RUDOLF KASSNER
BUCH DER ERINNERUNG
1938
2. KAPITEL
MYTHISCHE KINDHEIT
S. 43—83
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MYTHISCHE
KINDHEIT
D e r
z e r s t ü c k e l t e D i o n y s o s
Es geschieht bisweilen, daß ich meine
eigenen Sachen vorlese. Nach der Lektüre ‚Meiner Lehrer‘ meinte
nun einer von den Zuhörern, dem sich das Geheimnis der
künstlerischen Konzeption bisher noch nicht
enthüllt zu haben scheint, trotz mannigfachen Ansprüchen in
dieser Richtung: Ihr müßt ja
auf der Schule gar nichts anderes gemacht haben als nur beobachtet.“
Nun, so ist oder so war es keineswegs. Gewiß beobachten Kinder,
Knaben ihre Eltern und Lehrer und
teilen sich gegenseitig die Beobachtungen mit, weshalb es für
letztere auf alle Fälle ratsam bleibt, das
Gesicht zu wahren. Ich hatte nun niemals das Gefühl gehabt und
besitze es auch heute nicht, daß ich beobachtet habe,
als Kind oder auch später, daß ich denen, welchen ich
Gehorsam schuldig war, auf etwas daraufzukommen suchte, wie der
Ausdruck lautet. Was unter Menschen für die Frucht der Beobachtung
gilt, das kam, flog oder fiel mir zu, und dem gegenüber war ich
jederzeit duldend und geöffnet. Es war bestimmt so und nicht
anders, und zwar so sehr, daß mir schon früh einer, der mir
seine Beobachtungen mitteilte, zumeist nicht ohne
die entsprechende Geheimnistuerei, leicht unangenehm werden konnte. So
unangenehm und fatal, wie uns etwa
ein Mensch werden muß, der uns am Rockknopf nimmt und mit sich
zieht, um
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uns auf die
Schönheiten eines Sonnenuntergangs aufmerksam zu machen.
Wie ist nun der Vorgang? Bilder lösen sich ab und gehen in uns
ein. Was bleibt zurück? Und ist das Zurückbleibende, das
Draußen, um das, was in uns eingegangen, ärmer geworden?
Jedenfalls nicht für Kinder. Von denen ich auch meine, daß
sie sehen und nicht beobachten, wie Alte beobachten. Weshalb die Bilder
auch immer um etwas mehr als bloß Bilder sind, nicht abgerissen,
abgehoben, sondern das Ding, den Gegenstand mit sich führen
mitsamt dessen ganzer Bewegung.
Ich hatte das ganze Leben lang ein Vorurteil, ein Vorgefühl gegen
Brillen, wohl auch darum, weil ich selber die Augen eines Raubvogels
hatte und noch habe. Ein Mensch mit Brille, kam mir vor, könne
nicht eigentlich sehen, sondern müsse beobachten, den Gegenstand
durch die Beobachtung oder mit ihr fixieren, ob er wolle oder nicht. Er
könne die Bewegung des Bildes nicht mitnehmen, und er könne
davon nicht hingerissen werden. Um die Hingerissenheit, um das Trunkene
wollte ich offenbar beim Sehen auf keinen Fall gebracht werden, und
gerade darum war ich dazu geneigt, einen Unterschied zu statuieren
zwischen Sehen und Beobachten.
Mir fällt im Augenblick ein, wie wohl der einäugige Zyklop
auf seiner Insel gesehen haben mochte oder sonst ein Einäugiger,
wenn wir ihn aus dem Mythos ins Leben versetzen. Ich denke mir: so,
daß für ihn der Unterschied zwischen Sehen und Beobachten
wegfällt. Und ich bringe, weiter, in Gedanken dieses
einäugige Sehen mit der Insel zusammen, auf welcher der Zyklop
leben mußte. Die ich mir klein vorstelle und mehr oder weniger
rund, augenhaft rund, so daß von überall das Meer gesehen
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werden konnte,
das Meer als das eine große, sichtbare und dauernde Geheimnis. Es
gab kein anderes, es gab keines dahinter oder überhaupt nichts
dahinter oder darunter. Wenn jeder von uns so auf seiner kleinen Insel
isoliert lebte, diese Insel bei jeder Bewegung gewissermaßen mit
sich führte, würde auch für ihn der Unterschied
aufhören zwischen Sehen und Beobachten. Oder würde er nur so
viel sehen, als er beobachtet. Menschen der großen Ebene,
Nomaden, Hirten, Schiffer sehen mehr, als sie zu beobachten
vermögen. Oder sehen zuerst und beobachten dann. Zu unseren
Gesichten, zum Fluß unserer Gesichte, zu deren Ununterbrochenem
gehören die zwei Augen, links und rechts, dazu.
Monokel, das möchte ich noch einfügen, dürfen nur solche
Menschen tragen, die nicht sehen, die keine Gesichte haben, auch keine
haben wollen, die ihre Person abschließen. Ich erinnere mich
eines Menschen mit einem Monokel. Im Reden kam heraus, daß er
betrunken war. Allmählich kam das heraus, weil das Monokel
dazwischen war. Und allmählich wurde er immer mehr zu einem
schauderhaften Anblick.
Der Beobachtende hat beim Bild, das er empfängt, den Begriff
gleich dabei: So wird es leicht, das Bild abzutrennen (am Begriff
gleichsam), den Gegenstand um zu dessen Bild zu bringen. Wir wissen,
daß unter abergläubischen Menschen das Bild soviel gilt wie
dessen Träger und daß der ‚böse Blick‘ den Menschen,
den er trifft, nicht nur um dessen Bild, sondern damit auch um das
Glück, um Wesen und Seele bringt. Unser einäugiger Zyklop
würde vielleicht am Festland mitten unter vielen Menschen als ein
Mensch mit dem ‚bösen Blick‘ gegolten haben und vor allem darum
gemieden worden sein. Daher dann die Insel, die Herden, das Meer, die
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göttliche
Abstammung, was alles zusammen den bösen Blick nicht aufkommen
ließ.
Ob nicht der böse Blick aus jedem Menschen mit zwei Augen
unwillkürlich einen einäugigen macht? Ob sich nicht gegen den
bösen Blick, für den Eigner desselben, ein Monokel empfehlen
ließe? Das sind alles so Fragen, die einem gelegentlich kommen
können.
Mit und neben mir, mehr als die anderen durch mehrere Jahre, lebte ein
Bruder, der an epileptischen Anfällen litt. Er war nicht
ausgesprochen schwachsinnig, doch geistig benommen, an den Grenzen des
Schwachsinns dahinlebend. Auf ihn drangen Bilder so ein wie auf mich.
Man konnte es ihm ansehen, wie sie auf ihn eindrangen, wie er sein
Gesicht förmlich hinhielt. Doch es fehlten die Begriffe, und so
gingen die Bilder in ihm unter wie Sternschnuppen in einer Augustnacht.
Was seinem Gesicht ein unsäglich Trauriges verlieh. Wenn je ein
Mensch auf Erden des ‚bösen Blickes‘ gänzlich ermangelte, so
ist es dieser mein Bruder gewesen.
Auch die großen Sehenden unter den Menschen ermangeln, ich
füge hinzu, auf eine große Weise dieses ‚bösen
Blickes‘, und doch ist gerade in ihren Augen tief drinnen zuweilen ein
Böses zu gewahren, ein Scharfes, dass aber uns, das die Welt nicht
um Glück, Leben und Seele bringt, sondern nur zurückbleibt,
da die Trunkenheit gewichen ist. Es ist vielleicht nichts anderes als
das Trennende, Gegensätzliche, Scharfe, das allem Begrifflichen
anhängt.
Wir lernen, hieß es unter den Alten, indem wir uns erinnern.
Warum kann diese Theorie Platons für uns nicht mehr
aufrechterhalten bleiben? Weil es beim Griechen um die Vergangenheit
und dementsprechend um die Zukunft geht, um Tat und Maß, bei uns
hingegen
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um die
Gegenwart, welcher gegenüber der Grieche gedankenlos blieb. Weil
es, ferner, bei Platon um Ideen ging, die fast noch Dinge oder zum
mindesten so angetan waren wie Dinge, die Schatten würfen, bei uns
aber um die Beziehung der Einbildungskraft zur Gegenwart, und daraus
folgend dann um einen tieferen und auch genaueren Begriff des Leidens.
Der Grieche litt als ein Verwundeter, litt, wie einer leidet, dem ein
Arm oder Bein abgeschlagen worden ist: um der Idee oder des Bildes
willen von einem Ganzen und Vollkommenen. Wir leiden, weil wir fehlen,
und wir fehlen, weil wir Einbildungskraft haben. Darum ist unsere Tiefe
angefüllt mit Bildern. Und nicht mehr mit Dingen, vielen,
schönen, häßlichen, auch nicht mit den Schatten von
Dingen. Wenn wir uns mit Dingen zu füllen vermöchten oder
auch mit den Schatten von Dingen, so müßte es statt der
Tiefe den Abgrund geben, worin die Dinge oder deren Schatten
untergingen. Das ist der Unterschied zwischen Abgrund und Tiefe. Er
gleicht dem zwischen Schatten und Bild. Wir bewahren keine Schatten —
das ist unsere Einbildungskraft, oder darum ist unsere Tiefe mit
Bildern ausgefüllt und nicht mit Schatten.
Vielleicht war Einbildungskraft einmal das: den Dingen auf den Grund
kommen wollen. Damals wurden noch Bilder mit Schatten verwechselt.
Heute, scheint mir, ist Einbildungskraft: den Dingen n i c
h t auf den Grund kommen wollen, den Grund meiden um der
Flügel, um der Bilder und auch um der Tiefe willen, darin die
Bilder lagern.
Schein löst sich auf, Schatten fallen, Bilder aber fließen.
