RUDOLF KASSNER


Kassner — Buch der Erinnerung

BUCH DER ERINNERUNG

1938

2. KAPITEL
MYTHISCHE KINDHEIT
S. 43—83

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MYTHISCHE KINDHEIT

D e r   z e r s t ü c k e l t e   D i o n y s o s

Es geschieht bisweilen, daß ich meine eigenen Sachen vorlese. Nach der Lektüre ‚Meiner Lehrer‘ meinte nun einer von den Zuhörern, dem sich das Geheimnis der künstlerischen Konzeption bisher noch nicht enthüllt zu haben scheint, trotz mannigfachen Ansprüchen in dieser Richtung: Ihr müßt ja auf der Schule gar nichts anderes gemacht haben als nur beobachtet.“ Nun, so ist oder so war es keineswegs. Gewiß beobachten Kinder, Knaben ihre Eltern und Lehrer und teilen sich gegenseitig die Beobachtungen mit, weshalb es für letztere auf alle Fälle ratsam bleibt, das Gesicht zu wahren. Ich hatte nun niemals das Gefühl gehabt und besitze es auch heute nicht, daß ich beobachtet habe, als Kind oder auch später, daß ich denen, welchen ich Gehorsam schuldig war, auf etwas daraufzukommen suchte, wie der Ausdruck lautet. Was unter Menschen für die Frucht der Beobachtung gilt, das kam, flog oder fiel mir zu, und dem gegenüber war ich jederzeit duldend und geöffnet. Es war bestimmt so und nicht anders, und zwar so sehr, daß mir schon früh einer, der mir seine Beobachtungen mitteilte, zumeist nicht ohne die entsprechende Geheimnistuerei, leicht unangenehm werden konnte. So unangenehm und fatal, wie uns etwa ein Mensch werden muß, der uns am Rockknopf nimmt und mit sich zieht, um

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uns auf die Schönheiten eines Sonnenuntergangs aufmerksam zu machen.
Wie ist nun der Vorgang? Bilder lösen sich ab und gehen in uns ein. Was bleibt zurück? Und ist das Zurückbleibende, das Draußen, um das, was in uns eingegangen, ärmer geworden? Jedenfalls nicht für Kinder. Von denen ich auch meine, daß sie sehen und nicht beobachten, wie Alte beobachten. Weshalb die Bilder auch immer um etwas mehr als bloß Bilder sind, nicht abgerissen, abgehoben, sondern das Ding, den Gegenstand mit sich führen mitsamt dessen ganzer Bewegung.
Ich hatte das ganze Leben lang ein Vorurteil, ein Vorgefühl gegen Brillen, wohl auch darum, weil ich selber die Augen eines Raubvogels hatte und noch habe. Ein Mensch mit Brille, kam mir vor, könne nicht eigentlich sehen, sondern müsse beobachten, den Gegenstand durch die Beobachtung oder mit ihr fixieren, ob er wolle oder nicht. Er könne die Bewegung des Bildes nicht mitnehmen, und er könne davon nicht hingerissen werden. Um die Hingerissenheit, um das Trunkene wollte ich offenbar beim Sehen auf keinen Fall gebracht werden, und gerade darum war ich dazu geneigt, einen Unterschied zu statuieren zwischen Sehen und Beobachten.
Mir fällt im Augenblick ein, wie wohl der einäugige Zyklop auf seiner Insel gesehen haben mochte oder sonst ein Einäugiger, wenn wir ihn aus dem Mythos ins Leben versetzen. Ich denke mir: so, daß für ihn der Unterschied zwischen Sehen und Beobachten wegfällt. Und ich bringe, weiter, in Gedanken dieses einäugige Sehen mit der Insel zusammen, auf welcher der Zyklop leben mußte. Die ich mir klein vorstelle und mehr oder weniger rund, augenhaft rund, so daß von überall das Meer gesehen

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werden konnte, das Meer als das eine große, sichtbare und dauernde Geheimnis. Es gab kein anderes, es gab keines dahinter oder überhaupt nichts dahinter oder darunter. Wenn jeder von uns so auf seiner kleinen Insel isoliert lebte, diese Insel bei jeder Bewegung gewissermaßen mit sich führte, würde auch für ihn der Unterschied aufhören zwischen Sehen und Beobachten. Oder würde er nur so viel sehen, als er beobachtet. Menschen der großen Ebene, Nomaden, Hirten, Schiffer sehen mehr, als sie zu beobachten vermögen. Oder sehen zuerst und beobachten dann. Zu unseren Gesichten, zum Fluß unserer Gesichte, zu deren Ununterbrochenem gehören die zwei Augen, links und rechts, dazu.
Monokel, das möchte ich noch einfügen, dürfen nur solche Menschen tragen, die nicht sehen, die keine Gesichte haben, auch keine haben wollen, die ihre Person abschließen. Ich erinnere mich eines Menschen mit einem Monokel. Im Reden kam heraus, daß er betrunken war. Allmählich kam das heraus, weil das Monokel dazwischen war. Und allmählich wurde er immer mehr zu einem schauderhaften Anblick.
Der Beobachtende hat beim Bild, das er empfängt, den Begriff gleich dabei: So wird es leicht, das Bild abzutrennen (am Begriff gleichsam), den Gegenstand um zu dessen Bild zu bringen. Wir wissen, daß unter abergläubischen Menschen das Bild soviel gilt wie dessen Träger und daß der ‚böse Blick‘ den Menschen, den er trifft, nicht nur um dessen Bild, sondern damit auch um das Glück, um Wesen und Seele bringt. Unser einäugiger Zyklop würde vielleicht am Festland mitten unter vielen Menschen als ein Mensch mit dem ‚bösen Blick‘ gegolten haben und vor allem darum gemieden worden sein. Daher dann die Insel, die Herden, das Meer, die

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göttliche Abstammung, was alles zusammen den bösen Blick nicht aufkommen ließ.
Ob nicht der böse Blick aus jedem Menschen mit zwei Augen unwillkürlich einen einäugigen macht? Ob sich nicht gegen den bösen Blick, für den Eigner desselben, ein Monokel empfehlen ließe? Das sind alles so Fragen, die einem gelegentlich kommen können.
Mit und neben mir, mehr als die anderen durch mehrere Jahre, lebte ein Bruder, der an epileptischen Anfällen litt. Er war nicht ausgesprochen schwachsinnig, doch geistig benommen, an den Grenzen des Schwachsinns dahinlebend. Auf ihn drangen Bilder so ein wie auf mich. Man konnte es ihm ansehen, wie sie auf ihn eindrangen, wie er sein Gesicht förmlich hinhielt. Doch es fehlten die Begriffe, und so gingen die Bilder in ihm unter wie Sternschnuppen in einer Augustnacht. Was seinem Gesicht ein unsäglich Trauriges verlieh. Wenn je ein Mensch auf Erden des ‚bösen Blickes‘ gänzlich ermangelte, so ist es dieser mein Bruder gewesen.
Auch die großen Sehenden unter den Menschen ermangeln, ich füge hinzu, auf eine große Weise dieses ‚bösen Blickes‘, und doch ist gerade in ihren Augen tief drinnen zuweilen ein Böses zu gewahren, ein Scharfes, dass aber uns, das die Welt nicht um Glück, Leben und Seele bringt, sondern nur zurückbleibt, da die Trunkenheit gewichen ist. Es ist vielleicht nichts anderes als das Trennende, Gegensätzliche, Scharfe, das allem Begrifflichen anhängt.
Wir lernen, hieß es unter den Alten, indem wir uns erinnern. Warum kann diese Theorie Platons für uns nicht mehr aufrechterhalten bleiben? Weil es beim Griechen um die Vergangenheit und dementsprechend um die Zukunft geht, um Tat und Maß, bei uns hingegen

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um die Gegenwart, welcher gegenüber der Grieche gedankenlos blieb. Weil es, ferner, bei Platon um Ideen ging, die fast noch Dinge oder zum mindesten so angetan waren wie Dinge, die Schatten würfen, bei uns aber um die Beziehung der Einbildungskraft zur Gegenwart, und daraus folgend dann um einen tieferen und auch genaueren Begriff des Leidens. Der Grieche litt als ein Verwundeter, litt, wie einer leidet, dem ein Arm oder Bein abgeschlagen worden ist: um der Idee oder des Bildes willen von einem Ganzen und Vollkommenen. Wir leiden, weil wir fehlen, und wir fehlen, weil wir Einbildungskraft haben. Darum ist unsere Tiefe angefüllt mit Bildern. Und nicht mehr mit Dingen, vielen, schönen, häßlichen, auch nicht mit den Schatten von Dingen. Wenn wir uns mit Dingen zu füllen vermöchten oder auch mit den Schatten von Dingen, so müßte es statt der Tiefe den Abgrund geben, worin die Dinge oder deren Schatten untergingen. Das ist der Unterschied zwischen Abgrund und Tiefe. Er gleicht dem zwischen Schatten und Bild. Wir bewahren keine Schatten — das ist unsere Einbildungskraft, oder darum ist unsere Tiefe mit Bildern ausgefüllt und nicht mit Schatten.
Vielleicht war Einbildungskraft einmal das: den Dingen auf den Grund kommen wollen. Damals wurden noch Bilder mit Schatten verwechselt. Heute, scheint mir, ist Einbildungskraft: den Dingen   n i c h t   auf den Grund kommen wollen, den Grund meiden um der Flügel, um der Bilder und auch um der Tiefe willen, darin die Bilder lagern.
Schein löst sich auf, Schatten fallen, Bilder aber fließen. Ich habe von Henri Poincaré, dem Mathematiker, gelesen, daß es ihm Spaß bereitet habe, während einer Eisenbahnfahrt durch eine ihm unbekannte Gegend sich

