RUDOLF KASSNER


Kassner — Buch der Erinnerung

BUCH DER ERINNERUNG

1938


INHALT

Meine Lehrer
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Mythische Kindheit
43
Der zerstückelte Dionysos
43
Die Legende von den Brüdern
64
Erziehung
84
Der magische Leib
170
Erinnerung an Reisen in Nordafrika, den beiden Indien und Turkestan (1905-11)
170
Begegnungen
259
Der Heilige von Benares
259
Der Shivapriester
273
Der Bettler von Lautschin
281
Der große Schauspieler
288
Erinnerungen an Rainer Maria Rilke (1926)
294
Rainer Maria Rilke zu seinem Geburtstage am 4. Dezember 1935
302
Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe
319
Gedanken über das Glück
326
Briefe Houston Stewart Chamberlains an Rudolf Kassner
333




1. KAPITEL
MEINE LEHRER
S. 1—42

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RUDOLF KASSNER


BUCH
DER ERINNERUNG













MCMXXXVIII

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IM INSEL-VERLAG ZU LEIPZIG

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(Leere Seite)

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MEINE LEHRER

Wenn ich heute die Menschen überdenke, die mich der Reihe nach zu erziehen hatten und somit als meine Lehrer gelten dürfen, so steht unzweifelhaft an erster Stelle Fräulein Bache, die Gouvernante. Später erklärte sie selber gerne, daß sie den Grund gelegt habe zu allem, sie und nicht Herr Spatni, der Hauslehrer, der in der Reihe auf sie folgte. Das waren ihre Worte: den Grund legen. Herr Spatni sei wohl auf der Universität gewesen, sie wolle das gar nicht leugnen, sie könne ihn wohl darum zuweilen auch beneiden, aber das sei es natürlich nicht. Von den zehn Kindern, welche das Elternhaus mit der Zeit bevölkerten, waren zwei schon für das Gymnasium reif und in das Benediktinerstift Melk gebracht worden, drei noch nicht geboren, als es so geschah, daß Fräulein Bache in unser Haus trat, und zwar hatte dieses Ereignis im Jahr meiner Geburt stattgefunden. Da wir Kinder nicht in die böhmische Volksschule gehen sollten, die zudem noch weit unten im Dorf lag, so mußte eine deutsche Erzieherin aufgenommen werden, und Preußisch-Schlesien, woher Fräulein Bache kam, schien aus mehreren Gründen geeignet, jene zu liefern. Ich habe seitdem irgendwo gelesen, daß der Vater des großen Kopernikus aus demselben Städtchen stammte, darin Fräulein Bache das Licht der Welt erblickt hatte, und daß er von dort nach Polen ausgewandert sei. Es bleibt zu bedauern, daß Fräulein Bache das ebensowenig wußte wie wohl sonst etwas

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über Kopernikus und dessen Weltsystem, denn sie liebte es, sich zu rühmen, und zwar der allermeisten Dinge, die sich auf sie selbst, ihren Geburtsort und ähnliches bezogen. Sichrühmen — das war vielleicht der unmittelbarste Ausdruck ihres inneren Wesens. Dazu war sie äußerst sparsam und hatte noch zu Ostern etwas vom Weihnachtstriezel oder von den Weintrauben der letzten Lese übrig, welche im Fenstergitter ihrer Stube den Winter über hängen blieben, und konnte alles das anbieten, als uns der Gedanke an derlei Kostbarkeiten schon lange vergangen war. Sie litt an Migräne, einmal wöchentlich, war klein von Statur, woran man sich aber offenbar nicht gewöhnen wollte, denn die Kleinheit wurde stets mit ihr mitgenannt, als ob es sonst gar keine anderen kleinen Menschen mehr auf der Welt gäbe als Fräulein Bache. Auch hatte sie eine eigene Art, mit dem Handteller gegen die Nase zu fahren, so daß diese mit den Jahren anstieg und das Aussehen einer mißhandelten Sache gewann. Fräulein Baches Unarten aber waren keine, waren ihre Art und nichts anderes. Solche Menschen müssen und dürfen sich dann auch rühmen. Das gehört zu ihrer Natur und sollte auch nicht anders erwartet werden.
Was war Fräulein Bache nicht alles! Ein wenig sozialistisch gesinnt, sie fühlte mit dem Volke, wie sie das nannte, ohne auch nur die allergeringste Beziehung zum wirklichen Volk zu haben. Dieser Widerspruch fiel mir sehr früh auf. Wahr hingegen ist und für sie wesentlich, daß sie in der Kinderstube stets die Partei des im Augenblick Unterdrückten nahm, und ebenso wahr, daß sie damit bei keinem von uns ankam. Was unbegabt genannt werden muß. Ich erinnere mich sehr deutlich solcher Ausrufe wie: Das Volk hat nichts von den fünf Milliarden gesehen. Womit von Fräulein Bache die Kriegs-