Ich habe von Henri
Poincaré, dem Mathematiker, gelesen, daß es ihm
Spaß bereitet habe, während einer Eisenbahnfahrt durch eine
ihm unbekannte Gegend sich
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die Namen der
Stationen der Reihe nach zu merken, um sie im gegebenen Fall hersagen
zu können. Andere behalten auf solche Weise Zahlen, Nummern im
Kopf oder besser: sehen sie vor sich, denn der Raum, das
Raumgefühl hat damit mehr zu schaffen als die Zeit. Verhält
sich nun dieser Akt des Sichmerkens einer Zahl, eines bloßen
Namens (mit nichts dahinter) zu jenem anderen der Hingabe an den
Fluß der Bilder nicht wie Gedächtnis zu Erinnerung? Ist der
erste Akt nicht Gedächtnis, der zweite Erinnerung? Das
Gedächtnis ist sprunghaft, läßt Zwischenräume,
Abstände. Zwischen den Zahlen, zwischen den einzelnen Namen, die
sich einer merkt, ist nichts dazwischen (nichts anderes als eben der
leere Raum, die leere Strecke etwa, die ein Eisenbahnzug durchrast) und
nichts dahinter, denn wenn etwas dahinter wäre, so würde die
ganze Reihenfolge damit ins Stocken geraten und Vergessen eintreten.
Unsere Erinnerung hingegen reißt alles das mit, was dahinter
steckt. So entstehen dann Bilder, und darum fließen Bilder oder
nehmen die Bilder den Gegenstand samt dessen Bewegung mit. Erinnern wir
uns nicht am sichersten der Dinge, die schon einmal untergegangen waren
in uns? Inhalt, Tod und Erinnerung — das geht zusammen. Ohne den Tod
gäbe es keine Erinnerung, sondern nur Gedächtnis. Dinge leben
darum in der Erinnerung und nicht im Gedächtnis fort. Unsere ganze
Einbildungskraft kann sich in Erinnerung verwandeln, aber nicht in
Gedächtnis.
Ich bin vor sehr vielen Jahren einmal einem Menschen begegnet, bei
welchem Gedächtnis und Erinnerung auf eine unheimliche Art und
Weise durcheinandergebracht waren. Er war Untersuchungsrichter, hatte
es in der Stadt durch Geschick und Findigkeit im Aufspüren von
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Verbrechen zu
einer gewissen Berühmtheit gebracht, mit Verbrechen wurde auch
sein Name in den Zeitungen genannt. Ich traf ihn nicht in seinem
Bureau, sondern in seinem Salon oder was sich so nennt, wo er der Dame
des Hauses auf seine Art den Hof zu machen suchte. Vielleicht nur, weil
er
meinte, daß so etwas dazugehöre zum Salon. Man ließ
ihn
reden, er sollte sagen, wie alles bei ihm zuginge. Ich war still wie
eine
Maus. Eines trat gleich deutlich zutage, daß er
nichts v o m Menschen,
daß er aber etwas ü b e r jeden
wußte, über welchen er
befragt wurde. Wenn also im Verlaufe der Konversation, die sich
den Umständen entsprechend keineswegs auf einem hohen Niveau
bewegte, der Name dieser oder jener Persönlichkeit fiel, die man
kannte, oder er danach gefragt wurde — man war ja mit der Zeit von
Verbrechern abgekommen
zum milderen Thema des gesellschaftlichen Tratsches oder Skandals —‚ so
fing er die Frage augenblicklich auf, hielt inne, schloß die
Augen, welche denen einer Ratte glichen (was für ein Anblick: eine
Ratte, die ihre Augen einmal zuhält!), und es war jetzt so, wie
wenn er hinter den geschlossenen Augen im Kopf die Seiten eines
imaginären Auskunftsbuches, wie solche wohl in Büros der
Polizei vorliegen mögen, umblätterte, vorsichtig und genau,
um nichts zu überschlagen, bis er auf die Seite käme, auf der
etwas über die
fragliche Persönlichkeit stünde. Und was dort stand, das las
er gleichsam ab und sagte er dann her. Nicht ohne darnach ein sehr
ekles Lachen aus seiner fetten Kehle von sich zu geben. Wie in seinem
Gehirn Gedächtnis und Erinnerung, so war in seinem Gesicht auf
eine grauenerregende Weise Lebendiges und Totes durcheinandergemischt.
Was zum phallischen Gesicht gehört, welches
unserem Manne in einem besonderen Sinn eignete. Es war zu-
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gleich ein
strotzendes und ein totes Gesicht. Sehr gewaschen, sehr blank und doch
eines, das man versteckt tragen müßte. Kein
Verbrechergesicht, aber der Spiegel eines solchen, der Spiegel der
Gesichter jener, die ohne Spiegel sind und darum töten.
Wenn der Mensch in der Zeit stehen bleibt, wie man von primitiven
Völkern oder von Kindern sagt, von jenen, daß sie in der
Zeit stehen geblieben seien, von diesen, daß die Zeit für
sie stillestehe, fallen Einbildungskraft und Magie zusammen, und das,
was wir Zeit nennen, bleibt in der Ewigkeit wie zusammengefaltet. Ich
schicke den Satz voraus, weil ich im folgenden den Begriff des
Magischen, Magisch-Mythischen brauchen werde. Ich möchte nun in
dessen Gebrauch und Bestimmung so genau sein, wie es immer angeht,
schon darum, damit es nicht so aussehe, als wollte ich damit
großtun. Ich finde in der Tat keinen anderen als diesen: den
magisch-mythischen, um das Verhältnis des Kindes zur Natur,
vielmehr zur Welt, Bildwelt der ersten Lebensjahre zu bezeichnen.
Zur allgemeinsten Bestimmung dessen, was hier als magisch gelten soll,
gehört gleich, daß kein Unterschied besteht zwischen Natur
und Welt. Den hat mit Entschiedenheit erst Jean
Jacques Rousseau aufgebracht, worauf dann alles das
zurückgeführt werden kann, was diesen kennzeichnet vor oder
neben anderen Geistern: die falschen Soziallehren, sein
Erziehungssystem, die großartige Rhetorik, eine enorme, eine neue
Sensibilität, so daß er nach eigenem Geständnis immer
mehr fühlte, als er sah, endlich die Hypertrophie, Pathologie und
völlige Entblößung des Ich. Es bedeutet immerhin schon
etwas, daß ein Mensch mit der Anlage zum Sadismus, dem die Rute
der Mlle. Lambercière Empfindungen der Wollust erregt, die
keineswegs zu wecken wären, sollte ein-
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mal der Bruder
von Mlle. Lambercière das Instrument der Erziehung, die
Schwester vertretend, handhaben, es bedeutet, sage ich, schon etwas,
daß ein so veranlagter Mensch die Natur, wie es dann immer
heißt, entdeckte. Diese Natur konnte nun nicht mehr Welt sein,
wie sie es im Mittelalter, auf den Bildern des Quattrocento, wie sie es
etwa auch im Evangelium ist, sie mußte etwas sein was Welt
vertritt, vor welchem Welt zurückweicht. Zurückweicht, wohin
immer: in die Brust oder in das Gehirn des Menschen.
Magisch, magisch-mythisch ist nun das Gegenteil
davon, auch das Gegenteil aller Pathologie und Hypertrophie, weshalb
die Deutungen von Mythen ins Pathologische falsch sind, ist der
Umstand, daß sich der Leib des Gottes, der Traumleib — das waren
sie alle, die alten Götter: Traumleiber — zerstückeln
ließ und brechen und doch ganz blieb, daß er lebte, wie die
abgebrochenen Zweige von Bäumen oder Sträuchern Wurzeln
treiben. Was alles nur möglich ist, wenn das Ich oder solange es
fehlt, denn der Traumleib ist ohne Ich und somit ohne Gegensatz. Nur
weil der Gott als solcher ohne Gegensatz ist, ist er Leib und kann sein
Leib zerstückelt, zerrissen oder gebrochen werden und bleibt doch
ganz. Erst wo Gott Geist ist, entsteht der Gegensatz. Wie immer wir
diesen nennen. Dionysos hatte keinen Gegensatz, also durfte er
zerstückelt und durften die Stücke in alle Länder der
Erde getragen werden.
In Parenthese: man müßte einmal von da aus die Askese
betrachten. Auch der Asket streicht den Unterschied von Welt und Natur,
damit beginnt er gleichsam sein Werk, sein Tun und Nichttun. Und dann
geht er daran: den Gegensatz aufzuheben, das Ich mit dem Ich, das Sein
mit dem Denken, und sich den Traumleib zu schaffen,
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die
Vergottung. Rousseau war kein Asket. Die Idee der Askese war in keinem
Augenblick in ihm aufgetaucht, fand keinen Raum in seiner Welt. Wo
Askese ist, dort sind noch magische, magisch-mythische Vorstellungen
vorhanden. Ich wage zu sagen, daß der magische Mensch seine ganze
mögliche Pathologie in der Askese hat. Rousseau, der überaus,
der bis zur Feigheit sensible, der vertrauensselig-mißtrauische,
der wahrhaftige und zugleich immer etwas verlogene, der Mann mit dem
entblößten Ich, ist zugleich der erste ganz unmagische und
ebenso unasketische Mensch, der erste mit einer berühmten
Pathologie, der erste Mensch, der die Distanz braucht, die Perspektive,
um seiner selbst gewiß und habhaft zu werden. Der magische Mensch
kennt weder Distanz noch Perspektive, sein Ich kommt nur latent vor.
Wie das Radium in der Pechblende. Und weil er weder Distanz noch
Perspektive hat oder braucht, so ist Natur noch Welt und Welt Natur.
War darum nicht, wiederhole ich, die Natur im Mittelalter, in dessen
Dichtung, magisch und hatten die einzelnen Dinge darin, Tiere, Blumen,
Bäume, nicht die Form des Emblematischen wie auf Wappenschildern?
Mir hat als Kind und später der Begriff Natur, beinahe hätte
ich gesagt: das Wort, so gefehlt, wie er nur einem Landkind fehlen
kann. Ausdrücke wie Naturfreund oder Fragen der Gebildeten, der
Städter: Liebst du die Natur? hatten schon das Kind, sooft sie an
dessen Ohr drangen, verlegen gemacht. So nahe war ich ihr, so
umhüllt und berührt war ich davon, und so sehr waren Welt und
Natur für das Kind und später eines. Ich habe auch niemals
den Gegensatz von Natur und Bildung so ohne weiteres hingenommen und
dem sogenannten Pantheismus gegenüber mich eines gewissen
feindseligen Ge-
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fühles
nie ganz erwehren können. Es stak für mich darin mehr als
Unwahrhaftigkeit und Phrase oder Großtuerei: Ungenauigkeit.