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die Namen der Stationen der Reihe nach zu merken, um sie im gegebenen Fall hersagen zu können. Andere behalten auf solche Weise Zahlen, Nummern im Kopf oder besser: sehen sie vor sich, denn der Raum, das Raumgefühl hat damit mehr zu schaffen als die Zeit. Verhält sich nun dieser Akt des Sichmerkens einer Zahl, eines bloßen Namens (mit nichts dahinter) zu jenem anderen der Hingabe an den Fluß der Bilder nicht wie Gedächtnis zu Erinnerung? Ist der erste Akt nicht Gedächtnis, der zweite Erinnerung? Das Gedächtnis ist sprunghaft, läßt Zwischenräume, Abstände. Zwischen den Zahlen, zwischen den einzelnen Namen, die sich einer merkt, ist nichts dazwischen (nichts anderes als eben der leere Raum, die leere Strecke etwa, die ein Eisenbahnzug durchrast) und nichts dahinter, denn wenn etwas dahinter wäre, so würde die ganze Reihenfolge damit ins Stocken geraten und Vergessen eintreten. Unsere Erinnerung hingegen reißt alles das mit, was dahinter steckt. So entstehen dann Bilder, und darum fließen Bilder oder nehmen die Bilder den Gegenstand samt dessen Bewegung mit. Erinnern wir uns nicht am sichersten der Dinge, die schon einmal untergegangen waren in uns? Inhalt, Tod und Erinnerung — das geht zusammen. Ohne den Tod gäbe es keine Erinnerung, sondern nur Gedächtnis. Dinge leben darum in der Erinnerung und nicht im Gedächtnis fort. Unsere ganze Einbildungskraft kann sich in Erinnerung verwandeln, aber nicht in Gedächtnis.
Ich bin vor sehr vielen Jahren einmal einem Menschen begegnet, bei welchem Gedächtnis und Erinnerung auf eine unheimliche Art und Weise durcheinandergebracht waren. Er war Untersuchungsrichter, hatte es in der Stadt durch Geschick und Findigkeit im Aufspüren von

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Verbrechen zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, mit Verbrechen wurde auch sein Name in den Zeitungen genannt. Ich traf ihn nicht in seinem Bureau, sondern in seinem Salon oder was sich so nennt, wo er der Dame des Hauses auf seine Art den Hof zu machen suchte. Vielleicht nur, weil er meinte, daß so etwas dazugehöre zum Salon. Man ließ ihn reden, er sollte sagen, wie alles bei ihm zuginge. Ich war still wie eine Maus. Eines trat gleich deutlich zutage, daß er nichts   v o m   Menschen, daß er aber etwas   ü b e r   jeden wußte, über welchen er befragt wurde. Wenn also im Verlaufe der Konversation, die sich den Umständen entsprechend keineswegs auf einem hohen Niveau bewegte, der Name dieser oder jener Persönlichkeit fiel, die man kannte, oder er danach gefragt wurde — man war ja mit der Zeit von Verbrechern abgekommen zum milderen Thema des gesellschaftlichen Tratsches oder Skandals —‚ so fing er die Frage augenblicklich auf, hielt inne, schloß die Augen, welche denen einer Ratte glichen (was für ein Anblick: eine Ratte, die ihre Augen einmal zuhält!), und es war jetzt so, wie wenn er hinter den geschlossenen Augen im Kopf die Seiten eines imaginären Auskunftsbuches, wie solche wohl in Büros der Polizei vorliegen mögen, umblätterte, vorsichtig und genau, um nichts zu überschlagen, bis er auf die Seite käme, auf der etwas über die fragliche Persönlichkeit stünde. Und was dort stand, das las er gleichsam ab und sagte er dann her. Nicht ohne darnach ein sehr ekles Lachen aus seiner fetten Kehle von sich zu geben. Wie in seinem Gehirn Gedächtnis und Erinnerung, so war in seinem Gesicht auf eine grauenerregende Weise Lebendiges und Totes durcheinandergemischt. Was zum phallischen Gesicht gehört, welches unserem Manne in einem besonderen Sinn eignete. Es war zu-

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gleich ein strotzendes und ein totes Gesicht. Sehr gewaschen, sehr blank und doch eines, das man versteckt tragen müßte. Kein Verbrechergesicht, aber der Spiegel eines solchen, der Spiegel der Gesichter jener, die ohne Spiegel sind und darum töten.
Wenn der Mensch in der Zeit stehen bleibt, wie man von primitiven Völkern oder von Kindern sagt, von jenen, daß sie in der Zeit stehen geblieben seien, von diesen, daß die Zeit für sie stillestehe, fallen Einbildungskraft und Magie zusammen, und das, was wir Zeit nennen, bleibt in der Ewigkeit wie zusammengefaltet. Ich schicke den Satz voraus, weil ich im folgenden den Begriff des Magischen, Magisch-Mythischen brauchen werde. Ich möchte nun in dessen Gebrauch und Bestimmung so genau sein, wie es immer angeht, schon darum, damit es nicht so aussehe, als wollte ich damit großtun. Ich finde in der Tat keinen anderen als diesen: den magisch-mythischen, um das Verhältnis des Kindes zur Natur, vielmehr zur Welt, Bildwelt der ersten Lebensjahre zu bezeichnen.
Zur allgemeinsten Bestimmung dessen, was hier als magisch gelten soll, gehört gleich, daß kein Unterschied besteht zwischen Natur und Welt. Den hat mit Entschiedenheit erst Jean Jacques Rousseau aufgebracht, worauf dann alles das zurückgeführt werden kann, was diesen kennzeichnet vor oder neben anderen Geistern: die falschen Soziallehren, sein Erziehungssystem, die großartige Rhetorik, eine enorme, eine neue Sensibilität, so daß er nach eigenem Geständnis immer mehr fühlte, als er sah, endlich die Hypertrophie, Pathologie und völlige Entblößung des Ich. Es bedeutet immerhin schon etwas, daß ein Mensch mit der Anlage zum Sadismus, dem die Rute der Mlle. Lambercière Empfindungen der Wollust erregt, die keineswegs zu wecken wären, sollte ein-

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mal der Bruder von Mlle. Lambercière das Instrument der Erziehung, die Schwester vertretend, handhaben, es bedeutet, sage ich, schon etwas, daß ein so veranlagter Mensch die Natur, wie es dann immer heißt, entdeckte. Diese Natur konnte nun nicht mehr Welt sein, wie sie es im Mittelalter, auf den Bildern des Quattrocento, wie sie es etwa auch im Evangelium ist, sie mußte etwas sein was Welt vertritt, vor welchem Welt zurückweicht. Zurückweicht, wohin immer: in die Brust oder in das Gehirn des Menschen.
    Magisch, magisch-mythisch ist nun das Gegenteil davon, auch das Gegenteil aller Pathologie und Hypertrophie, weshalb die Deutungen von Mythen ins Pathologische falsch sind, ist der Umstand, daß sich der Leib des Gottes, der Traumleib — das waren sie alle, die alten Götter: Traumleiber — zerstückeln ließ und brechen und doch ganz blieb, daß er lebte, wie die abgebrochenen Zweige von Bäumen oder Sträuchern Wurzeln treiben. Was alles nur möglich ist, wenn das Ich oder solange es fehlt, denn der Traumleib ist ohne Ich und somit ohne Gegensatz. Nur weil der Gott als solcher ohne Gegensatz ist, ist er Leib und kann sein Leib zerstückelt, zerrissen oder gebrochen werden und bleibt doch ganz. Erst wo Gott Geist ist, entsteht der Gegensatz. Wie immer wir diesen nennen. Dionysos hatte keinen Gegensatz, also durfte er zerstückelt und durften die Stücke in alle Länder der Erde getragen werden.
In Parenthese: man müßte einmal von da aus die Askese betrachten. Auch der Asket streicht den Unterschied von Welt und Natur, damit beginnt er gleichsam sein Werk, sein Tun und Nichttun. Und dann geht er daran: den Gegensatz aufzuheben, das Ich mit dem Ich, das Sein mit dem Denken, und sich den Traumleib zu schaffen,

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die Vergottung. Rousseau war kein Asket. Die Idee der Askese war in keinem Augenblick in ihm aufgetaucht, fand keinen Raum in seiner Welt. Wo Askese ist, dort sind noch magische, magisch-mythische Vorstellungen vorhanden. Ich wage zu sagen, daß der magische Mensch seine ganze mögliche Pathologie in der Askese hat. Rousseau, der überaus, der bis zur Feigheit sensible, der vertrauensselig-mißtrauische, der wahrhaftige und zugleich immer etwas verlogene, der Mann mit dem entblößten Ich, ist zugleich der erste ganz unmagische und ebenso unasketische Mensch, der erste mit einer berühmten Pathologie, der erste Mensch, der die Distanz braucht, die Perspektive, um seiner selbst gewiß und habhaft zu werden. Der magische Mensch kennt weder Distanz noch Perspektive, sein Ich kommt nur latent vor. Wie das Radium in der Pechblende. Und weil er weder Distanz noch Perspektive hat oder braucht, so ist Natur noch Welt und Welt Natur. War darum nicht, wiederhole ich, die Natur im Mittelalter, in dessen Dichtung, magisch und hatten die einzelnen Dinge darin, Tiere, Blumen, Bäume, nicht die Form des Emblematischen wie auf Wappenschildern?
Mir hat als Kind und später der Begriff Natur, beinahe hätte ich gesagt: das Wort, so gefehlt, wie er nur einem Landkind fehlen kann. Ausdrücke wie Naturfreund oder Fragen der Gebildeten, der Städter: Liebst du die Natur? hatten schon das Kind, sooft sie an dessen Ohr drangen, verlegen gemacht. So nahe war ich ihr, so umhüllt und berührt war ich davon, und so sehr waren Welt und Natur für das Kind und später eines. Ich habe auch niemals den Gegensatz von Natur und Bildung so ohne weiteres hingenommen und dem sogenannten Pantheismus gegenüber mich eines gewissen feindseligen Ge-