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schuld Frankreichs an Deutschland gemeint wurde. Dieser Ausruf der Empörung machte auf den Fünfjährigen und auch noch etwas später jedesmal einen großen Eindruck. Trotzdem aber war oft die Rede vom Heldenkaiser und dessen ‚heldenhaftem‘ Sohn. Auch von Moltke und Bismarck. Wenn Fräulein Bache letzteren nannte, machte sie stets ein böses Gesicht, was aber keineswegs Übelwollen ihrerseits, sondern Macht ausdrücken sollte. Sie würde bei Macht, Gewalt und so fort nie die Hand geballt haben, nein, die Hand wurde überhaupt nicht geballt, sondern war zu ganz anderen Dingen da: zum Wischen, Sich-ins-Gesicht-Fahren und dergleichen. Wenn es auch gelegentlich ein Wort setzte gegen den Klerus, dessen ‚Übergriffe‘ (es wurde da immer nur das Fremdwort Klerus gebraucht, welches zum Tadel oder zu übler Bemerkung und nichts anderem da zu sein schien), so war Fräulein Bache doch sehr fromm und hatte in ihrer Jugend an mancher Wallfahrt nach Wartha in ihrer schlesischen Heimat teilgenommen. Sie war fromm, man muß hinzufügen: ausschließlich in bezug auf das Jenseits. Ohne dieses Jenseits würde es beim Sozialismus geblieben sein, beim Ressentiment, beim Mehrseinwollen, bei gar argen und gefährlichen Dingen. Das Jenseits war die große Korrektur. Es ist darum begreiflich, daß kaum zwei andere Worte so häufig und so heftig an das Ohr des Kindes drangen wie Jenseits und Diesseits. Lange vor Geographie und Landeskunde, ja alle Begriffe und Vorstellungen der letzteren beschattend. Es kamen manchmal wohl auch Details zur Sprache, das Leben im Himmel, in der Hölle und im Fegefeuer betreffend; die Hauptsache aber war die Spannung zwischen Jenseits und Diesseits, auf diese kam es an, und ihr wurde alle Wirkung überlassen.

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War das Kind als solches damals ein Problem? Wurde von Stimmungen, irgendwelchen, Notiz genommen? Fiel vielleicht einmal das Wort: Nerven? Nein, darum genügte der ‚Kleine Gurke‘ (so hieß der Verfasser der deutschen Grammatik, die von Schlesien importiert worden war) und der Kleine Katechismus. Es gab natürlich noch Rechnen, das Diktat und im letzten Jahr vor dem Eintritt in die Präparanda des Gymnasiums etwas Geographie. Diese interessierte Fräulein Bache wenig, und dafür gab es sicherlich mehrere Gründe, zu denen ich auch die eben erwähnte Diesseits-Jenseits-Spannung zählen möchte. Ich erinnere mich noch, wie ich einmal in einer Stunde des Übermutes, des Sichgehenlassens vor dem Ende und der Auflösung des Ganzen, ohne weiter Aufsehen zu erregen, die linken Nebenflüsse der Donau rechts und die rechten links aufzählte, und zwar mit äußerster Geschwindigkeit. Der ‚Kleine Gurke‘ wurde auswendig gelernt; es schien hier keinen anderen Weg der Aneignung zu geben. Im Kleinen Katechismus hingegen wurde die Aufmerksamkeit des Kindes vornehmlich auf die sieben Haupt- und Todsünden gelenkt, welche das Kernstück desselben bildeten. Und von diesen sieben waren es hauptsächlich zwei, die hervorgehoben wurden als die wichtigen und entscheidenden: die Hoffart und die Unkeuschheit. Gelegentlich auch Fraß und Völlerei, doch wurde darauf ohne Pathos eingegangen. Fraß und Völlerei nahmen sich etwas gewöhnlich, ja simpel, auch hintergrundlos neben den anderen aus und klangen zudem mehr komisch als erschütternd. Es wurde nebenbei stets und nicht nur in der Religionsstunde Hoffart gesagt, selten Hochmut. Stolz kam nicht vor. Von den Tagen der Kindheit an hat mich der Abfall der Engel mehr innerlich beschäftigt als an-