Keiner von den gerühmten Pantheisten war es wirklich, Spinoza am
allerwenigsten. Pantheismus schien mir Ausrede, Poesie, Poesie als
Ausrede, eine Metapher von nichts. Ich gestehe, daß ich mich
niemals so entschieden als Katholiken fühlte wie bei solchen
Gelegenheiten, da wieder einmal einer sich in den Pantheismus retten zu
müssen meinte, und ich fand es als Junge ganz herrlich, nein, mehr
als herrlich: natürlich, daß nach der Beichte und Kommunion
das Dorf, die Felder, der Garten mir in neuem Glanz erstrahlten.
Denke ich das, was ich jetzt niederschreiben werde, nicht so, wie wenn
es erst gestern gewesen wäre, und ist doch mehr als ein halbes
Jahrhundert seitdem vergangen? Das Melker Stift und das damit
verbundene Gymnasium wurden für viele Wochen wegen einer
Scharlach- und Masernepidemie, die unter den Schülern ausgebrochen
war, geschlossen, meine Brüder, so viele immer dort schon
untergebracht waren, kamen also zu sehr ungewohnter Zeit nach Hause, es
war im Februar, und die Erinnerung an die Weihnachtsferien war in aller
Köpfen und Herzen noch frisch geblieben. Sie kamen in der Nacht
an, wurden zuerst im Meierhof in einer eigens dazu gezimmerten Holzbude
ausgeräuchert, und so begannen wieder einmal Ferien, Ferien, ich
wiederhole, in einem Monat, darin es solche bisher noch niemals gegeben
hatte, und rissen auch uns Jüngere mit, die zu Hause die Schule
hatten. Doch dauerte das neue, das erhöhte Leben nicht lange, die
Ausräucherung in der Holzbude im Meierhof war offenbar
ungenügend, wahrscheinlich sogar unsinnig gewesen, denn einer nach
dem anderen von den Brüdern mußte ins Bett wandern, zu-
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erst kamen die
älteren daran, welche den Krankheitskeim in sich getragen und
mitgebracht hatten, dann die jüngeren, die von ihnen angesteckt
worden waren. Es gab ungefähr alles im Haus: Masern, Mumps,
Scharlach, und meine jüngere Schwester hatte sogar Diphtheritis
und war dem Tode nahe. Ich selbst legte mich als letzter, hatte aber
nur Fieber, lag drei Tage lang wie in einem Backofen und dann war alles
vorbei. Ich höre noch die erstaunte Rede unseres Doktors
darüber, daß er sich das hohe Fieber gar nicht erklären
könne, da irgendwelche katarrhalische Erscheinungen,
Entzündungen, Beläge wie bei den anderen nicht vorlägen,
und ich weiß noch, wie ich, da ich ihn so reden hörte, eine
Weile im unklaren darüber blieb, ob ein solcher Ausnahmezustand
einer Auszeichnung gleichkomme oder nicht. Ich war also sehr bald
für gesund erklärt, als erster, und zwar für geraume
Zeit; da Fräulein Bache pflegen mußte von Bett zu Bett, gab
es keine Schule, ich war ganz mir selbst überlassen und konnte von
früh bis abend machen, was ich wollte. Es war also eines
Nachmittags so gegen Ende Februar nach der Vesper: Über die Ebene
und die sanft ansteigenden Hügel hinan im Osten war eine
dünne Decke Schnees ausgebreitet, in der Ferne eine Kapelle zu
sehen, weiter ein Kreuz mit einem winterlich dürren Akazienbaum
daneben, über die Felder weit zerstreut lagen Hütten aus
totem Gezweig als Futterstätten für die Hasen und
Rebhühner. Ein sehr gutes, ein Raubvogelauge konnte wohl hin und
wieder kleine schwarze Punkte auf der weißen Fläche sehen,
die sich zur Hütte bewegten. Auf den Weiden und Pappeln der beiden
großen Teiche, die an den Garten grenzten, krächzten
Krähen, und von Zeit zu Zeit flogen welche von ihnen auf, so
daß es aussah, als tauschten sie die Plätze. Knarrend fuhr
über die
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hartgefrorene
Straße ein Ochsenwagen oder eine Pferdefuhre am Garten entlang
zum Meierhof. Vom Eis der Teiche, zu denen der Garten abstieg, erklang
die Axt, und dazwischen war das Schieben von Eisstücken über
die spiegelnde Fläche zu hören, sonst kein Ton, keine
Menschenstimme, auch nicht vom Dorf her, das abseits von unserem Haus
lag. Über dem ganzen Himmel lag eine sehr dünne Wolkendecke,
die Sonne war davon wohl verhüllt, doch ihr Licht, die Kraft
desselben war zu spüren, lag, wenn auch noch verheimlicht,
über allem Land, lag auf den Mauern des Hauses, den Ställen,
im Gezweig des Haselnußstrauches neben mir, der schon über
und über mit gelblichgrünen Kätzchen behangen war. Es
war eine Ungeduld in allem und zugleich unendliche Geborgenheit. So
fühlte ich es, und diesem Gefühl konnte ich mich ganz
hingeben, wußte ich doch mit meinen sieben Jahren nichts davon,
daß die Strahlen der Sonne jetzt von Tag zu Tag kräftiger
scheinen und daß ihr Glanz über allem, daß die
Ungeduld und Geborgenheit in allem, was das Kind jetzt umgab, nichts
anderes verkünde als eben diese wachsende Kraft und Erneuerung.
Meine Astronomie war, daß die Sonne des Morgens ins Kinderzimmer
schien, Kinderaugen blendend, und daß sie hinter dem großen
Kuhstall untergehe dort, wo der Milchwagen auf dem Wege zur
Eisenbahnstation nachmittags am Horizont verschwindet. Ich gehe also
nach der Vesper allein im Garten einen Weg herab, von dem der Schnee zu
schrumpfen begann, den Kiesel darunter bloßlegend. Er führt
sanft absteigend an einem der beiden kleinen, von mir überaus
geliebten Weingärtlein vorbei, in deren Mitte je ein Mandelbaum
stand, und ich komme an eine entlegene Stelle am Zaun, wo offenbar erst
heute morgen der Gärtner einen Baum gefällt hat.
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Der Stamm lag
im Schnee, welcher zertreten und mit frischer brauner Erde vermischt
war, er lag da in Stücke zersägt, die Schnittflächen
waren gegen den Rand und Bast zu gelblichrot und leuchteten im noch
verheimlichten Licht. Und das, was da leuchtete, war wie das Fleisch
des Baumes, im drängenden Saft des Frühjahres aufgerissen und
bloßgelegt, und es war so, wie wenn sich das verborgene Wachstum,
das vom Winter erstickte Leben, wie wenn sich die Jugend, das, was
kommt und in uns drängt, hier aufgetan, enthüllt hätte,
und zwar um des Glanzes und der Ungeduld willen, die draußen
ausgebreitet lag auf allem und die Welt in dieser Stunde ganz
erfüllte. Das war kein Wundsein, kein vorzeitiger Tod und
Abschluß, kein Verzicht, sondern Offenheit, Ungeduld, Teilnahme.
Ich wußte natürlich nicht und es ist auch gleichgültig,
was für ein Baum es wäre, es dürfte wohl ein Essigbaum
gewesen sein, deren es eine Menge im Garten gab; es war der Baum des
Lebens, es war der Leib, der geöffnete, aufgeschlitzte, eines
Baumes, was dalag und mit einem alles hergab; die Zerstückelung
war Geburt, war wie die Zerstückelung eines mythischen Gottes.
Worte können ganz gewiß nicht ausdrücken, was das Kind,
das staunend stehen blieb, alles empfand, Worte fehlen ganz und gar, es
herrschte in der Seele auch nicht das allergeringste Bemühen
darum, um Worte, doch muß das Empfinden im Kinde sehr stark
gewesen sein, da es standhielt und wie unter einer Decke weiterwuchs so
lange, bis es nach mehr als einem halben Jahrhundert aufbrach im Bild,
darin sich die Einheit offenbart des zerstückelten Baumstammes mit
der mythischen Zerteilung göttlicher Traumleiber.
Was war jetzt und in ähnlichen Augenblicken Natur, Welt, Ich?
Alles war und stak ineinander, und nichts ist
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zu trennen
oder zu zerreißen. Die Zerteilung des Gottleibes war doch auch
nur der kindlichste, der frühste Ausdruck für die
Unteilbarkeit eines allseits bewegten Ganzen, nichts anderes war es.
Alles gehörte doch für das Kind zueinander und bildete ein
Ganzes: das Entengeschnatter im Hof und die aufgehende Sonne, die
gleich über dem Dach des Pferdestalles und der Remise stehen wird,
das Eis im Bach, aus dem das rotbraune glänzende
Weidengesträuch ragt, ein lehmiger, trockener Hohlweg zwischen
Feldern und Weinbergen, oben am Rand der sehr blaue Natternkopf, die
rosige Hauhechel, Thymian, Feldsalbei und wohl seltener das
Steppenröschen, das, im Blatt dem Klee gleichend, weiße
Rosenblüten trägt, daraus sich winzige schwarze
Rosenfrüchte bilden, die frischgeackerte dunkle weiche Erde voll
Geruch an warmen Märzabenden, die langsam in die Nacht
übergehen, die erste grüne Saat mit dem Wind darüber,
der ganz nahe am Boden streift und den Duft der Erde mitreißt.
Dort, wo ich geboren war und aufwuchs, ging alles von der Erde aus, im
Juni zu Beginn hatte diese sich in ein grünes Meer verwandelt mit
dem leichten Wiegen der Wellen großer Saatflächen, die am
Horizont sich in sanftem Anstieg zu Hügeln aufbogen. Meine Sinne
bezogen alles auf die Erde und deren Kräfte. Ich konnte mein
Kindergesicht in die Erde bohren, und nach einem der in jenen
Landstrichen so seltenen Gewitter lief ich hinaus, um die Erde zu
riechen und mir im nassen Gezweig von Flieder und Goldregen das Gesicht
zu baden.
