empfindung des ganzen Daseins. Ich hatte schon viele Esel sich im gewöhnlichen Staub der Straße wälzen gesehen und habe es immer verstanden, warum es bei dieser Prozedur am Ende zu einem Schrei kommt. Der gehört dazu und beschließt das

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Ganze, wie ein lebhafter Punkt einen Satz beschließt. Hier aber war der Schrei nicht angänglich und würde alles gestört haben, das war zu fühlen und nach allem auch keinesfalls zu erwarten, oder ich wenigstens habe ihn nicht einen Augenblick lang erwartet.
Was lag nun nicht alles in dieser Stellung und vollkommenen Stille des Esels? Ich will trachten, so genau wie möglich zu sein: Umkehr lag darin, doch nur so, wie ein Esel umkehren kann, der sein ganzes Innere auf die Spannung, die trommelhafte, seiner Haut verteilt hat. Kann jene mehr sein als Umdrehung, und zwar de um 180 Winkelgrade? Nein, sie kann und soll auch nicht mehr sein. Umkehr lag also darin und damit in engstem Zusammenhang und als unmittelbares Ergebnis die Tatsache, daß Kitzel und Weisheit jetzt eines geworden waren. Was auch nur möglich wurde, da alle möglichen Spannungen zwischen Innen und Außen oder zwischen einem hypothetischen inneren und dem äußeren Esel gelöst sind und das ganze Wesen desselben aufgetrommelt erscheint und sich in eben der vollkommenen Spannung einer gesunden Eselshaut manifestiert. Es gibt auf ihr keinen Ton oder keinen anderen als den gelegentlicher Prügel, dafür aber jene Genauigkeit, mit der sich Weisheit und Kitzel ineinander einfügen und mit der sie ineinander aufgehen.
Doch über diesen algerischen der Wüste, auch über de kleinen ägyptischen, stelle ich den Esel des Gleichnisses, das ich oben versprochen habe, stelle ich den marokkanischen, dem ich damals begegnet bin, als ich in Tanger zum allerersten Mal afrikanischen Boden betrat, zum ersten Mal die Erde des magischen Menschen und Leibes unter meinen Füßen spürte. Ich sage: der marokkanische in der Einzahl, es waren, was sich von selbst ver-

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steht, meist mehrere, selten zwei, zuweilen freilich nur einer. Sie liefen schnell, wie man läuft, wenn man das Ziel kennt und den Weg täglich geht. Es war mehr als bloße Hast, es war, so schien es mir, ein rechter Eifer in ihrem Gang, der Eifer der Guten, also gar nicht nur etwas, das zum Vorschein kam, weil ein Mensch oder weil mehrere Menschen zugleich heftig und gleichgültig, was eine entsetzliche Mischung ausmacht, hinter ihnen einherschritten. Von diesen Menschen ist zu sagen, daß, wie viele ihrer immer auch waren, jeder einen Stecken in der Hand hielt, einen ganz kurzen, einen Stecken weder zum Schwingen noch zum Trommeln, sondern zum Anspornen, zum Stoßen. Wenn man nämlich genauer hinsah, war das eine Ende des Steckens mit einer Blutkruste, einer dünnen, überzogen oder einfach ein wenig noch blutig. Denn jeder Esel, ob ihrer nun viele waren oder zwei oder einer, hatte auf dem linken Oberschenkel des Hinterbeines, am Hinteren, wenn wir uns allgemeiner ausdrücken, eine Wunde, verkrustet, halb verkrustet, nicht verkrustet, und in diese Wunde fuhr flink der Stecken, sooft es der Treiber für notwendig hielt, und zuweilen wohl auch, wenn er nur zerstreut war. Dazu war der Stecken da und dazu natürlich auch die Wunde: für den Stecken des Treibers. Wenn man so ein Dutzend Esel durch die schmalen Straßen mit den tiefen Löchern darin eifrig laufen sah, gedachte man wohl nicht immer gleich der Wunde oder sah sie vielleicht auch nicht. Es darf zudem angenommen werden, daß sie im Eifer des Laufens nicht gespürt wurde, und ferner, daß zu einem nicht geringen Anteil dieser Eifer in all seiner Auffälligkeit daher kam, daß durchaus jeder Esel eine Wunde hatte. Ich wenigstens habe keinen ohne eine solche gesehen. Und das ist auch der Grund, warum