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dere Kapitel der Bibel. Vielleicht hatte ich damals schon geheimnisvolle Beziehungen zwischen dem sich eifrig rühmenden Gott und den hoffärtigen Engeln geahnt. Konnte einen anderen als den sich rühmenden Gott Hoffart, Hoffart der Kreatur, Hoffart des Engels, stören oder auch nur berühren? So stehe ich nicht an, eine ähnliche Beziehung anzusetzen zwischen der Ruhmsucht Fräulein Baches und ihrem großen, stets von neuem einsetzenden Tadel der Hoffart. Ich hatte Angst vor dem bloßen Wort Hoffart, mochte es nicht einmal gerne laut lesen, wenn es geschrieben dastand, würde es um nichts in der Welt leichtfertig in den Mund genommen haben, während zum Beispiel Fraß und Völlerei mir, wie gesagt, immer ein wenig spaßig klangen. Auch würde ich nicht ohne weiteres von einem anderen, vom Nächsten gesagt haben, er sei hoffärtig. Ich allein war hoffärtig, und das ist das Schreckliche gewesen. Ebenso würde ich um keinen Preis Ida gesagt haben durch viele Jahre hindurch, weil ich einmal mit einer Ida, die zwanzig Jahre älter als ich war, von den älteren Brüdern geneckt wurde. Ich hatte Angst, wenn am Tisch zufällig das Wort Ida, Tante Ida, irgendeine Ida fiel, und mich würde auch Idagebirge verlegen gemacht haben, sowohl das in Kleinasien, wo Paris die Herden seines Vaters weidete, als auch jenes auf der Insel Kreta, wo Zeus aufwuchs. Die Welt des Kindes ist völlig magisch gleich der des Wilden, und die Worte sind nicht der Schein und Abglanz der Dinge, sondern das Ding selbst in seiner Ganzheit und Ründe.
Hoffart war also die größte Sünde, dann kam gleich die Unkeuschheit. Sie war wohl ebenso groß und ging nur aus irgendwelchen Etikettegründen, vielleicht auch nur aus alphabetischen nach. Dazwischen gab es die Eitelkeit, weniger gefährlich und vielleicht überhaupt nur

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mit dem Fegefeuer zu bestraten. Erwachsene, Herren, Fiaker, Kavallerieoffiziere, die Kameraden eines älteren Bruders, die von der benachbarten Garnisonstadt zu uns geritten kamen, trugen damals gerne sogenannte Sechser. An den beiden Schläfen wurde das Haar ins Gesicht gebürstet, entweder in gerader Linie senkrecht gegen die Augenlinie gestutzt oder in einem Schnörkel, der irgendwie einer umgekehrten Sechs glich. Auch wir, mein Bruder Felix und ich, bürsteten uns zuweilen, wenn uns die Lust dazu ankam, solche Sechser in die Schläfen, genau so wie der eine oder andere von den Offizieren des 12. Dragonerregimentes es unlängst getragen hatte. Mode beruht auf Nachahmung, es gibt innerhalb ihres Reiches keinen anderen Weg, zu etwas zu kommen, als diesen. Sechser also waren eitel, und auf der Schulbank oder gar schon beim Frühstück fuhr uns, sooft wir damit erschienen, Fräulein Bache mit ihren beiden Händen ins Haar, um diese Sechser zu zerstören. Nur an Tagen der Migräne, wenn Fräulein Bache während der Schulstunden auf dem Sofa lag, wurden sie übersehen, und wir konnten sie, über die Schiefertafel oder den Kleinen Katechismus geneigt, so lange tragen, bis die Migräne vergangen war. Nicht ganz ohne eine gewisse allgemeine Trauer: wie wenn das und manches andere Freudige des Lebens nur in Pausen oder gar Augenblicken Geltung zu gewinnen und sich zu behaupten vermöchte oder wie wenn alles Köstliche nur der Vorwand, das Vorgeschobene einer dauernden Resignation zu sein vermöchte. Sechser also waren eitel. Sonst aber, glaube ich, war nichts eitel. Ein neuer Anzug schon deshalb nicht, weil dabei zunächst einmal von Fräulein Bache an den ersten Fleck oder Riß gedacht werden mußte.
Es war noch im letzten Jahr, da ich Fräulein Bache un