Magisch, magisch-mythisch heißt auch, daß alles
dazugehört: auch das Wunde und der daraus entstehende dauernde
Schmerz. Das magische Leben ist stumm, weil es nichts abzieht, und es
ist ganz und dicht, weil die Begriffe fehlen oder noch die Haut des
Lebens zu bilden
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haben. Ich
meine, daß nur darum die göttlichen Traumleiber
zerstückelt werden und in der Zerstückelung ganz bleiben
konnten, weil es noch keine Begriffe oder Ideen von den Dingen gab und
die Zahl dem Dinge einverleibt schien. Ist diese Zerstückelung
nicht der eigentliche, der heroische Ausdruck dafür, daß es
noch nichts gibt, was den Schein vom Wesen zu scheiden, abzuteilen
vermöchte?
Trennung, Scheidung und was daraus für uns erfolgt, empfand ich,
als der erste Mensch in meinem Leben starb, empfand ich mit dem ersten
Toten. Wie im Banne lebend der großen Zahl von Menschen, die am
Mittagstisch meines Vaters saßen, die Zahl gleichsam heiligend,
bewahrte ich als Kind recht lang in meiner Kinderseele das Gefühl,
welches sich nicht anders als so ausdrücken läßt: Alle
Menschen müssen und werden sterben, nur wir müssen und werden
nicht sterben. Dieses Gefühl war in mir da, genau so wie ich es
jetzt ausdrücke, und meldete sich jedesmal mit Heftigkeit, sooft
der Tod aufkam in der Menschenrede um mich herum. Es war, wie gesagt,
da um der großen, um der in ihrer Größe und durch sie
schönen Zahl willen derer am Tisch oder im Haus des Vaters. Alle
Menschen müssen sterben; Caius ist
ein Mensch, also muß Caius sterben: dieser Satz aus der Logik des
mündig gewordenen, des vernünftigen Menschen galt noch nicht,
dafür aber jener andere, unter oder jenseits der Vernunft,
gleichsam unter der Haut lebende, daß alle Menschen sterben
müssen, nur wir nicht am Tisch und im Haus des Vaters. Ein Satz
ganz und gar aus der Logik der Kindheit des Menschentums, da es noch
keinen sublimeren Ausdruck gab für die Ganzheit als die
Zerstückelung.
Als nun der erste Mensch meines Lebens starb, ein
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Vaterbruder,
der mich verwöhnt hatte, so daß es so aussehen mußte,
als zöge er mich den anderen vor, da war es doch gleich so, als
überstiege, als überträfe hier der Tod den Menschen, als
wäre er mehr als der Mensch, wie heftig dieser auch geliebt worden
und wie einzig er mir und allen erschienen war. Dieser einzige und sehr
geliebte Mensch war im Tod, war durch ihn mit einem Male nicht
verwandelt, aber zu dem großen schweren Körper geworden, wie
er morgens im braun möblierten Gastzimmer beim Waschen mit
entblößter Brust, wie immer hinzugefügt wurde, der
Länge nach auf den Boden hingefallen war und tot aufgefunden
wurde, da er am Frühstückstisch nicht pünktlich
erschienen und auf das Klopfen an der Gastzimmertür keine Antwort
erfolgt war. Zu dem oder zum Bilde davon war er jetzt in der Seele des
Kindes geworden, und daneben dann, richtiger: darüber stand der
Tod, größer als er, alles beschattend,
übermächtig, herrschend, im Kinderherzen die Angst, die ziel-
und sinnlose, unbegreifliche, aufjagend und nährend, woraus dann
später im Knaben, im Jüngling jenes Schuldgefühl
erwachsen würde, das von nun an der Tod eines nahen Menschen, das
der Tod überhaupt aufregen sollte. Gehört dieses
Schuldgefühl des Unschuldigen nicht zur Bestimmung dessen dazu,
was ich hier den magisch-mythischen Menschen nenne? Lebt diese
Bestimmung durch den scheinbaren Widerspruch nicht in der
Einbildungskraft des Menschen, soweit er schöpferisch auftritt,
fort? Und geht aus diesem Widerspruch nicht die Idee des Opfers als des
Anfangs hervor?
Ich habe einmal die drei Reiche unterschieden: des Vaters, des Sohnes
und des Menschen, wie es bei mir, des Geistes, wie es bei anderen
heißt, sooft sie darauf kommen. Als ich an jenem späten
Februartag nach dem Ves-
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perbrot vor
dem in schöne, gleichmäßige Klötze zersägten
Baumstamm stand, staunend, unbegreifend, war ich im Reich des Vaters.
Als der Tod des ersten Menschen in meinem Leben diesen gewaltig
überstieg, stand ich im Reich des Sohnes, wobei es nichts
ausmacht, daß ich um weniges, um zwei Jahre, jünger war im
Reich des Sohnes, denn der Sohn ist ebenso vor dem Vater wie der Vater
vor dem Sohn, da beide durch die Ewigkeit miteinander verbunden sind
und nicht durch die Zeit. Diese beginnt mit dem Menschen oder im Reich
des Geistes oder der Ideen. Worüber folgendes noch gesagt werden
muß:
Als ich nach Absolvierung des Gymnasiums die Universität in Wien
bezog, um mich dort in der philosophischen Fakultät inskribieren
zu lassen, hatte ich das eine sehr deutliche Gefühl, die
Männer, zu deren Füßen ich jetzt sitzen, wie der
Ausdruck lautete, und deren Herrschaft ich mich im Geiste unterwerfen
würde, das wären alles große Menschen, wahrhaftig
Verkörperungen des Geistes, als solche müßten sie ein
großes und zugleich geheimnisvolles Leben leben ohne andere
Wünsche und Regungen als eben jene des Geistes. Dazu werde ich
mich von jetzt an bis auf weiteres zu stellen haben: zu dieser
offenbaren, unzweifelhaften Einheit von Mensch und Geist, Mensch und
Rede. Ich dachte nicht einmal gerne daran, daß sie auch essen,
vielleicht mit Lust und viel essen würden, wie ich auch als drei-
oder vierjähriges Kind die Meinung in mir hegte, nur Kinder und
nicht auch Erwachsene müßten schlafen gehen. Nichts
bezeichnet den Jüngling so sehr, wie daß seine Vorstellungen
sich unvermittelt in Forderungen umsetzen, ja solche vom Beginn an auf
versteckte Weise auch sind. Vorstellung und Forderung waren also:
Einheit, Einheit
61
von Mensch und
Rede und nichts daneben. Heute weiß ich sehr genau, wie diese
Vorstellung und Forderung zusammengebracht werden müsse mit jenem
Gefühl, welches der erste Tote meines Lebens im Kinde erregt
hatte. Damals fielen — ach! wie unendlich ferne noch von den Bezirken
des Bewußten — Mensch und Bild, Mensch und Idee, Mensch und
Maß auseinander, jetzt erst sollte das, was auseinandergerissen,
auseinandergegangen war, wieder zusammenkommen im Menschen oder in
dessen Idee, vielmehr in der völligen Einheit beider.
Ich erinnere mich des sonnigen heißen Oktobertages sehr genau,
als uns beide, einen um zwei Jahre älteren Bruder, im dritten
Jahre des Medizinstudiums stehend, und mich der Personenzug, von
Brünn kommend und uns in Saitz schon nahe an der Grenze gegen
Niederösterreich zu aufklaubend, durch das Marchfeld mit den
vielen rotgelben Kürbissen in Maisfeldern nach Wien brachte. Es
ging also auf die Universität, damit war es ernst geworden. Mein
Bruder erwartete viel weder von sich noch von seinen Geschwistern. So
war nun einmal seine Anlage. Irgendwie bedeutend oder auch nur
bemerkenswert konnte seiner Meinung nach nur sein, was sich
außerhalb dieser Familie zutrug oder hervorzutun suchte. Er war
ebensosehr ein Liebhaber guten Essens wie schöner Sätze,
rhetorischer Kunststücke, gewählter Redewendungen, auch
anerkannter Weltläufigkeit, was alles einzeln oder zusammen
durchaus nur bei Fremden, bei den anderen Leuten, eben außerhalb
der Familie zu finden und zu beobachten wäre. Wir waren allein in
einem Halbcoupé, es gab zwischen uns nicht mehr viel zu
verhandeln, Warnungen vor möglichen Gefahren der Großstadt
waren schon oft wiederholt worden. Ich glaube nicht, daß
Eroberergefühle irgendwelcher Art meine
62
Seele
erfüllten oder ich auch nur das Allergeringste von irgendwoher
für mich weiter erwartete. Wir schwiegen also, durften endlich
schweigen und konnten uns mit um so größerer Aufmerksamkeit,
jeder aus seiner besonderen Einstellung heraus, einem Zwiegespräch
zweier Männerstimmen im Nebencoupé hingeben, einer offenbar
älteren, satten und einer jüngeren, etwas unreifen, des
Maßes oder der Gemessenheit noch entbehrenden. Um es gleich zu
sagen: es war kein gewöhnliches Gespräch gewöhnlicher
Leute über Einkäufe oder kommenden Theaterbesuch in der
Hauptstadt des Reiches, es ging hoch her nebenan, und es wurde in
gewählter Sprache, wenn auch nicht ganz ohne die Betonung der
Menschen aus Brünn, nichts Geringeres verhandelt als die
Französische Revolution. Es fielen da Worte und tönten an
mein und meines Bruders Ohr wie Legislative, Konstituante, der Berg und
so weiter, von welchen man bisher gemeint hatte, sie würden ihre
Wichtigkeit bis zur Matura bewahren und könnten dann ohne weiteren
Schaden vergessen werden. Von Robespierre, Danton und Mirabeau wurde
nicht anders geredet, als wäre man ihnen schon einmal begegnet, im
Krapfenwäldchen, oder als wären sie aus einem Kaffeehaus
geschritten, in Brünn, und hätten sich an einem die Schulter
gerieben.