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fühles nie ganz erwehren können. Es stak für mich darin mehr als Unwahrhaftigkeit und Phrase oder Großtuerei: Ungenauigkeit. Keiner von den gerühmten Pantheisten war es wirklich, Spinoza am allerwenigsten. Pantheismus schien mir Ausrede, Poesie, Poesie als Ausrede, eine Metapher von nichts. Ich gestehe, daß ich mich niemals so entschieden als Katholiken fühlte wie bei solchen Gelegenheiten, da wieder einmal einer sich in den Pantheismus retten zu müssen meinte, und ich fand es als Junge ganz herrlich, nein, mehr als herrlich: natürlich, daß nach der Beichte und Kommunion das Dorf, die Felder, der Garten mir in neuem Glanz erstrahlten.
Denke ich das, was ich jetzt niederschreiben werde, nicht so, wie wenn es erst gestern gewesen wäre, und ist doch mehr als ein halbes Jahrhundert seitdem vergangen? Das Melker Stift und das damit verbundene Gymnasium wurden für viele Wochen wegen einer Scharlach- und Masernepidemie, die unter den Schülern ausgebrochen war, geschlossen, meine Brüder, so viele immer dort schon untergebracht waren, kamen also zu sehr ungewohnter Zeit nach Hause, es war im Februar, und die Erinnerung an die Weihnachtsferien war in aller Köpfen und Herzen noch frisch geblieben. Sie kamen in der Nacht an, wurden zuerst im Meierhof in einer eigens dazu gezimmerten Holzbude ausgeräuchert, und so begannen wieder einmal Ferien, Ferien, ich wiederhole, in einem Monat, darin es solche bisher noch niemals gegeben hatte, und rissen auch uns Jüngere mit, die zu Hause die Schule hatten. Doch dauerte das neue, das erhöhte Leben nicht lange, die Ausräucherung in der Holzbude im Meierhof war offenbar ungenügend, wahrscheinlich sogar unsinnig gewesen, denn einer nach dem anderen von den Brüdern mußte ins Bett wandern, zu-

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erst kamen die älteren daran, welche den Krankheitskeim in sich getragen und mitgebracht hatten, dann die jüngeren, die von ihnen angesteckt worden waren. Es gab ungefähr alles im Haus: Masern, Mumps, Scharlach, und meine jüngere Schwester hatte sogar Diphtheritis und war dem Tode nahe. Ich selbst legte mich als letzter, hatte aber nur Fieber, lag drei Tage lang wie in einem Backofen und dann war alles vorbei. Ich höre noch die erstaunte Rede unseres Doktors darüber, daß er sich das hohe Fieber gar nicht erklären könne, da irgendwelche katarrhalische Erscheinungen, Entzündungen, Beläge wie bei den anderen nicht vorlägen, und ich weiß noch, wie ich, da ich ihn so reden hörte, eine Weile im unklaren darüber blieb, ob ein solcher Ausnahmezustand einer Auszeichnung gleichkomme oder nicht. Ich war also sehr bald für gesund erklärt, als erster, und zwar für geraume Zeit; da Fräulein Bache pflegen mußte von Bett zu Bett, gab es keine Schule, ich war ganz mir selbst überlassen und konnte von früh bis abend machen, was ich wollte. Es war also eines Nachmittags so gegen Ende Februar nach der Vesper: Über die Ebene und die sanft ansteigenden Hügel hinan im Osten war eine dünne Decke Schnees ausgebreitet, in der Ferne eine Kapelle zu sehen, weiter ein Kreuz mit einem winterlich dürren Akazienbaum daneben, über die Felder weit zerstreut lagen Hütten aus totem Gezweig als Futterstätten für die Hasen und Rebhühner. Ein sehr gutes, ein Raubvogelauge konnte wohl hin und wieder kleine schwarze Punkte auf der weißen Fläche sehen, die sich zur Hütte bewegten. Auf den Weiden und Pappeln der beiden großen Teiche, die an den Garten grenzten, krächzten Krähen, und von Zeit zu Zeit flogen welche von ihnen auf, so daß es aussah, als tauschten sie die Plätze. Knarrend fuhr über die

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hartgefrorene Straße ein Ochsenwagen oder eine Pferdefuhre am Garten entlang zum Meierhof. Vom Eis der Teiche, zu denen der Garten abstieg, erklang die Axt, und dazwischen war das Schieben von Eisstücken über die spiegelnde Fläche zu hören, sonst kein Ton, keine Menschenstimme, auch nicht vom Dorf her, das abseits von unserem Haus lag. Über dem ganzen Himmel lag eine sehr dünne Wolkendecke, die Sonne war davon wohl verhüllt, doch ihr Licht, die Kraft desselben war zu spüren, lag, wenn auch noch verheimlicht, über allem Land, lag auf den Mauern des Hauses, den Ställen, im Gezweig des Haselnußstrauches neben mir, der schon über und über mit gelblichgrünen Kätzchen behangen war. Es war eine Ungeduld in allem und zugleich unendliche Geborgenheit. So fühlte ich es, und diesem Gefühl konnte ich mich ganz hingeben, wußte ich doch mit meinen sieben Jahren nichts davon, daß die Strahlen der Sonne jetzt von Tag zu Tag kräftiger scheinen und daß ihr Glanz über allem, daß die Ungeduld und Geborgenheit in allem, was das Kind jetzt umgab, nichts anderes verkünde als eben diese wachsende Kraft und Erneuerung. Meine Astronomie war, daß die Sonne des Morgens ins Kinderzimmer schien, Kinderaugen blendend, und daß sie hinter dem großen Kuhstall untergehe dort, wo der Milchwagen auf dem Wege zur Eisenbahnstation nachmittags am Horizont verschwindet. Ich gehe also nach der Vesper allein im Garten einen Weg herab, von dem der Schnee zu schrumpfen begann, den Kiesel darunter bloßlegend. Er führt sanft absteigend an einem der beiden kleinen, von mir überaus geliebten Weingärtlein vorbei, in deren Mitte je ein Mandelbaum stand, und ich komme an eine entlegene Stelle am Zaun, wo offenbar erst heute morgen der Gärtner einen Baum gefällt hat.

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Der Stamm lag im Schnee, welcher zertreten und mit frischer brauner Erde vermischt war, er lag da in Stücke zersägt, die Schnittflächen waren gegen den Rand und Bast zu gelblichrot und leuchteten im noch verheimlichten Licht. Und das, was da leuchtete, war wie das Fleisch des Baumes, im drängenden Saft des Frühjahres aufgerissen und bloßgelegt, und es war so, wie wenn sich das verborgene Wachstum, das vom Winter erstickte Leben, wie wenn sich die Jugend, das, was kommt und in uns drängt, hier aufgetan, enthüllt hätte, und zwar um des Glanzes und der Ungeduld willen, die draußen ausgebreitet lag auf allem und die Welt in dieser Stunde ganz erfüllte. Das war kein Wundsein, kein vorzeitiger Tod und Abschluß, kein Verzicht, sondern Offenheit, Ungeduld, Teilnahme. Ich wußte natürlich nicht und es ist auch gleichgültig, was für ein Baum es wäre, es dürfte wohl ein Essigbaum gewesen sein, deren es eine Menge im Garten gab; es war der Baum des Lebens, es war der Leib, der geöffnete, aufgeschlitzte, eines Baumes, was dalag und mit einem alles hergab; die Zerstückelung war Geburt, war wie die Zerstückelung eines mythischen Gottes. Worte können ganz gewiß nicht ausdrücken, was das Kind, das staunend stehen blieb, alles empfand, Worte fehlen ganz und gar, es herrschte in der Seele auch nicht das allergeringste Bemühen darum, um Worte, doch muß das Empfinden im Kinde sehr stark gewesen sein, da es standhielt und wie unter einer Decke weiterwuchs so lange, bis es nach mehr als einem halben Jahrhundert aufbrach im Bild, darin sich die Einheit offenbart des zerstückelten Baumstammes mit der mythischen Zerteilung göttlicher Traumleiber.
Was war jetzt und in ähnlichen Augenblicken Natur, Welt, Ich? Alles war und stak ineinander, und nichts ist

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zu trennen oder zu zerreißen. Die Zerteilung des Gottleibes war doch auch nur der kindlichste, der frühste Ausdruck für die Unteilbarkeit eines allseits bewegten Ganzen, nichts anderes war es. Alles gehörte doch für das Kind zueinander und bildete ein Ganzes: das Entengeschnatter im Hof und die aufgehende Sonne, die gleich über dem Dach des Pferdestalles und der Remise stehen wird, das Eis im Bach, aus dem das rotbraune glänzende Weidengesträuch ragt, ein lehmiger, trockener Hohlweg zwischen Feldern und Weinbergen, oben am Rand der sehr blaue Natternkopf, die rosige Hauhechel, Thymian, Feldsalbei und wohl seltener das Steppenröschen, das, im Blatt dem Klee gleichend, weiße Rosenblüten trägt, daraus sich winzige schwarze Rosenfrüchte bilden, die frischgeackerte dunkle weiche Erde voll Geruch an warmen Märzabenden, die langsam in die Nacht übergehen, die erste grüne Saat mit dem Wind darüber, der ganz nahe am Boden streift und den Duft der Erde mitreißt. Dort, wo ich geboren war und aufwuchs, ging alles von der Erde aus, im Juni zu Beginn hatte diese sich in ein grünes Meer verwandelt mit dem leichten Wiegen der Wellen großer Saatflächen, die am Horizont sich in sanftem Anstieg zu Hügeln aufbogen. Meine Sinne bezogen alles auf die Erde und deren Kräfte. Ich konnte mein Kindergesicht in die Erde bohren, und nach einem der in jenen Landstrichen so seltenen Gewitter lief ich hinaus, um die Erde zu riechen und mir im nassen Gezweig von Flieder und Goldregen das Gesicht zu baden.
Magisch, magisch-mythisch heißt auch, daß alles dazugehört: auch das Wunde und der daraus entstehende dauernde Schmerz. Das magische Leben ist stumm, weil es nichts abzieht, und es ist ganz und dicht, weil die Begriffe fehlen oder noch die Haut des Lebens zu bilden