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mittelbar unterstand und bevor Herr Spatni seinen Einzug in unser Haus hielt. Ich hatte die Schafblattern gehabt und sollte gebadet werden. Damals gab es Bäder nur nach Schafblattern, Masern und dergleichen. Oder im Sommer natürlich draußen im Teich. Ohne Badehosen. Nur die Erwachsenen trugen solche. Die Jungen hatten die Hand vorzuhalten, die Kinder nichts. So war es im Dorf und überall. Es gab noch keine Nacktkultur. Das Baden nach Schafblattern, Masern, Mumps, Scharlach und Diphtheritis wurde von Fräulein Bache geleitet, von Fräulein Bache höchst eigenhändig und allein. Das war die Regel und konnte weder umgangen noch auch anders gedacht werden. Als nun am Morgen seiner letzten Visite Doktor Schindler erklärte, ich wäre wieder gesund und könnte heute abend gebadet werden, da war mein erster und eine gewisse Zeit mein einziger Gedanke der: Wie werde ich es verdecken? Wenn ich es mit der Hand tue, so berühre ich es, und das darf auch nicht sein. Warum kann die Andscha mich nicht abreiben oder die Sefka? Der Abend kam also, ich wurde in die Wanne gesteckt, und was ich dann tat, war folgendes: Um es nicht zu berühren, hielt ich die Hand nicht vor, sondern sah immerfort hin, starr und fest, als ob ich das Geheimnis der Scham mit dem Blick zuhalten oder zudecken wollte. Fräulein Bache hingegen rieb und wischte an mir herum und war unverkennbar darum bemüht, mit den Augen nicht hinzusehen und damit gleichsam an der Peripherie zu bleiben, um nicht in die Mitte zu geraten, die ich die ganze Zeit über mit den Augen festhielt. Als das Baden zu Ende war, sagte sie nur: Ich habe zwar nicht hingesehen, aber du bist kein Kind mehr, sondern ein Junge, und da hättest du die Hand vorhalten können. So viel über die Unkeuschheit.

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Das Staberl oder die Rute wurden mehr in der Rede, figürlich also, gebraucht als tatsächlich gehandhabt. Um aber das Letzte darüber zu sagen, waren sie das Wahrzeichen und auch das eigentliche Instrument, gewissermaßen das Inliegende der kompletten Anschauungslosigkeit, wodurch sich die Erziehung der Kindheit und Jugend allerorten damals hervortat. Ich will mich hier und jetzt nicht für und gegen das Staberl oder die Rute erklären, fest steht nur, daß sich diese und die Anschauung, vielmehr die Lehre durch dieselbe, gegenseitig stören müssen und daß sich etwa durch eine gleichmäßige Verwendung beider Erziehungsmittel ein harmonischer Zustand in der Seele des Kindes kaum erreichen ließe. Wenn auch kein anderer Weg zur Freiheit als dem höchsten Gut führt als von der Anschauung oder durch sie, so ist dennoch festzuhalten, daß dieser Weg ein sehr langer, wenn nicht der längste ist von allen gangbaren, während das Staberl, die Rute, der Stecken den kürzesten Weg führen sollen zu dem, was den Exekutoren als höchstes Gut erscheinen muß: zum Gesetz, heißt das, zur Regel und Vorschrift. Gibt es da eine Mitte? Gibt es überhaupt eine Mitte? Einer meiner Freunde, ein großer Schachspieler, glaubt an sie, glaubt an die Mitte, glaubt daran, daß ein Mensch aus purer Vernunft glücklich werden könne. Er sehe gewiß ein, fährt er jedesmal fort, sobald er mein unbändiges Staunen über eine solche Ansicht in meinem Gesicht lesen kann, daß der Lauf der Welt ihn bisher gründlich widerlegt habe, aber seine Ansicht bleibe trotzdem zurecht bestehen, vielmehr richtig, worauf ich ihm meinerseits zu bedeuten nie unterlasse, daß, wenn aus seiner Ansicht so etwas wie Anschauung werden solle, der Lauf der Welt noch einmal zu beginnen hätte, was wohl bei einem Wettrennen, aber nicht sonst