Auffallend und meinen Bruder noch mehr vielleicht als mich selber
beeindruckend waren Vergleiche des Vergangenen, der Geschichte
Angehörigen und des aus Geschichtsbüchern, die man
natürlich kannte, zu Lernenden mit der gegenwärtigen, vom
Zeitunglesen her geläufigen Politik der Parteien. Sozialismus
erschien den beiden Rednern nichts Böses, sondern etwas ernster
Erörterung durchaus Würdiges, ja es war vielleicht zu
fühlen, wie der ältere von beiden sich darauf etwas zugute
hielt, daß
63
er hier nicht
schimpfte wie sonst ein Bürger, der zweiter oder erster Klasse von
Brünn nach Wien fuhr, sondern Kenntnis und Sachlichkeit walten
ließ, wozu ihm seine Vertrautheit mit der Französischen
Revolution eben verhelfen konnte und sollte. Da wir uns Wien
näherten, kurz vor Floridsdorf, war man richtig bei Napoleon
angelangt. Auch zu diesem großen Gegenstand hatte man
offensichtlich Pathos nicht nötig, ja es konnte einem wie ein
wohlerwogener Trick erscheinen, womit man aufeinander wirken wollte,
daß man sich hier durchaus an die Gegebenheiten hielt,
Sachlichkeit übertrieb, weder Aspern noch Wagram, wo der Zug eben
noch zwei Minuten lang gehalten hatte, eine besondere Bedeutung
zuschrieb, daß keine von beiden Schlachten im geringsten als
Unterlage für patriotische Aufwallungen nach oben oder unten, je
nach Sieg oder Niederlage, benutzt wurde, wie das wohl bisher in
schriftlichen Aufsätzen, die zu klassifizieren waren vom
Deutschprofessor, geschehen war. Alle Spur von so etwas war ganz
verschwunden, weg, weg. Mein Bruder hörte sehr gespannt zu und
öffnete, als der Zug über die Donaubrücke fuhr und das
Rasseln der sich hebenden und senkenden Eisenbögen Rede erstickte,
leise die Tür zum Nebenabteil, um zu sehen, wie sie denn
aussähen, diese beiden Fremden, Unübertrefflichen und ganz
und gar der Bewunderung, der Anerkennung und des Staunens
Würdigen, und sagte dann, nachdem er die Tür ebenso leise
geschlossen: „Einer von ihnen ist noch ganz jung, so jung wie du. Bis
du einmal so wirst reden können! Doch das wird wohl nie sein.“
64
D i e L
e g e n d e v o n d e n B r ü
d e r n
Wir waren zehn. Acht und zwei. Acht Brüder,
heißt das, und zwei Schwestern. Die ältere von diesen oben
in der ersten Hälfte der Zehn, die jüngere ganz unten. Von
der Reihe der Zehn aus angesehen, waren beide nur eine Unterbrechung
innerhalb derselben. Ich sage: von der Reihe aus, ohne Rücksicht
also auf persönliche Wertschätzung, Brauchbarkeit,
Köstlichkeit und ähnliches. Das Wort Persönlichkeit und
was mit diesem Begriff zusammengefaßt werden könnte, kam
nicht vor, denn statt Persönlichkeit stand in allen Lagen und ein
für allemal der Vater. Um eben der Zehn oder um der Einheit der
Zehn willen.
Zehn hieß, wie gesagt, soviel wie acht und zwei. Niemals also
sieben und drei oder sechs und vier oder fünf und fünf.
Letzteres schon deshalb nicht, weil dabei Zwillinge durchschnitten
worden wären. Auch wurde nie acht gesagt, sondern immer, auch wenn
dabei nur der Brüder gedacht wurde, zehn, was dann eben soviel wie
acht hieß. Vornehmlich in pathetischen Augenblikken, in solchen
der Klage und Bekümmernis. Auch ist man nie in Gedanken über
die Zehn hinausgegangen, und nie ist die Möglichkeit einer
höheren Zahl in Erwägung gezogen worden. Es würde nicht
einmal gelacht worden sein, wenn einer elf oder gar zwölf gesagt
hätte. Nein, die Zehn war gegeben, wie die zweimal fünf
Finger, Zehen oder Krallen der Hände, Füße oder Pfoten,
wie das Siebengestirn oder wie Zenit und Nadir.
Kain und Abel, Isaak und Ismael, Jakob und Esau, Romulus und Remus,
Prometheus und Epimetheus waren zwei, die Brüder Karamasow drei,
der Menschgott Herakles war einer. In der Zwei liegt Kampf, Spannung,
65
Liebe, Gut und
Böse, Ordnung und Unordnung, Bedachtsamkeit und das Gegenteil
davon; in der Drei die Lösung der Spannung durch den Geist, durch
das neue Reich, die neue Unschuld, durch die Wiederkehr. Was aber ist
so eins wie das, was zwei verbindet: Himmel und Erde, Gott- und
Menschtum, was so eins wie der Bogen oder die Brücke oder der Weg!
So war Herakles Bogen und Brücke und Weg vom Menschlichen zum
Göttlichen. Er war so eins und so ein einziger, daß er der
Kinder, ihm von Erdenfrauen geboren, daß er deren Zahl und
Zahllosigkeit nicht achtete. Achilles war einer oder ein einziger, so
Siegfried und manch anderer.
Der nichtigste Mensch der Iliade, dessen Nichtigkeit noch durch die
Anmaßung größer wurde, wenn das, was nichts ist,
überhaupt vermehrt werden kann, Dolon, der Spion mit der
Ottermütze, war allerdings auch nur einer, aber man gab ihm
dafür fünf Schwestern. Womit man der Eins die Spitze und
Kraft nahm oder wodurch die Eins eben nur Zahl ward, und zwar die
kleinste und unterste von allen, und aufhörte, Einheit, Maß,
Weg, Brücke und Bogen zu bedeuten.
Jakob hatte von seinen beiden Frauen und deren zwei Mägden, Bilhah
und Zilpah, zusammen zwölf Söhne um der zwölf
Stämme willen, die daraus zu erwachsen hatten. Dinah, die Tochter
aus Lea, wird nicht mitgezählt, so daß nie davon oder von
dreizehn Kindern statt von zwölf Söhnen die Rede ist.
Niobe, die Tochter des Tantalos, hatte sieben Söhne und sieben
Töchter, die sieben Söhne als Opfer für Apollo, die
sieben Töchter als Opfer für
Artemis, die Zwillingsschwester.
Dschingis Chan besaß eine ganze Leibwache, aus Söhnen
bestehend, deren es vielleicht viele Hunderte gegeben
66
hat. Es ist
etwas Wunderbares darum: aus jeder Umarmung mit einer der vielen Frauen
ein Kind, einen Sohn zu erhalten, bis daraus ein ganzer Palast voll von
Söhnen oder eine Leibwache, ein Regiment, eine Burg oder Stadt
geworden wäre. Gleicht der Mensch hier nicht dem Strom, der aus
vielen Quellen, Bächen und Nebenflüssen anschwillt, und ist
er nicht dessen Umkehrung und Spiegel? Und wie die Quelle nicht gegen
den Strom und der Strom nicht gegen die Quelle sein kann, so ist der
Vater nicht gegen den Sohn oder der Sohn nicht gegen den Vater.
Dschingis Chan wollte auch hierin Gott gleichen, denn in Gott ist der
Same Zahl, und aus Gottes Zahlen vermöchten, so Gott sie mit
eigener Hand zu säen begänne, Dinge zu wachsen, der Art,
daß, wenn Gott irgendeine Zahl, sagen wir: sieben, im Schoß
der Erde bergen wollte, daraus dann sieben Bäume oder Gräser
aufgehen müßten oder e i n Baum
oder e i n Grashalm oder auch sieben Menschen,
Riesen oder Zwerge, und sieben Löwen und sieben Hasen oder
nur e i n Mensch, Riese oder Zwerg, oder
e i n Löwe und e i n Hase.
So viel über den Sinn und die Bedeutung der Kinderzahl im
allgemeinen, an berühmten Beispielen aus dem Mythos und der
Geschichte dargetan. Ich bin der Meinung, daß mein Hang, mir
heimlich eine eigene Zahlensymbolik zurechtzulegen oder zum mindesten
so zu tun, als wollte ich in gewissen Fällen meine
Entschließungen danach richten, in dieser Zehn der Geschwister-
oder Brüderschaft wurzle und Ausdruck meiner Gebundenheit daran
sei.
Die Zehn kam also vom Vater oder richtete sich nach dem Vater oder
würde ohne den Vater keine Einheit gebildet haben. Es darf auch so
gefaßt werden, daß der Va-
67
ter die
Handlung, das Schicksal und Drama der Zehn war. Die Mutter ist der Zahl
gegenüber der erleidende Teil gewesen, weshalb der Kinder für
sie auch an Zahl mehr oder weniger hätten sein können und sie
alle, weil als einzelne aus ihrem Leibe geboren, als solche auch in
ihrem Herzen weiterlebten. Vielleicht machte sie, wenn ich genau sein
will oder darf, bei den Zwillingen einen unterschied zwischen dem einen
und dem anderen, so daß es so aussieht, als ob sie sich hier
wenigstens einmal von der Zahl bestimmen ließ. Für den Vater
aber waren wir zehn und jeder einzelne immer auch einer von den zehn.
Um der Ordnung und um des Gesetzes willen.
Ganz von außen gesehen ist Zehn gewiß auch lächerlich
oder kann es sein, und ebenso gewiß hat es immer Menschen
gegeben, ungereifte, die gelacht haben oder lachen mußten, wenn
es hieß, daß wir zehn wären oder daß irgendeiner
von uns einer von zehn sei (ohne sonst irgend etwas Bemerkbares oder
Bedeutsames an sich). Ich will und darf keineswegs auch diese
Betrachtungsweise von seiten eines gänzlich Draußenstehenden
und Nicht-dazu-Gehörigen oder in jedem Sinne, um das Wort zu
wiederholen, Ungereiften verschweigen.
Es hatte ursprünglich meinerseits der Plan bestanden, von einem
von den zehn zu reden, und zwar von dem mir zeitlich und in der Reihe
zunächst liegenden. Da aber ausgemacht bleibt, daß ein jeder
von uns ohne Unterschied der Person einer von zehn sei, so ist dieser
Plan fallen gelassen worden, und ich bin gezwungen, vorher von den
anderen zu reden und mit wenig Worten auszusprechen, wie ein jeder von
ihnen war: in bezug auf sich selber sowohl als auch in bezug auf die
Reihe der zehn.
Da war oder ist also zunächst der Älteste. Mit dem
Metermaß gemessen der Größte oder Längste, was
niemals über-
68
rascht hat.
Eine Zeit lang wenigstens galt er auch, was die Kraft der Armmuskeln
anbelangt, für den Stärksten, war es vielleicht auch, obwohl
ein strenger Beweis dafür nicht zu erbringen ist. Entscheidend
für seine Art war die Nähe zum Vater sowohl als auch der
Abstand zwischen ihm und den anderen bis hinunter zum Jüngsten.