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haben. Ich meine, daß nur darum die göttlichen Traumleiber zerstückelt werden und in der Zerstückelung ganz bleiben konnten, weil es noch keine Begriffe oder Ideen von den Dingen gab und die Zahl dem Dinge einverleibt schien. Ist diese Zerstückelung nicht der eigentliche, der heroische Ausdruck dafür, daß es noch nichts gibt, was den Schein vom Wesen zu scheiden, abzuteilen vermöchte?
Trennung, Scheidung und was daraus für uns erfolgt, empfand ich, als der erste Mensch in meinem Leben starb, empfand ich mit dem ersten Toten. Wie im Banne lebend der großen Zahl von Menschen, die am Mittagstisch meines Vaters saßen, die Zahl gleichsam heiligend, bewahrte ich als Kind recht lang in meiner Kinderseele das Gefühl, welches sich nicht anders als so ausdrücken läßt: Alle Menschen müssen und werden sterben, nur wir müssen und werden nicht sterben. Dieses Gefühl war in mir da, genau so wie ich es jetzt ausdrücke, und meldete sich jedesmal mit Heftigkeit, sooft der Tod aufkam in der Menschenrede um mich herum. Es war, wie gesagt, da um der großen, um der in ihrer Größe und durch sie schönen Zahl willen derer am Tisch oder im Haus des Vaters. Alle Menschen müssen sterben; Caius ist ein Mensch, also muß Caius sterben: dieser Satz aus der Logik des mündig gewordenen, des vernünftigen Menschen galt noch nicht, dafür aber jener andere, unter oder jenseits der Vernunft, gleichsam unter der Haut lebende, daß alle Menschen sterben müssen, nur wir nicht am Tisch und im Haus des Vaters. Ein Satz ganz und gar aus der Logik der Kindheit des Menschentums, da es noch keinen sublimeren Ausdruck gab für die Ganzheit als die Zerstückelung.
Als nun der erste Mensch meines Lebens starb, ein

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Vaterbruder, der mich verwöhnt hatte, so daß es so aussehen mußte, als zöge er mich den anderen vor, da war es doch gleich so, als überstiege, als überträfe hier der Tod den Menschen, als wäre er mehr als der Mensch, wie heftig dieser auch geliebt worden und wie einzig er mir und allen erschienen war. Dieser einzige und sehr geliebte Mensch war im Tod, war durch ihn mit einem Male nicht verwandelt, aber zu dem großen schweren Körper geworden, wie er morgens im braun möblierten Gastzimmer beim Waschen mit entblößter Brust, wie immer hinzugefügt wurde, der Länge nach auf den Boden hingefallen war und tot aufgefunden wurde, da er am Frühstückstisch nicht pünktlich erschienen und auf das Klopfen an der Gastzimmertür keine Antwort erfolgt war. Zu dem oder zum Bilde davon war er jetzt in der Seele des Kindes geworden, und daneben dann, richtiger: darüber stand der Tod, größer als er, alles beschattend, übermächtig, herrschend, im Kinderherzen die Angst, die ziel- und sinnlose, unbegreifliche, aufjagend und nährend, woraus dann später im Knaben, im Jüngling jenes Schuldgefühl erwachsen würde, das von nun an der Tod eines nahen Menschen, das der Tod überhaupt aufregen sollte. Gehört dieses Schuldgefühl des Unschuldigen nicht zur Bestimmung dessen dazu, was ich hier den magisch-mythischen Menschen nenne? Lebt diese Bestimmung durch den scheinbaren Widerspruch nicht in der Einbildungskraft des Menschen, soweit er schöpferisch auftritt, fort? Und geht aus diesem Widerspruch nicht die Idee des Opfers als des Anfangs hervor?
Ich habe einmal die drei Reiche unterschieden: des Vaters, des Sohnes und des Menschen, wie es bei mir, des Geistes, wie es bei anderen heißt, sooft sie darauf kommen. Als ich an jenem späten Februartag nach dem Ves-

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perbrot vor dem in schöne, gleichmäßige Klötze zersägten Baumstamm stand, staunend, unbegreifend, war ich im Reich des Vaters. Als der Tod des ersten Menschen in meinem Leben diesen gewaltig überstieg, stand ich im Reich des Sohnes, wobei es nichts ausmacht, daß ich um weniges, um zwei Jahre, jünger war im Reich des Sohnes, denn der Sohn ist ebenso vor dem Vater wie der Vater vor dem Sohn, da beide durch die Ewigkeit miteinander verbunden sind und nicht durch die Zeit. Diese beginnt mit dem Menschen oder im Reich des Geistes oder der Ideen. Worüber folgendes noch gesagt werden muß:
Als ich nach Absolvierung des Gymnasiums die Universität in Wien bezog, um mich dort in der philosophischen Fakultät inskribieren zu lassen, hatte ich das eine sehr deutliche Gefühl, die Männer, zu deren Füßen ich jetzt sitzen, wie der Ausdruck lautete, und deren Herrschaft ich mich im Geiste unterwerfen würde, das wären alles große Menschen, wahrhaftig Verkörperungen des Geistes, als solche müßten sie ein großes und zugleich geheimnisvolles Leben leben ohne andere Wünsche und Regungen als eben jene des Geistes. Dazu werde ich mich von jetzt an bis auf weiteres zu stellen haben: zu dieser offenbaren, unzweifelhaften Einheit von Mensch und Geist, Mensch und Rede. Ich dachte nicht einmal gerne daran, daß sie auch essen, vielleicht mit Lust und viel essen würden, wie ich auch als drei- oder vierjähriges Kind die Meinung in mir hegte, nur Kinder und nicht auch Erwachsene müßten schlafen gehen. Nichts bezeichnet den Jüngling so sehr, wie daß seine Vorstellungen sich unvermittelt in Forderungen umsetzen, ja solche vom Beginn an auf versteckte Weise auch sind. Vorstellung und Forderung waren also: Einheit, Einheit

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von Mensch und Rede und nichts daneben. Heute weiß ich sehr genau, wie diese Vorstellung und Forderung zusammengebracht werden müsse mit jenem Gefühl, welches der erste Tote meines Lebens im Kinde erregt hatte. Damals fielen — ach! wie unendlich ferne noch von den Bezirken des Bewußten — Mensch und Bild, Mensch und Idee, Mensch und Maß auseinander, jetzt erst sollte das, was auseinandergerissen, auseinandergegangen war, wieder zusammenkommen im Menschen oder in dessen Idee, vielmehr in der völligen Einheit beider.
Ich erinnere mich des sonnigen heißen Oktobertages sehr genau, als uns beide, einen um zwei Jahre älteren Bruder, im dritten Jahre des Medizinstudiums stehend, und mich der Personenzug, von Brünn kommend und uns in Saitz schon nahe an der Grenze gegen Niederösterreich zu aufklaubend, durch das Marchfeld mit den vielen rotgelben Kürbissen in Maisfeldern nach Wien brachte. Es ging also auf die Universität, damit war es ernst geworden. Mein Bruder erwartete viel weder von sich noch von seinen Geschwistern. So war nun einmal seine Anlage. Irgendwie bedeutend oder auch nur bemerkenswert konnte seiner Meinung nach nur sein, was sich außerhalb dieser Familie zutrug oder hervorzutun suchte. Er war ebensosehr ein Liebhaber guten Essens wie schöner Sätze, rhetorischer Kunststücke, gewählter Redewendungen, auch anerkannter Weltläufigkeit, was alles einzeln oder zusammen durchaus nur bei Fremden, bei den anderen Leuten, eben außerhalb der Familie zu finden und zu beobachten wäre. Wir waren allein in einem Halbcoupé, es gab zwischen uns nicht mehr viel zu verhandeln, Warnungen vor möglichen Gefahren der Großstadt waren schon oft wiederholt worden. Ich glaube nicht, daß Eroberergefühle irgendwelcher Art meine

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Seele erfüllten oder ich auch nur das Allergeringste von irgendwoher für mich weiter erwartete. Wir schwiegen also, durften endlich schweigen und konnten uns mit um so größerer Aufmerksamkeit, jeder aus seiner besonderen Einstellung heraus, einem Zwiegespräch zweier Männerstimmen im Nebencoupé hingeben, einer offenbar älteren, satten und einer jüngeren, etwas unreifen, des Maßes oder der Gemessenheit noch entbehrenden. Um es gleich zu sagen: es war kein gewöhnliches Gespräch gewöhnlicher Leute über Einkäufe oder kommenden Theaterbesuch in der Hauptstadt des Reiches, es ging hoch her nebenan, und es wurde in gewählter Sprache, wenn auch nicht ganz ohne die Betonung der Menschen aus Brünn, nichts Geringeres verhandelt als die Französische Revolution. Es fielen da Worte und tönten an mein und meines Bruders Ohr wie Legislative, Konstituante, der Berg und so weiter, von welchen man bisher gemeint hatte, sie würden ihre Wichtigkeit bis zur Matura bewahren und könnten dann ohne weiteren Schaden vergessen werden. Von Robespierre, Danton und Mirabeau wurde nicht anders geredet, als wäre man ihnen schon einmal begegnet, im Krapfenwäldchen, oder als wären sie aus einem Kaffeehaus geschritten, in Brünn, und hätten sich an einem die Schulter gerieben.
Auffallend und meinen Bruder noch mehr vielleicht als mich selber beeindruckend waren Vergleiche des Vergangenen, der Geschichte Angehörigen und des aus Geschichtsbüchern, die man natürlich kannte, zu Lernenden mit der gegenwärtigen, vom Zeitunglesen her geläufigen Politik der Parteien. Sozialismus erschien den beiden Rednern nichts Böses, sondern etwas ernster Erörterung durchaus Würdiges, ja es war vielleicht zu fühlen, wie der ältere von beiden sich darauf etwas zugute hielt, daß