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angehen möchte. Und weil sich überhaupt nichts, am allerwenigsten der Anfang von etwas wiederholen lasse, so habe es seine Schwierigkeiten mit allem, was Mitte, Maß und ähnlich heiße.
Weil mich einmal einer nach dem Unterschied zwischen Ansicht und Anschauung gefragt hat: Wenn das Leben ein Ringelspiel oder eine Folge von Glücks- oder auch von Unglücksfällen und ein dem Verwandtes wäre, wenn es sich also als etwas erwiese, das auf ein ganz Bestimmtes reduzierbar sei: auf das Wohlergehen der meisten, auf die Herrschaft der Zahl, auf den Willen, so würde es darin nur Ansichten über etwas geben können, Ansichten, die zugleich Aussichten sein müßten oder dürften. Diese hätten zu wechseln, oder es könnte solche sich der eine vom anderen aneignen, weil sich nämlich alle loslösen ließen wie Klebebilder. Ansichten haben darum häufig etwas Erheiterndes, und zwar für den Anschauenden, dessen Ernst vielleicht gerade darum oft so übermäßig, überfließend ist: um des Erheiternden willen, das bloßen Ansichten anhaftet. Aus allem ist schon zu ersehen, wie es zur Anschauung kommt: dadurch, daß sich der Kreis streckt, daß er auseinandergerissen wird.
Fräulein Bache nun besaß nicht einmal das Wort, geschweige denn den Begriff Anschauung. Ich erinnere mich, wie mein unvergeßlicher Freund Eduard von Keyserling, schon blind und in seiner Blindheit voll Gesicht, mir einmal erzählte, sein Vater habe ihm und den Geschwistern, als sie noch Kinder waren, nie Sätze durchgehen lassen wie: der oder ein Vogel sitzt auf dem Baum, sondern es habe immer so gesagt werden müssen: die Amsel sitzt auf der Birke oder die Drossel auf der Eberesche. Für Fräulein Bache saß aber immer nur ein oder der Vogel auf dem oder auf einem Baume. Und wenn

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auch gelegentlich die Worte Akazie oder Linde fielen, so waren Akazie und Linde einfach nur Bäume oder die Levkoje eine Blume und gar nichts Besonderes. Oder sie rief: Der Felix ist wieder in den Beeren. Was soviel heißen sollte wie: dieser mein jüngerer Bruder sei gerade dabei, unten im Gemüsegarten einen Stachelbeer- oder Ribiselstrauch kahl zu fressen und sich dabei über und über schmutzig zu machen. Der Zusammenhang solch allgemeiner, höchst abwandelbarer Sätze mit dem ‚Kleinen Gurke‘ und dessen eminenter Wichtigkeit ist zu offenbar, als daß er weiter erörtert zu werden brauchte.
Und doch hatte dieser Mangel an Anschauung im Erziehungssystem ein Positives zur Folge, indem wir Kinder auf solche Weise dazu gebracht wurden, uns mit der Natur und der Welt um uns, darin sich gewissermaßen noch die Sonne um die Erde drehte, durch den Geruchssinn in Verbindung zu setzen, mit dem ganzen Gesicht gleichsam zu riechen, wodurch eines nicht aufkommen konnte: nämlich die Routine. Ich war sicherlich das unroutinierteste Kind auf der ganzen Erde, wir alle waren sehr unroutiniert bis zum äußersten.
Ich habe zeit meines Lebens mich bemüht, mir den Zusammenhang des Geruchsinnes mit der Erinnerung zu deuten und bin zu folgendem Ergebnis gekommen: Wenn wir das von der Zeit wegtun, abschneiden oder abschlagen, was davon in die Zukunft reicht oder Zukunft ist, so wird unsere ganze Einbildungskraft, die sich an die Zeit ansetzt oder anrankt, zur Erinnerung, in diese gleichsam zurückgeworfen. Alles Gesicht muß dann notwendig zu Geruch werden: jetzt, da die Zukunft fehlt (und nicht nur verhängt oder verdeckt ist). Die Einigung unserer Sinnesvermögen, welche in der Einbildungskraft oder durch sie statthat, so daß Farben tönen oder Gerüche