Ich lasse das Verhältnis zum Vater, als an dieser Stelle, wo es um
die zehn geht, nicht zu erörternd, beiseite und erkläre nur,
daß der Abstand sich zwischen ihm, dem Ältesten, und uns
ganz von selbst, man ist geneigt zu sagen: auf eine natürliche
Weise, gebildet habe und einfach da war wie etwa beim Zählen nach
eins die ganz kurze Pause. Zwischen sieben und acht ist nämlich
keine, ebensowenig zwischen drei und vier, wohl aber besteht oder
bildet sich eine solche merkbar oder unmerklich zwischen eins und zwei.
Nach zwei geht es dann ein wenig schneller und
gleichmäßiger. Auf gar keinen Fall darf der Grund zu dieser
Pause oder diesem Abstand in einer Anmaßung welcher Art immer von
seiten eben des Ältesten gesucht werden. Nein, Anmaßung war
ganz und gar nicht vorhanden, statt deren aber Verlegenheit, und zwar
in reichlichem Maße. Es war direkt so, wie wenn der Rang ganz
oben diese Verlegenheit ausgeatmet oder ausgepustet hätte oder als
ob der Träger dieses hohen Ranges (innerhalb der Reihe von zehn)
mit Verlegenheit bis zum Bersten angefüllt gewesen wäre wie
eine Aprilwolke, deren flüchtiger Schatten über die
heiter-grüne Weizensaat hinwegzieht, mit Regen.
Der zweite war unverlegen, strahlend, ein großer Liebhaber und
Schuldenmacher, der einzige, dessen Blick dem Auge des Vaters
standzuhalten, ja es zu bezwingen vermocht hat. So stark war das
Leuchten daraus und so gewinnend die Unverlegenheit. Wenn wir den
Menschen
69
mit einer
Frucht vergleichen dürfen: er schien ausgereifter in den
Zügen des Gesichtes als die anderen, gelöster, freier,
weniger flaumig. Das war mir schon als Kind bei ihm aufgefallen: dieser
Mangel an flaumigem Haar auf Stirn, Schläfen und im Nacken. Seine
einzige Hinterlassenschaft, ein ganz ausführliches und
umständliches Schuldenverzeichnis, war genau so sauber und
peinlich verfaßt und ausgeführt wie jenes Buch des Vaters,
worin in schöner, bis ins hohe Alter sich gleichbleibender
Handschrift alle Ziffern, Zahlen und Summen standen, einfach oder
doppelt oder gar nicht unterstrichen, die ihn die Söhne von ihrer
Geburt an bis zu ihrem und seinem Tode gekostet hatten. Dieser zweite
also war ein großer Spieler bis ans Ende und in seiner Freiheit
und Unbefangenheit der einzige von uns, der nicht daran glaubte oder
doch bald den Glauben daran aufgab oder sich davon losmachte, daß
wir zehn sein müßten, daß die Zehn unvermeidlich wie
ein Naturgesetz gewesen sei und nicht einige wenige in jedem Betracht
vollauf genügt haben würden. Einmal auf meine Frage hin, ob
er im Geiste es sich vorstellen könnte oder je den Gedanken
erwogen oder zugelassen habe, daß er einmal im Leben nicht
Schulden machen und mit einer gegebenen Summe sein Auskommen finden
möchte, meinte er, es wäre besser für uns alle, wenn
statt zehn nur zwei oder etwa noch drei da wären. Da ich, der
siebente von oben und vierte von unten, ihn dabei ein wenig betroffen,
vielleicht auch erschrocken und besorgt ansah und fragend wiederholte:
für uns alle? erwiderte er: Du würdest es doch nicht
spüren, da du dann ja gar nicht auf die Welt gekommen wärest.
Es würde sicherlich zwischen diesem Glücklichen oder um
mindesten Unverlegenen und dem Ältesten, der,
70
wie gesagt,
stark und verlegen war, zu jener in der Geschichte und Legende
üblichen und gewissermaßen naturgegebenen Rivalität der
zwei wie zwischen Esau und Jakob oder Romulus und Remus gekommen sein,
da alle Gegebenheiten dazu vorhanden schienen, wenn nicht die acht
darauf zu folgen vom Schicksal oder sonstwie bestimmt gewesen
wären oder besser: wenn nicht der dritte da gewesen wäre. (Im
Geiste der dritte: so aber die ältere Schwester, die vor ihm in
der Reihe stand, einbezogen wird, der vierte. Ach wie war er nicht der
dritte! Er war es viel mehr, mit mehr Entschiedenheit, als ich etwa der
siebente oder der dickste von allen der fünfte war.)
Er war in der Jugend, so ungefähr mit achtzehn Jahren, schön,
war herrlich gewachsen, hatte wundervolle, schmale, befreite
Hände, goldblondes, honigfarbenes Haar in welligen Strähnen
gescheitelt und einen leichten, federnden Gang. Ich glaube nicht,
daß ich später im Leben je einem schöneren
Jüngling begegnet bin. Doch er war zerrissen, mit sich selbst
zerfallen, ohne Maß. Er war kein Lügner, aber Wahrheit und
Unwahrheit wußte er von früh an nie ganz zu trennen, oder
beide liefen ineinander über, als ob es da keine Grenze gäbe
oder geben könnte, und er haßte das Geld, das er darum ganz
sinnlos und ohne Genuß von den Dingen, welche dafür
einzutauschen gewesen wären, wegwarf. So ist dieses schöne
und auch sonst begabte Wesen da gewesen in Zerfall und Unordnung und
war daraus nicht zu befreien, sooft es auch versucht wurde. Als Junge
oder Halbwüchsiger war sein Streben gewesen, uns Jüngere
gegen die beiden Älteren zu führen und auf diese Weise
über uns die Herrschaft auszuüben, wonach seine Seele
lechzte. Wenn wir zusammen gingen, ging er immer führend an der
71
Spitze, auch
war er nie mit den beiden Älteren zu sehen, aber es war trotz
allem seinerseits nie zu einer Herrschaft gekommen, weil wir eben
wußten oder doch fühlten, daß nichts bei ihm eine
Folge haben würde und er hinter der Herrschaft über uns nur
den Zerfall mit sich selber verdecken wollte.
Vielleicht war es auch so, daß wir lieber unterdrückt sein
als dafür gelten wollten, was ganz gewiß an der Zehn lag und
nicht an den einzelnen. So ließ sich der Jüngste, auf dem
viel lastete und auf welchen ein großes Gewicht drückte,
unter gar keinen Bedingungen den Schutz oder irgendeine Art von
Befürwortung seitens der Gouvernante gefallen, die uns zwergig
erschien und zeitlebens voll Empörung stak, sooft es nicht um die
deutsche Grammatik oder die sogenannte Regeldetri und
ähnliche Dinge ging. Nein, das durfte sie nicht wagen: für
ihn einspringen oder zwischen ihn und die Älteren treten oder mit
einer größeren Portion von der Mehlspeise eine Kränkung
oder Schmähung seitens dieser zu heilen versuchen. Von diesem
Jüngsten hieß es freilich immer, sooft die Rede der
Älteren auf ihn kam, daß er dumm sei, als ob das unbedingt
zu ihm gehörte, und daß er eigentlich auch keine Muskeln
habe trotz gutem und kräftigem Aussehen. Ersteres ist falsch. Er
war nicht dumm, er hatte nur sozusagen keine Begriffe oder Ideen oder
Zusammenhänge oder nur die allereinfachsten und plansten und fand
darum auch und aus keinem andern letzten Grunde alles, was im Haus oder
Garten oder Hof verloren gegangen war. Mir war beides schon sehr
früh als in einem gewissen Zusammenhang miteinander befindlich
aufgefallen: jener Mangel an Begriffen oder Begrifflichkeit und dieser
Spürsinn für Verlorenes oder Verstecktes oder auch dieses
Gesicht und Sehen für die puren
72
Dinge. Es
konnte auch gar nicht anders sein. Zuweilen denke ich so, daß auf
ihm als dem Jüngsten und zuunterst Gelegenen eine zu hohe oder zu
lange Säule, wenn wir in Gedanken die Reihe in eine Säule,
die von oben nach unten reichen müßte, verwandeln, ein zu
schweres Gewicht lastete, als daß es dann unten zur Bildung von
Begriffen oder Ideen hätte kommen können, zum Erfassen von
Zusammenhängen oder wie man das nennen soll, was an sich leicht,
ja gewichtlos, ganz zart ist und darum auch eine gewisse Zärte des
Lebens und Umgangs voraussetzt. Und wenn ich hier einmal sehr kühn
sein und den Versuch wagen darf, ihn zu heroisieren, und zwar aus dem
einen Grunde, weil er der Jüngste war und ihn die Liebe des Vaters
und der Brüder keinesfalls so eingehüllt hatte, wie einst
Benjamin in die Liebe Jakobs, Josephs und der Stiefbrüder
eingehüllt war, so möchte ich mich so ausdrücken:
Gleichwie sich die Türkise und Rubine, Smaragde und andere edle
Steine nur unter dem Drucke der auf ihnen lastenden Erdschichten von
ungeheurer Schwere zu bilden vermögen, so sah er, der Jüngste
und Unterste, eben nur Dinge, einzelne und durch ihre Einzelheit
überraschende, oder gab es für ihn nur solche und fand er
sie, wie gesagt, stets, sooft welche im Haus oder Hof oder Garten
verloren gegangen waren.
An diesen Jüngsten grenzte, so wir die jüngere von den zwei
Schwestern überspringen, der, welcher mir am nächsten war in
der Reihe der zehn und an dessen Gitterbett längs der Wand das
meine, solange wir Kinder waren, mit der Kopfseite rührte.
Vielleicht würde es auch zwischen uns beiden unteren zu einem mehr
oder weniger offenbaren Gegensatz gekommen sein, wenn wir beide allein
gewesen wären und nicht die Zehn als Reihe,
73
Ordnung und
Schicksal bestanden und uns aufgenommen hätte. Wir dürfen
nicht vergessen, daß in der Tat die Tendenz zu Zweiheiten oder
Paaren wie Esau und Jakob, Kain und Abel innerhalb der Reihe bemerkbar,
daß sie schließlich naturgegeben war und an dieser oder
jener Stelle Anstrengungen machte sich durchzusetzen, daß aber
die Reihe, daß die Zehn zuletzt doch immer den Sieg davon trug,
so stark war sie, so stark war wohl auch der Vater oder der Same und
Ursprung der Reihe.