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mir der Gedanke kam, ob alle diese Esel zusammen nicht etwas wie einen Verein, einen Klub, eine Genossenschaft bildeten mit allerlei Vereins- und Klubgefühlen, Überzeugungen und Voraussetzungen und ob es weiter im Sinne des Vereines nicht für ausgemacht gelte, daß diese Wunde am linken Hinterteil gar keine Wunde sei, sondern ein Orden. Gleichgültig, ob sie im Verharschen begriffen und mit einer Kruste bedeckt sei oder frisches Blut daran klebe. Warum sollte man auch nicht darüber übereingekommen sein? Vermied man doch auf solche Weise so üble Menschenbegriffe wie Gewöhnung und ähnliches. Von denen man unter Eseln durchaus nichts wissen wollte. Nur das nicht, lassen wir das doch ein für allemal den Menschen, die, wenn sie so einen Esel, wie wir es sind, einhertraben sehen, ausrufen: Oh, die spüren ja nichts mehr, die sind das schon gewöhnt. Weg mit dieser Menschenrede! Wir Esel sind nichts gewöhnt und bleiben darum genau.
Nun gut. Das sei alles zugebilligt. Jetzt machen wir aber den Versuch und nehmen einen aus einer solchen Gruppe von eifrigen, ruhmsüchtigen Ordensbrüdern heraus und fragen, was dann geschehe mit diesem einzelnen, den wir herausgestellt haben aus der Reihe. Die Hypothese mit den Orden ist bei all ihrer Großartigkeit jetzt nicht mehr zu halten, was soviel heißt wie, daß aus dem Orden wiederum eine Wunde geworden ist und nichts anderes. Um so mehr, als so ein einzelner Esel jetzt dem Mann mit dem kurzen Stecken sehr viel näher steht im Raum als die Gruppe vorhin und es zu Verharschungen und Krusten nur noch sehr schwer kommen dürfte. Die Wunde ist da und immer frisch, blutet und wird als solche naturgemäß in jedem Augenblick empfunden, was immer sonst Gewöhnung im Leben

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mancher Kreatur bedeuten mag. Die Wunde ist da, was soviel bedeutet wie, daß der Eifer, der einmal die Gesamtheit erfaßt hatte, gebrochen ist oder sich höchstens nur mehr noch als Eifer eines Gebrochenen behaupten oder zu erkennen geben könne. Augenblicke, ganze Zeitstrecken werden jetzt nicht vermieden, nicht umgangen werden können, da solch ein Esel mit der Wunde (an Stelle des Ordens) viel langsamer, mühsamer werde gehen müssen und da alle Fortbewegung einher vor dem Mann mit dem kurzen Stecken ihn als eine einzige, durchaus ununterbrochene Mühseligkeit dünken werde. Mit solchen Augenblicken, vielmehr Zeitstrecken wird gerechnet werden müssen. Freilich wird der dahintrabende Esel oft nur das Gefühl haben, nicht mehr als das, daß er langsamer gehe als seine Kameraden mit den Orden am Hinteren, zu denen er schließlich gehört und von denen er aus Gründen, die nicht weiter anzugeben sind, getrennt worden ist. Und da kann und wird es geschehen, daß sich im Hinblick auf das genannte Gefühl, auf diese — menschlich gesprochen — aus dem Wundsein geborene Subjektivität ein neues Gefühl, nein: ein neuer innerer Zustand im Kopf des Esels und von da aus in der Seele bildet, der nämlich, daß er im Kopf und weiter in der ganzen Seele drei- bis viermal so schnell sei als in den vier Beinen, daß er sozusagen in einem fort über- und nachholen wird Weges- und Zeitstrecken lang, ein innerer Zustand, von dem innerhalb der Gruppe seiner Kameraden (mit den Orden) keine Vorstellung, auch nicht die leiseste Vorahnung herrschen kann. An welchem inneren Zustand allein die Wunde, die bis ins Fleisch geht, schuld hat. Ich habe nämlich vorhin behauptet, daß so ein Esel sich nicht leicht an Inneres, an Innerlichkeiten verliere, und Zwar um der Genauigkeit willen, mit der sich bei ihm

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in Momenten schöner trommelhafter Anspannung Weisheit und Kitzel ineinander fügen. Wenn ich also hier und jetzt vom Inneren rede, so ist es kurz nur das Innere einer Wunde, die ins Fleisch geht, nicht mehr, aber freilich auch nicht weniger.
Es ist nun nicht zu zweifeln, daß unser Esel mit der Zeit, bei diesem Wechsel von Schnell und Langsam, Gut und Böse, einfach auseinandergehen, zerreißen oder plötzlich einmal in zwei Teilen daliegen, ausrinnen und um alle Substanz kommen müßte, ja um die Seele selbst, das Seelenheil und was daran hängt, wenn ihm, dem Esel, dem einen und auserwählten, Gott jetzt nicht jene Einbildungskraft verliehen hätte oder verleihen wollte, die notwendig ist, damit er ganz und nicht in zwei Teile geteilt, entzwei gebrochen, am Wege liegen bleibe.
So ist dann die Einbildungskraft des einzelnen, Esel oder Mensch, entstanden: aus dem Rhythmus der Gruppe, gleichwie dieser aus der Magie, aus der magischen Zeit entstanden ist. Welche Lehre ich dem marokkanischen Esel und niemand anderem verdanke.






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Letzte Änderung: 13. August 2025