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in uns Licht- oder Tonempfindungen hervorrufen, wird sich somit jetzt in der Nase vollziehen und die Erinnerung sich als die Einbildungskraft derselben erweisen. Sobald wir aber die Zukunft, die von uns eben abgeschnitten worden war, an die Zeit wiederum ansetzen, wird sich der Geruch in Gesicht verwandeln. Es müßte sich lohnen, diese Theorie, die ich nur skizzieren kann, mit der platonischen von der Erinnerung und deren Verhältnis zu den Ideen zu vergleichen. Man würde dann auf anderem Wege zu all dem kommen, was ich je über die Einbildungskraft und deren Verhältnis zur Zeit, zur Gegenwart, zum Mythos vorgebracht habe. Man würde vor allem auf das Phantastische unserer Gegenwart oder besser: unserer Gegenwärtigkeit stoßen, wovon der Grieche keine Ahnung hatte. Die griechische Gegenwart war noch völlig gedankenlos, war Gedankenlosigkeit. Doch ich will hier nicht weiter und will mich nur freuen, diese Gedanken mit meinem ersten ‚Lehrer‘, mit Fräulein Bache, die den Grund zu allem gelegt haben wollte, zusammengebracht zu haben.
Fraulein Bache war von der Freiheit her wohl sehr wenig, zuweilen sogar nur lächerlich und nichts anderes, vom Mythos aus gesehen aber war sie mehr, war sie eine Persönlichkeit. Es hat wenig Sinn, an dieser Stelle viel von Freiheit zu reden oder sich in deren Namen zu echauffieren; statt der Freiheit steht hier, diese vertretend, der Mythos. Und um dessentwillen allein war Fräulein Bache da oder Persönlichkeit oder Mitte. Oder war statt ihrer der ‚Kleine Gurke‘ Mitte, oder war es das Schulzimmer oder ihr Sofa, sooft sie Migräne hatte, oder der Garten mit den Beeren oder der Aprikosenbaum mitten drinnen, der uralte, unerschöpfliche, von Harz triefende, oder waren es die Pollauer Berge oder der

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Windmühlberg oder der ‚Kanal‘. Oder in Augenblicken der Abwesenheit, des Sichselbstvergessens und eines Schwelgens in Erinnerung Esser. Wer aber war Esser? Zunächst einmal war er gestorben. Vor geraumer, vor unserer Zeit. Es war nur eine Photographie von ihm zurückgeblieben, die, statt in einem Album mit den Eltern und Geschwistern zu stecken, in Seidenpapier lag. Dieses war wiederum in ein Tuch gewickelt und aus dem Koffer zu holen, sooft das Bedürfnis vorlag, Esser zu sehen. Darauf, auf der Photographie, war ein Mann zu erblicken im Flauschrock mit einem Backenbart, der in langen Strähnen über einen sehr weichen Hals floß. Durch eine Brille sahen den Beschauer zwei Augen vielleicht nur darum so freundlich an, weil der Photograph auf Freundlichkeit bestanden hatte. Er war Adjunkt auf einem Rittergut in Schlesien gewesen und dort auch gestorben. An Cholera. Ich wiederhole, Esser wurde nicht zu allen Stunden und nicht an gewöhnlichen Tagen gezeigt und ging dann von Hand zu Hand, sondern nur an solchen eines offenbaren, wenn auch durch die Zeit und Umstände beschränkten Einvernehmens. Esser konnte dann als das Signal des Friedens und Bundes gelten, als nicht weniger, in seinem Zeichen war man versöhnlich, weich und kam einander nahe. Die strenge und rauhe Witterung kehrte erst wieder zurück, da er, vielmehr sein Bild, ins Tuch eingewickelt und mit Seidenpapier geschützt, im Koffer versank. Was alles an kultische Akte erinnern konnte, im Grunde genommen ein kultischer Akt war. So viel über Esser, der, in der Wirklichkeit vergessen, nur noch im Mythos lebte: im Bilde des Verlobten, als Photographie.
Innerhalb des Mythisch-Phantastischen besteht eine ganz bestimmte Beziehung zwischen dem, was ich Fräulein