Im Weltbild der Kindheit, welches in der Seele niemals, auch im hohen
Alter nicht ganz auszulöschen ist, wenn eine Kindheit und Jugend
von Grund aus Kindheit und Jugend und nichts anderes waren: grenzenlos
und unbehindert, wie es die Dinge nur in der Sage sind, ich sage: im
Weltbild meiner Kindheit war der Norden oben und der Süden unten,
und Westen und Osten waren links und rechts. Darum darf ich also sagen,
daß Felix südlich von mir lag, denn ich habe es stets so und
nicht anders empfunden. Nördlich lag dann das Zwillingspaar. Der
eine davon war geistig zurückgeblieben. Wenn er ging, rieben sich
die Schenkel gegeneinander wie die Hinterbeine gewisser Huftiere. Ich
erwähne es darum, weil die anderen alle den entschlossenen, ja
herrischen und doch auch leichten Gang des Vaters hatten, keiner mehr
als der Jüngste mit seinem Blick für Dinge. Jener war bis zur
äußersten Grenze selbstlos und ein völlig Dienender.
Und nur darum, damit sich die Natur in ihm behaupte und alles nicht
gleich verrinne oder auslaufe, kam es zuweilen und immer dann, wenn es
niemand erwartete, zu den entsetzlichsten Anfällen von Wut und
Jähzorn welche wie Knoten waren im Wesen oder wie die Augen an den
Zweigen und Stengeln der Bäume und Gräser.
74
Sein
Zwillingsbruder war der Vorzugsschüler unter den zehn, ein
ausgezeichneter Kopf mit einer starken, in keiner Lebenslage
verleugneten Liebe für schöne Diktion, für den Schwung
und die Umständlichkeit und das überraschend Indirekte der
klassischen Rhetorik und Dichtkunst, soweit diese rhetorisch war und
sich der Deklamation nicht entzog, für allerlei Kuriositäten
der Sprachbildung und des Sprachgebrauchs, für witzige Redensarten
auch aus solchen Sprachen, die er nur schlecht sprach oder im
täglichen Leben anwenden konnte, für seltene Vokabeln,
Etymologieen und Formeln des gesellschaftlichen Lebens, für
entlegene Ausdrücke der französischen Kochkunst, für
Menükarten bei Hofdiners oder solchen Festlichkeiten, die in der
Zeitung am nächsten Morgen beim Frühstück zu lesen
waren, und so weiter. Doch nichts war in seinem Leben so stark gewesen
oder so wesenhaft, daß es ihn von einer gänzlichen Hingabe
an die sinnlichen Freuden und Genüsse jeder Art abzuhalten
vermocht hätte, und er schied gleich einem alten Römer aus
der Zeit der Muränenteiche freiwillig mit einem
Pistolenschuß aus dem Leben, nachdem er sich von den Gästen
des Festmahles, das er selbst im Klub veranstaltet hatte, noch kurz vor
deren Aufbruch empfohlen hatte.
Kinder, vor allem Jungen, machen sich anders schmutzig als Erwachsene,
als etwa mein Vater, wenn er im Herbst von der Hasenjagd kam, die hohen
Stiefeln bis zum Knie mit Klümpchen von Ackererde bespritzt. Ich
würde damals etwas dafür gegeben haben, mich so schmutzig
machen zu können wie er: genau bis dahin und nicht weiter und dies
gründlich und wie einer, der es mit wirklichen Dingen zu tun hat
und nicht mit fiktiven, überwältigenden. Jungen werden
nämlich vom Schmutz über-
75
wältigt,
weil sie offenbar die Welt um sich herum noch nicht übersehen, und
sie machen sich darum auch dort schmutzig, wo niemand in Gedanken
sozusagen hinkommt oder wohin nur ein zur Aufmerksamkeit auf solche
Angelegenheiten erzogenes und bestelltes Auge im Nu zu dringen vermag:
vorn, rückwärts, an den Knieen, in den Falten und an allen
nur erdenklichen, immer feindlichen Stellen des Verrates, der
Tücke und Überraschung.
Eine Ausnahme bildete Hermann, der Sohn des Inspektors, mein und meines
Bruders Felix, eben jenes mir nächsten nach unten, südlich
also gelegenen, Jugendfreund, auch im Alter genau zwischen uns beiden
stehend. Mich hat das schon ganz früh in Staunen versetzt, wie es
denn komme, daß Hermann sich nie schmutzig mache, was immer wir
unternähmen, auch als Realschüler nicht, gewiß auch
nicht als Student oder später als Familienvater und Staatsbeamter.
Nichts blieb je an ihm, an seinem Rock hängen oder picken, kein
Stäubchen, kein Federchen, nie ein Klecks oder Fettfleck, kaum
etwas Spreu oder ein Strohhalm, sooft wir alle zusammen beim Dreschen
zusahen. Nein, alles war unberührt und glatt, auch die Haut des
Halses und der Wangen, aber das fühlte ich wohl gleich, daß
es nichts mit der Unberührtheit der Unschuld oder des Ideals zu
tun habe, sondern jener von Mustern gliche oder der Staublosigkeit der
sogenannten guten Stube seiner Mutter, der Inspektorsfrau, oder eines
Möbelstücks darin mit dem grauen Leinwandüberzug,
welcher nur an Sonntagen verschwand, oder auch dem Blanken und
Glänzenden eines sonst nicht allzu kostbaren Federmessers, das in
einem ärmlichen Lederbeutel steckt und vor jeder Operation
herausgezogen wird, wie Hermann eines hatte. Ach, Hermann trug,
möchte man sagen, alles in einem Beutel oder
76
Futteral, als
wären die Dinge nicht Dinge, sondern Muster, und als wäre er
selbst weniger ein Junge oder Mensch als ein Muster zunächst
für uns und dann überhaupt, das Muster an sich, letztlich
durchaus gegen seinen persönlichen Willen, auch ohne Absicht, denn
er war ein guter und argloser Junge.
Sein Widerpart war mein Bruder Felix. Von allen Kindern, Dorfjungen,
Gassenjungen und Wesen jeder Art und Umgebung wußte sich keiner
und keines so schmutzig zu machen wie er. Ein Sonntagmorgen im Juni.
Felix hat Geburtstag und dazu einen fertiggekauften Anzug bekommen von
heller Farbe mit allerhand Maschen und Zierat da und dort, aus der
Stadt mitgebracht und nicht vom Dorfschneider Cyprian verfertigt,
welcher alle unsere Maße aufzubewahren und bei Gelegenheit zu
kontrollieren hatte. Da der Geburtstag mit einem Sonntag zusammenfiel,
durfte Felix den Anzug auch gleich anbehalten. Nur wurde ihm von allen
Seiten mit besonderer Eindringlichkeit eingeschärft, daß er
sich heute, was immer sonst geschehe, auf gar keinen Fall schmutzig
machen dürfe und darum lieber das Spielen sein lassen solle. Als
sich Felix, das Haar wie immer nur vorn gebürstet und gescheitelt,
im Nacken aber und um die Ohren in nassen Strähnen
herunterhängend, uns auf der Terrasse zeigte, gewissermaßen
unseren Blicken sich und den Anzug darbot, war er ganz scheu vor Neuem
und verlegen und glich irgendwie einem bekränzten Opfertier. Da er
wohl wußte, daß es ihm nicht gelingen würde, sich auf
die Dauer von uns und von möglichen Spielen abseits zu halten, so
verschwand er bald, und wir verstanden auch ohne weitere
Erörterung, daß es das beste jetzt und heute sei zu
verschwinden, und riefen ihm nur noch nach, während er sich
entfernte: Felix, mach dich nicht schmut-
77
zig! Doch als
er zu Mittag noch nicht wiedererschienen, war man beunruhigt, und es
hieß ihn suchen. Sein Name wurde im Hof und im Garten aus vielen
Kehlen gerufen. Vergeblich. Felix ist nicht zu finden. Endlich aber
wird er gebracht. Von Lini, dem Stubenmädchen, das ihn
außerhalb des Gartens am Teichufer im Gras sitzend gefunden
hatte, und da sie ihn fragte, ob er denn das Rufen nicht höre und
was er überhaupt hier mache: im neuen Anzug um die Mittagstunde im
feuchten Gras sitzend, wies Felix mit dem Finger auf etwas, was Lini
augenblicklich als einen großen Fettfleck erkannte, und meinte,
er wolle sterben ... Wie war das geschehen? Als er uns auf der
Freitreppe vor dem Haus verließ, war sein ernster Vorsatz
sicherlich der gewesen: heute nicht zu spielen, sich überhaupt auf
nichts Wesentliches einzulassen wegen des neuen Anzugs und vielleicht
höchstens nur im Hof Mathis, dem Kutscher, während dieser die
Pferdegeschirre putzte, von weitem zuzusehen. Da könne ihm,
vielmehr dem Anzug nichts passieren. Doch das Unglück wollte,
daß gerade gestern der blaue Halbgedeckte von der Reparatur
gekommen war und jetzt in der Remise, frisch gestrichen, lackiert und
aufgepolstert, ganz so wie neu und überaus reizvoll aussah. Der
mußte näher untersucht und ausprobiert werden, zuerst die
vorderen Sitze, dann der Rücksitz. Unversehens war man aber oben
auf dem Kutschbock, hatte auch die neue Peitsche, die nur bei
Ausfahrten am Sonntag genommen wurde, in der Hand, und jetzt wurde
eifrig mit der Zunge geschnalzt und mit den Beinen gestrampelt, was
alles zusammen schnelle Fahrt und das Laufen der imaginären Pferde
darstellen sollte. Und da wird es wohl geschehen sein, vielleicht schon
beim Aufsteigen, vielleicht erst beim Absteigen. Felix pflegte so etwas
nie zu sehen, dafür sah ihn aber
78
Mathis, der
Kutscher: den sehr großen, dunklen Fleck aus Wagenschmiere vorn
am Knie.