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er hier nicht schimpfte wie sonst ein Bürger, der zweiter oder erster Klasse von Brünn nach Wien fuhr, sondern Kenntnis und Sachlichkeit walten ließ, wozu ihm seine Vertrautheit mit der Französischen Revolution eben verhelfen konnte und sollte. Da wir uns Wien näherten, kurz vor Floridsdorf, war man richtig bei Napoleon angelangt. Auch zu diesem großen Gegenstand hatte man offensichtlich Pathos nicht nötig, ja es konnte einem wie ein wohlerwogener Trick erscheinen, womit man aufeinander wirken wollte, daß man sich hier durchaus an die Gegebenheiten hielt, Sachlichkeit übertrieb, weder Aspern noch Wagram, wo der Zug eben noch zwei Minuten lang gehalten hatte, eine besondere Bedeutung zuschrieb, daß keine von beiden Schlachten im geringsten als Unterlage für patriotische Aufwallungen nach oben oder unten, je nach Sieg oder Niederlage, benutzt wurde, wie das wohl bisher in schriftlichen Aufsätzen, die zu klassifizieren waren vom Deutschprofessor, geschehen war. Alle Spur von so etwas war ganz verschwunden, weg, weg. Mein Bruder hörte sehr gespannt zu und öffnete, als der Zug über die Donaubrücke fuhr und das Rasseln der sich hebenden und senkenden Eisenbögen Rede erstickte, leise die Tür zum Nebenabteil, um zu sehen, wie sie denn aussähen, diese beiden Fremden, Unübertrefflichen und ganz und gar der Bewunderung, der Anerkennung und des Staunens Würdigen, und sagte dann, nachdem er die Tür ebenso leise geschlossen: „Einer von ihnen ist noch ganz jung, so jung wie du. Bis du einmal so wirst reden können! Doch das wird wohl nie sein.“

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D i e   L e g e n d e   v o n   d e n   B r ü d e r n

Wir waren zehn. Acht und zwei. Acht Brüder, heißt das, und zwei Schwestern. Die ältere von diesen oben in der ersten Hälfte der Zehn, die jüngere ganz unten. Von der Reihe der Zehn aus angesehen, waren beide nur eine Unterbrechung innerhalb derselben. Ich sage: von der Reihe aus, ohne Rücksicht also auf persönliche Wertschätzung, Brauchbarkeit, Köstlichkeit und ähnliches. Das Wort Persönlichkeit und was mit diesem Begriff zusammengefaßt werden könnte, kam nicht vor, denn statt Persönlichkeit stand in allen Lagen und ein für allemal der Vater. Um eben der Zehn oder um der Einheit der Zehn willen.
Zehn hieß, wie gesagt, soviel wie acht und zwei. Niemals also sieben und drei oder sechs und vier oder fünf und fünf. Letzteres schon deshalb nicht, weil dabei Zwillinge durchschnitten worden wären. Auch wurde nie acht gesagt, sondern immer, auch wenn dabei nur der Brüder gedacht wurde, zehn, was dann eben soviel wie acht hieß. Vornehmlich in pathetischen Augenblikken, in solchen der Klage und Bekümmernis. Auch ist man nie in Gedanken über die Zehn hinausgegangen, und nie ist die Möglichkeit einer höheren Zahl in Erwägung gezogen worden. Es würde nicht einmal gelacht worden sein, wenn einer elf oder gar zwölf gesagt hätte. Nein, die Zehn war gegeben, wie die zweimal fünf Finger, Zehen oder Krallen der Hände, Füße oder Pfoten, wie das Siebengestirn oder wie Zenit und Nadir.
Kain und Abel, Isaak und Ismael, Jakob und Esau, Romulus und Remus, Prometheus und Epimetheus waren zwei, die Brüder Karamasow drei, der Menschgott Herakles war einer. In der Zwei liegt Kampf, Spannung,

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Liebe, Gut und Böse, Ordnung und Unordnung, Bedachtsamkeit und das Gegenteil davon; in der Drei die Lösung der Spannung durch den Geist, durch das neue Reich, die neue Unschuld, durch die Wiederkehr. Was aber ist so eins wie das, was zwei verbindet: Himmel und Erde, Gott- und Menschtum, was so eins wie der Bogen oder die Brücke oder der Weg! So war Herakles Bogen und Brücke und Weg vom Menschlichen zum Göttlichen. Er war so eins und so ein einziger, daß er der Kinder, ihm von Erdenfrauen geboren, daß er deren Zahl und Zahllosigkeit nicht achtete. Achilles war einer oder ein einziger, so Siegfried und manch anderer.
Der nichtigste Mensch der Iliade, dessen Nichtigkeit noch durch die Anmaßung größer wurde, wenn das, was nichts ist, überhaupt vermehrt werden kann, Dolon, der Spion mit der Ottermütze, war allerdings auch nur einer, aber man gab ihm dafür fünf Schwestern. Womit man der Eins die Spitze und Kraft nahm oder wodurch die Eins eben nur Zahl ward, und zwar die kleinste und unterste von allen, und aufhörte, Einheit, Maß, Weg, Brücke und Bogen zu bedeuten.
Jakob hatte von seinen beiden Frauen und deren zwei Mägden, Bilhah und Zilpah, zusammen zwölf Söhne um der zwölf Stämme willen, die daraus zu erwachsen hatten. Dinah, die Tochter aus Lea, wird nicht mitgezählt, so daß nie davon oder von dreizehn Kindern statt von zwölf Söhnen die Rede ist.
Niobe, die Tochter des Tantalos, hatte sieben Söhne und sieben Töchter, die sieben Söhne als Opfer für Apollo, die sieben Töchter als Opfer für Artemis, die Zwillingsschwester.
Dschingis Chan besaß eine ganze Leibwache, aus Söhnen bestehend, deren es vielleicht viele Hunderte gegeben

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hat. Es ist etwas Wunderbares darum: aus jeder Umarmung mit einer der vielen Frauen ein Kind, einen Sohn zu erhalten, bis daraus ein ganzer Palast voll von Söhnen oder eine Leibwache, ein Regiment, eine Burg oder Stadt geworden wäre. Gleicht der Mensch hier nicht dem Strom, der aus vielen Quellen, Bächen und Nebenflüssen anschwillt, und ist er nicht dessen Umkehrung und Spiegel? Und wie die Quelle nicht gegen den Strom und der Strom nicht gegen die Quelle sein kann, so ist der Vater nicht gegen den Sohn oder der Sohn nicht gegen den Vater.
Dschingis Chan wollte auch hierin Gott gleichen, denn in Gott ist der Same Zahl, und aus Gottes Zahlen vermöchten, so Gott sie mit eigener Hand zu säen begänne, Dinge zu wachsen, der Art, daß, wenn Gott irgendeine Zahl, sagen wir: sieben, im Schoß der Erde bergen wollte, daraus dann sieben Bäume oder Gräser aufgehen müßten oder   e i n   Baum oder   e i n   Grashalm oder auch sieben Menschen, Riesen oder Zwerge, und sieben Löwen und sieben Hasen oder nur   e i n   Mensch, Riese oder Zwerg, oder   e i n   Löwe und   e i n   Hase.
So viel über den Sinn und die Bedeutung der Kinderzahl im allgemeinen, an berühmten Beispielen aus dem Mythos und der Geschichte dargetan. Ich bin der Meinung, daß mein Hang, mir heimlich eine eigene Zahlensymbolik zurechtzulegen oder zum mindesten so zu tun, als wollte ich in gewissen Fällen meine Entschließungen danach richten, in dieser Zehn der Geschwister- oder Brüderschaft wurzle und Ausdruck meiner Gebundenheit daran sei.
Die Zehn kam also vom Vater oder richtete sich nach dem Vater oder würde ohne den Vater keine Einheit gebildet haben. Es darf auch so gefaßt werden, daß der Va-

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ter die Handlung, das Schicksal und Drama der Zehn war. Die Mutter ist der Zahl gegenüber der erleidende Teil gewesen, weshalb der Kinder für sie auch an Zahl mehr oder weniger hätten sein können und sie alle, weil als einzelne aus ihrem Leibe geboren, als solche auch in ihrem Herzen weiterlebten. Vielleicht machte sie, wenn ich genau sein will oder darf, bei den Zwillingen einen unterschied zwischen dem einen und dem anderen, so daß es so aussieht, als ob sie sich hier wenigstens einmal von der Zahl bestimmen ließ. Für den Vater aber waren wir zehn und jeder einzelne immer auch einer von den zehn. Um der Ordnung und um des Gesetzes willen.
Ganz von außen gesehen ist Zehn gewiß auch lächerlich oder kann es sein, und ebenso gewiß hat es immer Menschen gegeben, ungereifte, die gelacht haben oder lachen mußten, wenn es hieß, daß wir zehn wären oder daß irgendeiner von uns einer von zehn sei (ohne sonst irgend etwas Bemerkbares oder Bedeutsames an sich). Ich will und darf keineswegs auch diese Betrachtungsweise von seiten eines gänzlich Draußenstehenden und Nicht-dazu-Gehörigen oder in jedem Sinne, um das Wort zu wiederholen, Ungereiften verschweigen.
Es hatte ursprünglich meinerseits der Plan bestanden, von einem von den zehn zu reden, und zwar von dem mir zeitlich und in der Reihe zunächst liegenden. Da aber ausgemacht bleibt, daß ein jeder von uns ohne Unterschied der Person einer von zehn sei, so ist dieser Plan fallen gelassen worden, und ich bin gezwungen, vorher von den anderen zu reden und mit wenig Worten auszusprechen, wie ein jeder von ihnen war: in bezug auf sich selber sowohl als auch in bezug auf die Reihe der zehn.
Da war oder ist also zunächst der Älteste. Mit dem Metermaß gemessen der Größte oder Längste, was niemals über-

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rascht hat. Eine Zeit lang wenigstens galt er auch, was die Kraft der Armmuskeln anbelangt, für den Stärksten, war es vielleicht auch, obwohl ein strenger Beweis dafür nicht zu erbringen ist. Entscheidend für seine Art war die Nähe zum Vater sowohl als auch der Abstand zwischen ihm und den anderen bis hinunter zum Jüngsten. Ich lasse das Verhältnis zum Vater, als an dieser Stelle, wo es um die zehn geht, nicht zu erörternd, beiseite und erkläre nur, daß der Abstand sich zwischen ihm, dem Ältesten, und uns ganz von selbst, man ist geneigt zu sagen: auf eine natürliche Weise, gebildet habe und einfach da war wie etwa beim Zählen nach eins die ganz kurze Pause. Zwischen sieben und acht ist nämlich keine, ebensowenig zwischen drei und vier, wohl aber besteht oder bildet sich eine solche merkbar oder unmerklich zwischen eins und zwei. Nach zwei geht es dann ein wenig schneller und gleichmäßiger. Auf gar keinen Fall darf der Grund zu dieser Pause oder diesem Abstand in einer Anmaßung welcher Art immer von seiten eben des Ältesten gesucht werden. Nein, Anmaßung war ganz und gar nicht vorhanden, statt deren aber Verlegenheit, und zwar in reichlichem Maße. Es war direkt so, wie wenn der Rang ganz oben diese Verlegenheit ausgeatmet oder ausgepustet hätte oder als ob der Träger dieses hohen Ranges (innerhalb der Reihe von zehn) mit Verlegenheit bis zum Bersten angefüllt gewesen wäre wie eine Aprilwolke, deren flüchtiger Schatten über die heiter-grüne Weizensaat hinwegzieht, mit Regen.
Der zweite war unverlegen, strahlend, ein großer Liebhaber und Schuldenmacher, der einzige, dessen Blick dem Auge des Vaters standzuhalten, ja es zu bezwingen vermocht hat. So stark war das Leuchten daraus und so gewinnend die Unverlegenheit. Wenn wir den Menschen

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mit einer Frucht vergleichen dürfen: er schien ausgereifter in den Zügen des Gesichtes als die anderen, gelöster, freier, weniger flaumig. Das war mir schon als Kind bei ihm aufgefallen: dieser Mangel an flaumigem Haar auf Stirn, Schläfen und im Nacken. Seine einzige Hinterlassenschaft, ein ganz ausführliches und umständliches Schuldenverzeichnis, war genau so sauber und peinlich verfaßt und ausgeführt wie jenes Buch des Vaters, worin in schöner, bis ins hohe Alter sich gleichbleibender Handschrift alle Ziffern, Zahlen und Summen standen, einfach oder doppelt oder gar nicht unterstrichen, die ihn die Söhne von ihrer Geburt an bis zu ihrem und seinem Tode gekostet hatten. Dieser zweite also war ein großer Spieler bis ans Ende und in seiner Freiheit und Unbefangenheit der einzige von uns, der nicht daran glaubte oder doch bald den Glauben daran aufgab oder sich davon losmachte, daß wir zehn sein müßten, daß die Zehn unvermeidlich wie ein Naturgesetz gewesen sei und nicht einige wenige in jedem Betracht vollauf genügt haben würden. Einmal auf meine Frage hin, ob er im Geiste es sich vorstellen könnte oder je den Gedanken erwogen oder zugelassen habe, daß er einmal im Leben nicht Schulden machen und mit einer gegebenen Summe sein Auskommen finden möchte, meinte er, es wäre besser für uns alle, wenn statt zehn nur zwei oder etwa noch drei da wären. Da ich, der siebente von oben und vierte von unten, ihn dabei ein wenig betroffen, vielleicht auch erschrocken und besorgt ansah und fragend wiederholte: für uns alle? erwiderte er: Du würdest es doch nicht spüren, da du dann ja gar nicht auf die Welt gekommen wärest.
Es würde sicherlich zwischen diesem Glücklichen oder um mindesten Unverlegenen und dem Ältesten, der,

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wie gesagt, stark und verlegen war, zu jener in der Geschichte und Legende üblichen und gewissermaßen naturgegebenen Rivalität der zwei wie zwischen Esau und Jakob oder Romulus und Remus gekommen sein, da alle Gegebenheiten dazu vorhanden schienen, wenn nicht die acht darauf zu folgen vom Schicksal oder sonstwie bestimmt gewesen wären oder besser: wenn nicht der dritte da gewesen wäre. (Im Geiste der dritte: so aber die ältere Schwester, die vor ihm in der Reihe stand, einbezogen wird, der vierte. Ach wie war er nicht der dritte! Er war es viel mehr, mit mehr Entschiedenheit, als ich etwa der siebente oder der dickste von allen der fünfte war.)
Er war in der Jugend, so ungefähr mit achtzehn Jahren, schön, war herrlich gewachsen, hatte wundervolle, schmale, befreite Hände, goldblondes, honigfarbenes Haar in welligen Strähnen gescheitelt und einen leichten, federnden Gang. Ich glaube nicht, daß ich später im Leben je einem schöneren Jüngling begegnet bin. Doch er war zerrissen, mit sich selbst zerfallen, ohne Maß. Er war kein Lügner, aber Wahrheit und Unwahrheit wußte er von früh an nie ganz zu trennen, oder beide liefen ineinander über, als ob es da keine Grenze gäbe oder geben könnte, und er haßte das Geld, das er darum ganz sinnlos und ohne Genuß von den Dingen, welche dafür einzutauschen gewesen wären, wegwarf. So ist dieses schöne und auch sonst begabte Wesen da gewesen in Zerfall und Unordnung und war daraus nicht zu befreien, sooft es auch versucht wurde. Als Junge oder Halbwüchsiger war sein Streben gewesen, uns Jüngere gegen die beiden Älteren zu führen und auf diese Weise über uns die Herrschaft auszuüben, wonach seine Seele lechzte. Wenn wir zusammen gingen, ging er immer führend an der

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Spitze, auch war er nie mit den beiden Älteren zu sehen, aber es war trotz allem seinerseits nie zu einer Herrschaft gekommen, weil wir eben wußten oder doch fühlten, daß nichts bei ihm eine Folge haben würde und er hinter der Herrschaft über uns nur den Zerfall mit sich selber verdecken wollte.
Vielleicht war es auch so, daß wir lieber unterdrückt sein als dafür gelten wollten, was ganz gewiß an der Zehn lag und nicht an den einzelnen. So ließ sich der Jüngste, auf dem viel lastete und auf welchen ein großes Gewicht drückte, unter gar keinen Bedingungen den Schutz oder irgendeine Art von Befürwortung seitens der Gouvernante gefallen, die uns zwergig erschien und zeitlebens voll Empörung stak, sooft es nicht um die deutsche Grammatik oder die sogenannte Regeldetri und ähnliche Dinge ging. Nein, das durfte sie nicht wagen: für ihn einspringen oder zwischen ihn und die Älteren treten oder mit einer größeren Portion von der Mehlspeise eine Kränkung oder Schmähung seitens dieser zu heilen versuchen. Von diesem Jüngsten hieß es freilich immer, sooft die Rede der Älteren auf ihn kam, daß er dumm sei, als ob das unbedingt zu ihm gehörte, und daß er eigentlich auch keine Muskeln habe trotz gutem und kräftigem Aussehen. Ersteres ist falsch. Er war nicht dumm, er hatte nur sozusagen keine Begriffe oder Ideen oder Zusammenhänge oder nur die allereinfachsten und plansten und fand darum auch und aus keinem andern letzten Grunde alles, was im Haus oder Garten oder Hof verloren gegangen war. Mir war beides schon sehr früh als in einem gewissen Zusammenhang miteinander befindlich aufgefallen: jener Mangel an Begriffen oder Begrifflichkeit und dieser Spürsinn für Verlorenes oder Verstecktes oder auch dieses Gesicht und Sehen für die puren

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Dinge. Es konnte auch gar nicht anders sein. Zuweilen denke ich so, daß auf ihm als dem Jüngsten und zuunterst Gelegenen eine zu hohe oder zu lange Säule, wenn wir in Gedanken die Reihe in eine Säule, die von oben nach unten reichen müßte, verwandeln, ein zu schweres Gewicht lastete, als daß es dann unten zur Bildung von Begriffen oder Ideen hätte kommen können, zum Erfassen von Zusammenhängen oder wie man das nennen soll, was an sich leicht, ja gewichtlos, ganz zart ist und darum auch eine gewisse Zärte des Lebens und Umgangs voraussetzt. Und wenn ich hier einmal sehr kühn sein und den Versuch wagen darf, ihn zu heroisieren, und zwar aus dem einen Grunde, weil er der Jüngste war und ihn die Liebe des Vaters und der Brüder keinesfalls so eingehüllt hatte, wie einst Benjamin in die Liebe Jakobs, Josephs und der Stiefbrüder eingehüllt war, so möchte ich mich so ausdrücken: Gleichwie sich die Türkise und Rubine, Smaragde und andere edle Steine nur unter dem Drucke der auf ihnen lastenden Erdschichten von ungeheurer Schwere zu bilden vermögen, so sah er, der Jüngste und Unterste, eben nur Dinge, einzelne und durch ihre Einzelheit überraschende, oder gab es für ihn nur solche und fand er sie, wie gesagt, stets, sooft welche im Haus oder Hof oder Garten verloren gegangen waren.
An diesen Jüngsten grenzte, so wir die jüngere von den zwei Schwestern überspringen, der, welcher mir am nächsten war in der Reihe der zehn und an dessen Gitterbett längs der Wand das meine, solange wir Kinder waren, mit der Kopfseite rührte. Vielleicht würde es auch zwischen uns beiden unteren zu einem mehr oder weniger offenbaren Gegensatz gekommen sein, wenn wir beide allein gewesen wären und nicht die Zehn als Reihe,