Eine andere Szene aus Felix’ Kindheitstagen. Herr und Frau Kir,
Gutsnachbarn, hatten sich für Sonntagnachmittag angesagt. Die drei
Töchter, auch die jüngste, sollten mitkommen. Frau Kir war
auf sie so stolz wie Niobe auf ihre vierzehn Kinder. Auf die
Töchter und, wodurch sie sich von Niobe vielleicht unterschieden
haben mag, auf ihre Kochkunst, welche darin bestand, daß Frau Kir
oder unter ihrer Anleitung die Köchin aus allem alles zu machen
verstanden: aus Kalbfleisch Fisch, aus Spanferkel Hühnerragout,
aus Hammel Wild und so weiter. Niemals war eine Speise auf Frau Kirs
Tisch das, wofür sie mit ihrem Namen ausgegeben war, und ein
beträchtlicher Teil der Tischunterhaltung bestand darin, eben
hinter die Namen zu kommen und den Tatbestand zu erraten. Wer Witz
hatte, der verstand die Hausfrau hinzuhalten und wurde gelobt als
Kenner und auch als sonstwie gefährlich. Die jüngste von den
drei Töchtern, Olga, war in Felix’ Alter, und darum hieß es
schon die ganze Woche über, Felix dürfe Olgas wegen am
Sonntag aufbleiben und mit den Erwachsenen abends bei Tisch sitzen. Es
war das erste Mal in seinem Leben, und damit ich, der ich um sieben Uhr
ins Bett mußte, mich darob nicht kränke, wurde betont,
daß das heute eine Ausnahme sei und nur Olgas wegen geschehe. Da
das Kinderzimmer, worin wir beide lagen, an den Gang grenzte, der aus
dem Speisezimmer führte, mußte ich hören, wie Felix und
Olga nach dem Essen aus dem Speisezimmer trabten, die Tür hinter
sich zuschlagend, wie sie im Gang Verstecken spielten oder sich
gegenseitig hinter der Bodentür ein- und wiederum aussperrten,
kicherten und schwätzten. Es geschah plötzlich sogar das ganz
Unerwartete, daß
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die Tür
ins Kinderzimmer aufgerissen wurde: Felix brachte Olga, sie nicht ohne
eine gewisse Feierlichkeit an der Hand führend, an mein Bett, Olga
habe ihn geküßt, jetzt solle sie auch mich küssen. Ich
ließ es geschehen, fuhr aber gleich danach mit dem Kopf unter die
Decke und dachte mir nur, als beide wieder draußen waren: Felix
geniert sich nie. Und warum tut er es eigentlich nicht? Ich lag schon
im tiefsten Schlaf, als die Tür abermals aufging und Felix,
schluchzend, von Anscha, der Kinderfrau, hereingetragen wurde, um
endlich ausgezogen und ins Bett gelegt zu werden. Das Schluchzen galt
Olga und dem Abschied von ihr: am nächsten Morgen wurde
erzählt, daß es Mühe gekostet habe, ihn aus dem Wagen
herauszuziehen, worin Olga mit ihren Eltern und den beiden Schwestern
nachts über die Weinberge nach Hause fuhr. Kaum aber hatte Anscha
ihn ins Bett gelegt, das Gitter vorgezogen und das Licht
ausgelöscht, als Felix schon in meinem Bett lag, sich dicht an
mich drängend, von neuem jämmerlich zu weinen begann und
rief, er liebe Olga und er wolle sie ganz bestimmt später
heiraten... Mir blieb wiederum nur der eine Gedanke zu denken
übrig, daß Felix sich nie geniere und warum er es nicht tue.
Irgendwelcher Trostworte aber würde es auch darum nicht bedurft
haben, weil Felix mitten aus seiner großen Herzenserregung heraus
im Augenblick einschlief und mich somit zwang, auf den Schlaf
meinerseits für geraume Zeit zu verzichten und mich neben ihm
nicht zu rühren, damit ich ihn ja nicht aufweckte und das
Schluchzen von neuem anhübe. Es fiel mir im übrigen damit ich
auch das sage, nicht schwer, weil ich als Junge das sehr gerne tat:
wachen, wach mit offenen Augen im Bett liegen, während die anderen
schliefen und ich dem Atem der Schlafenden lauschen durfte.
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Felix’
früh erwachendes Sinnenleben kam nicht aus einem starken Begehren
— nichts war in ihm eigentlich stark und alles, sein Fleisch und so
weiter, an ihm lokker —, sondern es hing auf das engste mit seinem
Nachahmungstrieb zusammen, und dieser wiederum mit seiner überaus
großen Furchtsamkeit, welche sich vor den verschiedensten
Erscheinungen allemal mit Heftigkeit äußerte: vornehmlich
vor Zigeunern oder dem Schornsteinfeger, vor Hunden mit eingezogenen
Schweifen, die insgesamt für toll galten und vor denen jedesmal
unter Geschrei die Flucht ergriffen wurde, vor Donner und Blitzen. Man
mußte nur auf sein Gesicht achten, wenn er zuhörte: wie es
die Züge des anderen gleichsam einzog, aufsog und in die eigenen
zu verwandeln suchte. Es lag hier kein Schauspielertum vor, Felix
würde es sicherlich nur zu einem sehr mittelmäßigen
Schauspieler gebracht haben, sondern er glich darin den Menschen aus
einem primitiven Volksstamm. Und so war auch seine Furchtsamkeit: etwas
Elementares, worüber sich eine Welt der Nachahmung und Grimasse
wölbte.
Mit sechzehn Jahren wurde er nach Wien gebracht, um dort die
Handelsakademie zu besuchen, und es dauerte wohl nicht viel länger
als ein Jahr, da trug er abends einen Zylinder, fuhr im Fiaker, hielt
sich sogar zeitweise einen sogenannten Unnumerierten und unterhielt
Beziehungen zu Blumenmädchen aus dem damals besuchtesten
Varieté der Stadt. Auch das war nur Nachahmung, hinter welcher
sich ein Wesen mit einem traurigen, ja verlorenen Blick verbarg. Als er
die Akademie vor Schulschluß verlassen mußte und seine Welt
der Nachahmung zusammengebrochen schien, wurde er, bevor er bei der
Kriegsmarine zu dreijährigem Dienst eintreten sollte, zu mir
getan, der ich mein zweites Universitäts-
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jahr beendete.
Ich erinnere mich noch, wie ich erschrak, als er mir in diesen Tagen
einmal, während wir von der Zukunft redeten, sagte: Ja, wenn ich
so wie du wäre! Oder ähnlich ... Ich konnte darauf nichts
erwidern und blieb, das Gespräch abbrechend, ganz stumm, da ich
ihm doch nicht hätte begreiflich machen können, daß ich
so, wie ich bin, noch viel eher den unnumerierten Fiaker, die Schulden
und alles andere zu verstehen vermöchte, als daß einer es
über sich brächte, einen solchen Satz auszusprechen: Wenn ich
so wäre wie du ...
Wie leicht schien er es nicht zu nehmen, wie leicht nahm er es wohl
wirklich, daß er jetzt drei Jahre lang den schweren Dienst eines
gemeinen Matrosen machen müßte! Er sah auch hier nur das
Nächste und redete davon: von der Fahrt nach Pola, der
Matrosenuniform, dem Schiff und dem Meer, weil er dieses noch nie
gesehen hätte. Was dahinter war, dessen wurde mit keinem Worte
Erwähnung getan. Es war aber da und spiegelte sich in dem
traurigen, im verlorenen Blick seiner Augen. Ich habe erst später
begriffen, woher er diese Trauer im Blick hatte. Nicht vom Vater, der
innerhalb des Sozialen wohl befangen, aber sonst völlig furchtlos
war, sondern von der Mutter, an deren Auge das seine im Blick und
Ausdruck erinnerte. Es ist über jedes menschliche Maß hinaus
erschütternd, darüber nachzudenken, wie in der Natur des
Menschen ein im wahren Wortsinn grund- und bodenloser Leichtsinn auf
etwas bezogen werden dürfe und beziehbar sei, was schon darum ein
namenloses Leid genannt werden müsse, weil es da war und getragen
wurde, ohne daß es je mit Namen als das, was es war, berührt
wurde.
Felix hatte kaum einen Monat den Dienst versehen, da uns durch die
Gemeinde des Heimatdorfes die Nach-
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richt von
seiner schweren Erkrankung übermittelt wurde. Als ich im
Marinespital vor seinem Bett stand, erkannte er mich noch, für
einen Augenblick, nicht länger, und lachte ein wenig oder
versuchte, besser, sein Gesicht zu einem Lachen zu verziehen. Es war
so, wie wenn er noch einmal, zum letzten Mal, das Lachen oder das, was
so aussehen sollte, zwischen sich und das Andere, das ewig
Furchterregende zu schieben die äußerste Anstrengung machte.
Sein Tod war der erste. Es sollte von da an schneller gehen, und es war
so, wie wenn die Bahn für ihn, den Tod, damit jetzt freigelegt
worden wäre. Ich hatte diesen unmittelbar so empfunden: als
ersten, und ich hatte ihn auch als Schuld empfunden. Und die Schuld war
darum und aus keinem anderen Grunde als aus diesem da, weil jetzt einer
fehlte oder weil jetzt an Stelle der zehn neun waren. Die Schuld war da
(bestimmter): weil sich diese neun nicht schließen konnten,
gleichwie die zehn geschlossen waren. Wie schließt sich nicht im
Nu, sooft wir davor stehen und zuschauen, die Reihe der bunten
japanischen Finken, da einer von ihnen, die niemand zählt in ihrer
Unschuld, vom Ast des Baumes oder von der Stange des Käfigs
auffliegt!
Die Schuld war da wie ein Fehlen, nicht anders, wie ein Fehlen
innerhalb des Bestandes, und darum, weil sie da war, mußte sie
auch gefühlt und geborgen werden, oder mußte einer da sein,
der sie im Herzen fühlt und darin für immer birgt ...
Man darf sagen: die zehn waren durch den Tod, den ersten,
frühesten und nie bedachten oder geglaubten, gesprengt, die
Einheit der zehn war zerrissen, die Einheit vom Vater her oder vom
Gesetz des Vaters, vom Gesetz her ...
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Zuweilen
durfte es so empfunden werden, als wäre dieser Tod und diese
Schuld, weil, ich wiederhole, eines für das andere stehen darf,
der Sieg über den Vater oder über das Gesetz und die Zahl des
Vaters, und zwar von der Mutter her aus dem Reich, dem unbegrenzten,
zahllosen, der Mutter, deren Tod dann bald darauf der nächste war
...
Letzte Änderung: 5. Januar 2019