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Ordnung und Schicksal bestanden und uns aufgenommen hätte. Wir dürfen nicht vergessen, daß in der Tat die Tendenz zu Zweiheiten oder Paaren wie Esau und Jakob, Kain und Abel innerhalb der Reihe bemerkbar, daß sie schließlich naturgegeben war und an dieser oder jener Stelle Anstrengungen machte sich durchzusetzen, daß aber die Reihe, daß die Zehn zuletzt doch immer den Sieg davon trug, so stark war sie, so stark war wohl auch der Vater oder der Same und Ursprung der Reihe.
Im Weltbild der Kindheit, welches in der Seele niemals, auch im hohen Alter nicht ganz auszulöschen ist, wenn eine Kindheit und Jugend von Grund aus Kindheit und Jugend und nichts anderes waren: grenzenlos und unbehindert, wie es die Dinge nur in der Sage sind, ich sage: im Weltbild meiner Kindheit war der Norden oben und der Süden unten, und Westen und Osten waren links und rechts. Darum darf ich also sagen, daß Felix südlich von mir lag, denn ich habe es stets so und nicht anders empfunden. Nördlich lag dann das Zwillingspaar. Der eine davon war geistig zurückgeblieben. Wenn er ging, rieben sich die Schenkel gegeneinander wie die Hinterbeine gewisser Huftiere. Ich erwähne es darum, weil die anderen alle den entschlossenen, ja herrischen und doch auch leichten Gang des Vaters hatten, keiner mehr als der Jüngste mit seinem Blick für Dinge. Jener war bis zur äußersten Grenze selbstlos und ein völlig Dienender. Und nur darum, damit sich die Natur in ihm behaupte und alles nicht gleich verrinne oder auslaufe, kam es zuweilen und immer dann, wenn es niemand erwartete, zu den entsetzlichsten Anfällen von Wut und Jähzorn welche wie Knoten waren im Wesen oder wie die Augen an den Zweigen und Stengeln der Bäume und Gräser.

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Sein Zwillingsbruder war der Vorzugsschüler unter den zehn, ein ausgezeichneter Kopf mit einer starken, in keiner Lebenslage verleugneten Liebe für schöne Diktion, für den Schwung und die Umständlichkeit und das überraschend Indirekte der klassischen Rhetorik und Dichtkunst, soweit diese rhetorisch war und sich der Deklamation nicht entzog, für allerlei Kuriositäten der Sprachbildung und des Sprachgebrauchs, für witzige Redensarten auch aus solchen Sprachen, die er nur schlecht sprach oder im täglichen Leben anwenden konnte, für seltene Vokabeln, Etymologieen und Formeln des gesellschaftlichen Lebens, für entlegene Ausdrücke der französischen Kochkunst, für Menükarten bei Hofdiners oder solchen Festlichkeiten, die in der Zeitung am nächsten Morgen beim Frühstück zu lesen waren, und so weiter. Doch nichts war in seinem Leben so stark gewesen oder so wesenhaft, daß es ihn von einer gänzlichen Hingabe an die sinnlichen Freuden und Genüsse jeder Art abzuhalten vermocht hätte, und er schied gleich einem alten Römer aus der Zeit der Muränenteiche freiwillig mit einem Pistolenschuß aus dem Leben, nachdem er sich von den Gästen des Festmahles, das er selbst im Klub veranstaltet hatte, noch kurz vor deren Aufbruch empfohlen hatte.
Kinder, vor allem Jungen, machen sich anders schmutzig als Erwachsene, als etwa mein Vater, wenn er im Herbst von der Hasenjagd kam, die hohen Stiefeln bis zum Knie mit Klümpchen von Ackererde bespritzt. Ich würde damals etwas dafür gegeben haben, mich so schmutzig machen zu können wie er: genau bis dahin und nicht weiter und dies gründlich und wie einer, der es mit wirklichen Dingen zu tun hat und nicht mit fiktiven, überwältigenden. Jungen werden nämlich vom Schmutz über-

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wältigt, weil sie offenbar die Welt um sich herum noch nicht übersehen, und sie machen sich darum auch dort schmutzig, wo niemand in Gedanken sozusagen hinkommt oder wohin nur ein zur Aufmerksamkeit auf solche Angelegenheiten erzogenes und bestelltes Auge im Nu zu dringen vermag: vorn, rückwärts, an den Knieen, in den Falten und an allen nur erdenklichen, immer feindlichen Stellen des Verrates, der Tücke und Überraschung.
Eine Ausnahme bildete Hermann, der Sohn des Inspektors, mein und meines Bruders Felix, eben jenes mir nächsten nach unten, südlich also gelegenen, Jugendfreund, auch im Alter genau zwischen uns beiden stehend. Mich hat das schon ganz früh in Staunen versetzt, wie es denn komme, daß Hermann sich nie schmutzig mache, was immer wir unternähmen, auch als Realschüler nicht, gewiß auch nicht als Student oder später als Familienvater und Staatsbeamter. Nichts blieb je an ihm, an seinem Rock hängen oder picken, kein Stäubchen, kein Federchen, nie ein Klecks oder Fettfleck, kaum etwas Spreu oder ein Strohhalm, sooft wir alle zusammen beim Dreschen zusahen. Nein, alles war unberührt und glatt, auch die Haut des Halses und der Wangen, aber das fühlte ich wohl gleich, daß es nichts mit der Unberührtheit der Unschuld oder des Ideals zu tun habe, sondern jener von Mustern gliche oder der Staublosigkeit der sogenannten guten Stube seiner Mutter, der Inspektorsfrau, oder eines Möbelstücks darin mit dem grauen Leinwandüberzug, welcher nur an Sonntagen verschwand, oder auch dem Blanken und Glänzenden eines sonst nicht allzu kostbaren Federmessers, das in einem ärmlichen Lederbeutel steckt und vor jeder Operation herausgezogen wird, wie Hermann eines hatte. Ach, Hermann trug, möchte man sagen, alles in einem Beutel oder

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Futteral, als wären die Dinge nicht Dinge, sondern Muster, und als wäre er selbst weniger ein Junge oder Mensch als ein Muster zunächst für uns und dann überhaupt, das Muster an sich, letztlich durchaus gegen seinen persönlichen Willen, auch ohne Absicht, denn er war ein guter und argloser Junge.
Sein Widerpart war mein Bruder Felix. Von allen Kindern, Dorfjungen, Gassenjungen und Wesen jeder Art und Umgebung wußte sich keiner und keines so schmutzig zu machen wie er. Ein Sonntagmorgen im Juni. Felix hat Geburtstag und dazu einen fertiggekauften Anzug bekommen von heller Farbe mit allerhand Maschen und Zierat da und dort, aus der Stadt mitgebracht und nicht vom Dorfschneider Cyprian verfertigt, welcher alle unsere Maße aufzubewahren und bei Gelegenheit zu kontrollieren hatte. Da der Geburtstag mit einem Sonntag zusammenfiel, durfte Felix den Anzug auch gleich anbehalten. Nur wurde ihm von allen Seiten mit besonderer Eindringlichkeit eingeschärft, daß er sich heute, was immer sonst geschehe, auf gar keinen Fall schmutzig machen dürfe und darum lieber das Spielen sein lassen solle. Als sich Felix, das Haar wie immer nur vorn gebürstet und gescheitelt, im Nacken aber und um die Ohren in nassen Strähnen herunterhängend, uns auf der Terrasse zeigte, gewissermaßen unseren Blicken sich und den Anzug darbot, war er ganz scheu vor Neuem und verlegen und glich irgendwie einem bekränzten Opfertier. Da er wohl wußte, daß es ihm nicht gelingen würde, sich auf die Dauer von uns und von möglichen Spielen abseits zu halten, so verschwand er bald, und wir verstanden auch ohne weitere Erörterung, daß es das beste jetzt und heute sei zu verschwinden, und riefen ihm nur noch nach, während er sich entfernte: Felix, mach dich nicht schmut-

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zig! Doch als er zu Mittag noch nicht wiedererschienen, war man beunruhigt, und es hieß ihn suchen. Sein Name wurde im Hof und im Garten aus vielen Kehlen gerufen. Vergeblich. Felix ist nicht zu finden. Endlich aber wird er gebracht. Von Lini, dem Stubenmädchen, das ihn außerhalb des Gartens am Teichufer im Gras sitzend gefunden hatte, und da sie ihn fragte, ob er denn das Rufen nicht höre und was er überhaupt hier mache: im neuen Anzug um die Mittagstunde im feuchten Gras sitzend, wies Felix mit dem Finger auf etwas, was Lini augenblicklich als einen großen Fettfleck erkannte, und meinte, er wolle sterben ... Wie war das geschehen? Als er uns auf der Freitreppe vor dem Haus verließ, war sein ernster Vorsatz sicherlich der gewesen: heute nicht zu spielen, sich überhaupt auf nichts Wesentliches einzulassen wegen des neuen Anzugs und vielleicht höchstens nur im Hof Mathis, dem Kutscher, während dieser die Pferdegeschirre putzte, von weitem zuzusehen. Da könne ihm, vielmehr dem Anzug nichts passieren. Doch das Unglück wollte, daß gerade gestern der blaue Halbgedeckte von der Reparatur gekommen war und jetzt in der Remise, frisch gestrichen, lackiert und aufgepolstert, ganz so wie neu und überaus reizvoll aussah. Der mußte näher untersucht und ausprobiert werden, zuerst die vorderen Sitze, dann der Rücksitz. Unversehens war man aber oben auf dem Kutschbock, hatte auch die neue Peitsche, die nur bei Ausfahrten am Sonntag genommen wurde, in der Hand, und jetzt wurde eifrig mit der Zunge geschnalzt und mit den Beinen gestrampelt, was alles zusammen schnelle Fahrt und das Laufen der imaginären Pferde darstellen sollte. Und da wird es wohl geschehen sein, vielleicht schon beim Aufsteigen, vielleicht erst beim Absteigen. Felix pflegte so etwas nie zu sehen, dafür sah ihn aber

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Mathis, der Kutscher: den sehr großen, dunklen Fleck aus Wagenschmiere vorn am Knie.
Eine andere Szene aus Felix’ Kindheitstagen. Herr und Frau Kir, Gutsnachbarn, hatten sich für Sonntagnachmittag angesagt. Die drei Töchter, auch die jüngste, sollten mitkommen. Frau Kir war auf sie so stolz wie Niobe auf ihre vierzehn Kinder. Auf die Töchter und, wodurch sie sich von Niobe vielleicht unterschieden haben mag, auf ihre Kochkunst, welche darin bestand, daß Frau Kir oder unter ihrer Anleitung die Köchin aus allem alles zu machen verstanden: aus Kalbfleisch Fisch, aus Spanferkel Hühnerragout, aus Hammel Wild und so weiter. Niemals war eine Speise auf Frau Kirs Tisch das, wofür sie mit ihrem Namen ausgegeben war, und ein beträchtlicher Teil der Tischunterhaltung bestand darin, eben hinter die Namen zu kommen und den Tatbestand zu erraten. Wer Witz hatte, der verstand die Hausfrau hinzuhalten und wurde gelobt als Kenner und auch als sonstwie gefährlich. Die jüngste von den drei Töchtern, Olga, war in Felix’ Alter, und darum hieß es schon die ganze Woche über, Felix dürfe Olgas wegen am Sonntag aufbleiben und mit den Erwachsenen abends bei Tisch sitzen. Es war das erste Mal in seinem Leben, und damit ich, der ich um sieben Uhr ins Bett mußte, mich darob nicht kränke, wurde betont, daß das heute eine Ausnahme sei und nur Olgas wegen geschehe. Da das Kinderzimmer, worin wir beide lagen, an den Gang grenzte, der aus dem Speisezimmer führte, mußte ich hören, wie Felix und Olga nach dem Essen aus dem Speisezimmer trabten, die Tür hinter sich zuschlagend, wie sie im Gang Verstecken spielten oder sich gegenseitig hinter der Bodentür ein- und wiederum aussperrten, kicherten und schwätzten. Es geschah plötzlich sogar das ganz Unerwartete, daß

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die Tür ins Kinderzimmer aufgerissen wurde: Felix brachte Olga, sie nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit an der Hand führend, an mein Bett, Olga habe ihn geküßt, jetzt solle sie auch mich küssen. Ich ließ es geschehen, fuhr aber gleich danach mit dem Kopf unter die Decke und dachte mir nur, als beide wieder draußen waren: Felix geniert sich nie. Und warum tut er es eigentlich nicht? Ich lag schon im tiefsten Schlaf, als die Tür abermals aufging und Felix, schluchzend, von Anscha, der Kinderfrau, hereingetragen wurde, um endlich ausgezogen und ins Bett gelegt zu werden. Das Schluchzen galt Olga und dem Abschied von ihr: am nächsten Morgen wurde erzählt, daß es Mühe gekostet habe, ihn aus dem Wagen herauszuziehen, worin Olga mit ihren Eltern und den beiden Schwestern nachts über die Weinberge nach Hause fuhr. Kaum aber hatte Anscha ihn ins Bett gelegt, das Gitter vorgezogen und das Licht ausgelöscht, als Felix schon in meinem Bett lag, sich dicht an mich drängend, von neuem jämmerlich zu weinen begann und rief, er liebe Olga und er wolle sie ganz bestimmt später heiraten... Mir blieb wiederum nur der eine Gedanke zu denken übrig, daß Felix sich nie geniere und warum er es nicht tue. Irgendwelcher Trostworte aber würde es auch darum nicht bedurft haben, weil Felix mitten aus seiner großen Herzenserregung heraus im Augenblick einschlief und mich somit zwang, auf den Schlaf meinerseits für geraume Zeit zu verzichten und mich neben ihm nicht zu rühren, damit ich ihn ja nicht aufweckte und das Schluchzen von neuem anhübe. Es fiel mir im übrigen damit ich auch das sage, nicht schwer, weil ich als Junge das sehr gerne tat: wachen, wach mit offenen Augen im Bett liegen, während die anderen schliefen und ich dem Atem der Schlafenden lauschen durfte.

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Felix’ früh erwachendes Sinnenleben kam nicht aus einem starken Begehren — nichts war in ihm eigentlich stark und alles, sein Fleisch und so weiter, an ihm lokker —, sondern es hing auf das engste mit seinem Nachahmungstrieb zusammen, und dieser wiederum mit seiner überaus großen Furchtsamkeit, welche sich vor den verschiedensten Erscheinungen allemal mit Heftigkeit äußerte: vornehmlich vor Zigeunern oder dem Schornsteinfeger, vor Hunden mit eingezogenen Schweifen, die insgesamt für toll galten und vor denen jedesmal unter Geschrei die Flucht ergriffen wurde, vor Donner und Blitzen. Man mußte nur auf sein Gesicht achten, wenn er zuhörte: wie es die Züge des anderen gleichsam einzog, aufsog und in die eigenen zu verwandeln suchte. Es lag hier kein Schauspielertum vor, Felix würde es sicherlich nur zu einem sehr mittelmäßigen Schauspieler gebracht haben, sondern er glich darin den Menschen aus einem primitiven Volksstamm. Und so war auch seine Furchtsamkeit: etwas Elementares, worüber sich eine Welt der Nachahmung und Grimasse wölbte.
Mit sechzehn Jahren wurde er nach Wien gebracht, um dort die Handelsakademie zu besuchen, und es dauerte wohl nicht viel länger als ein Jahr, da trug er abends einen Zylinder, fuhr im Fiaker, hielt sich sogar zeitweise einen sogenannten Unnumerierten und unterhielt Beziehungen zu Blumenmädchen aus dem damals besuchtesten Varieté der Stadt. Auch das war nur Nachahmung, hinter welcher sich ein Wesen mit einem traurigen, ja verlorenen Blick verbarg. Als er die Akademie vor Schulschluß verlassen mußte und seine Welt der Nachahmung zusammengebrochen schien, wurde er, bevor er bei der Kriegsmarine zu dreijährigem Dienst eintreten sollte, zu mir getan, der ich mein zweites Universitäts-

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jahr beendete. Ich erinnere mich noch, wie ich erschrak, als er mir in diesen Tagen einmal, während wir von der Zukunft redeten, sagte: Ja, wenn ich so wie du wäre! Oder ähnlich ... Ich konnte darauf nichts erwidern und blieb, das Gespräch abbrechend, ganz stumm, da ich ihm doch nicht hätte begreiflich machen können, daß ich so, wie ich bin, noch viel eher den unnumerierten Fiaker, die Schulden und alles andere zu verstehen vermöchte, als daß einer es über sich brächte, einen solchen Satz auszusprechen: Wenn ich so wäre wie du ...
Wie leicht schien er es nicht zu nehmen, wie leicht nahm er es wohl wirklich, daß er jetzt drei Jahre lang den schweren Dienst eines gemeinen Matrosen machen müßte! Er sah auch hier nur das Nächste und redete davon: von der Fahrt nach Pola, der Matrosenuniform, dem Schiff und dem Meer, weil er dieses noch nie gesehen hätte. Was dahinter war, dessen wurde mit keinem Worte Erwähnung getan. Es war aber da und spiegelte sich in dem traurigen, im verlorenen Blick seiner Augen. Ich habe erst später begriffen, woher er diese Trauer im Blick hatte. Nicht vom Vater, der innerhalb des Sozialen wohl befangen, aber sonst völlig furchtlos war, sondern von der Mutter, an deren Auge das seine im Blick und Ausdruck erinnerte. Es ist über jedes menschliche Maß hinaus erschütternd, darüber nachzudenken, wie in der Natur des Menschen ein im wahren Wortsinn grund- und bodenloser Leichtsinn auf etwas bezogen werden dürfe und beziehbar sei, was schon darum ein namenloses Leid genannt werden müsse, weil es da war und getragen wurde, ohne daß es je mit Namen als das, was es war, berührt wurde.
Felix hatte kaum einen Monat den Dienst versehen, da uns durch die Gemeinde des Heimatdorfes die Nach-

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richt von seiner schweren Erkrankung übermittelt wurde. Als ich im Marinespital vor seinem Bett stand, erkannte er mich noch, für einen Augenblick, nicht länger, und lachte ein wenig oder versuchte, besser, sein Gesicht zu einem Lachen zu verziehen. Es war so, wie wenn er noch einmal, zum letzten Mal, das Lachen oder das, was so aussehen sollte, zwischen sich und das Andere, das ewig Furchterregende zu schieben die äußerste Anstrengung machte.
Sein Tod war der erste. Es sollte von da an schneller gehen, und es war so, wie wenn die Bahn für ihn, den Tod, damit jetzt freigelegt worden wäre. Ich hatte diesen unmittelbar so empfunden: als ersten, und ich hatte ihn auch als Schuld empfunden. Und die Schuld war darum und aus keinem anderen Grunde als aus diesem da, weil jetzt einer fehlte oder weil jetzt an Stelle der zehn neun waren. Die Schuld war da (bestimmter): weil sich diese neun nicht schließen konnten, gleichwie die zehn geschlossen waren. Wie schließt sich nicht im Nu, sooft wir davor stehen und zuschauen, die Reihe der bunten japanischen Finken, da einer von ihnen, die niemand zählt in ihrer Unschuld, vom Ast des Baumes oder von der Stange des Käfigs auffliegt!
Die Schuld war da wie ein Fehlen, nicht anders, wie ein Fehlen innerhalb des Bestandes, und darum, weil sie da war, mußte sie auch gefühlt und geborgen werden, oder mußte einer da sein, der sie im Herzen fühlt und darin für immer birgt ...
Man darf sagen: die zehn waren durch den Tod, den ersten, frühesten und nie bedachten oder geglaubten, gesprengt, die Einheit der zehn war zerrissen, die Einheit vom Vater her oder vom Gesetz des Vaters, vom Gesetz her ...

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Zuweilen durfte es so empfunden werden, als wäre dieser Tod und diese Schuld, weil, ich wiederhole, eines für das andere stehen darf, der Sieg über den Vater oder über das Gesetz und die Zahl des Vaters, und zwar von der Mutter her aus dem Reich, dem unbegrenzten, zahllosen, der Mutter, deren Tod dann bald darauf der nächste war ...









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Letzte Änderung: 5. Januar 2019