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Baches Persönlichkeit nenne, und dem gänzlichen Mangel einer solchen bei Jan Spatni, der in der Reihe meiner Lehrer auf sie folgte. Ich wiederhole: innerhalb des Mythisch-Phantastischen. Im Tatsächlichen und Gegenwärtigen wäre ein solcher Satz gar zu lächerlich und überhaupt nicht auszusprechen, der Satz: weil oder insoweit Fräulein Bache eine Persönlichkeit war, war Spatni keine. Herr Spatni nämlich war dies (will sagen: keine persönlichkeit) auf keine gewöhnliche, sondern auf eine wunderbare, ja direkt phantastische Art und Weise. Er war durch sein Unbedeutendes bedeutend, was alles mit der ganz und gar ptolemäischen Welt meiner Jugendzeit, meines Heimatdorfes gegeben war. Da es keinen Riß, kein Ausweichen, kein Voneinanderloskommen. Was war er also, Spatni? Statt einer Persönlichkeit? Fast lauter ‚Vorzüglich‘ in den Zeugnissen, ,Musterhaft‘ eben daselbst im sittlichen Betragen und dank wohl vornehmlich seiner schönen Handschrift die höchste Note für die ‚äußere Form‘. Das war er. Es war auch nicht auszumachen gewesen, ob er mehr Eignung für die klassischen Sprachen oder für die Naturwissenschaften aufwies, denn das blieb hinter lauter Vorzüglich verschleiert. Er schlief, wie er zu erzählen liebte, im Zwicker, was mir stets sehr merkwürdig vorkam. In der Tat war Herr Spatni, sooft er den Zwicker abnahm, um ihn mit dem Taschentuch zu putzen, für einen Augenblick nicht da. Auch das schien mir für ihn bezeichnend. Ich unterbrach dann immer die Lektüre, das Aufsagen oder was immer es sonst war, bis er den Zwicker mit beiden Händen wieder aufgesetzt hatte. Ich bin ganz außerstande zu sagen, was für Augen Herr Spatni hatte oder welchen Ausdruck diese annehmen konnten. Der Zwicker ließ keinen durch. Zu einer gewissen Gemüts-

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erregung kam es bei ihm nur, sooft er mich und meinen Bruder Alfred zur Privatistenprüfung ins Gymnasium der nächsten Stadt brachte. Zweimal im Jahr: im Winter und im Sommer. Da hatte auch er Angst, und Wangen, Ohren, Nase und Zwicker liefen an. Wie Waggonfenster im Tunnel. Wunderbar war nur, wie die gemeinsame Angst uns nie zu verbinden, zu vereinigen vermocht hatte. Seine Angst war seine, und unsere Angst unsere, und dabei blieb es so lange, bis dann wieder seine Freude und Erlösung nach der bestandenen Prüfung seine und unsere Freude unsere wurde.
Hatte Spatni Leidenschaften, Zustände der Verliebtheit oder irgendwelcher Erregung? Einmal hieß es, er habe sich verlobt, und zwar mit der Tochter unseres Fleischers. Nichts in seinem Aussehen oder Gebaren verriet die geringste Veränderung. Wir sahen ihn wohl gelegentlich neugierig oder fragend an, aber kein Zeichen sprang von ihm zu uns hinüber. Da hören wir einmal vier Füße gehen durch den langen gekachelten Gang, der zu unserem Schulzimmer führte, vier statt zweier. Es waren seine Schritte, kurze, schnelle, diesmal, wie es schien, hastig-erregte, und daneben oder mitten darunter, zwischendurch lange, gemessene, unerregte, beinahe gemütliche. Spatni kam mit Füchsel, und Füchsel trug beruhigten Aussehens einen Stoff unter dem Arm; es war ein grüner, den sollten auch wir sehen und loben, und daraus sollte der Dorfschneider Cyprian ein Jackett bilden, wozu noch Füchsel, der aus der Stadt kam und mehr gesehen hatte als andere Menschen, schwarze Borten empfahl. Wir dachten gleich: Verlobungsfeier mit der Fleischerstochter. Aus der aber dann trotzdem nichts wurde; es blieb beim grünen Jackett, das Spatni auch trug, als ich ihn zum letzten Male zur Bahn brachte,

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von wo er dann für immer aus meinem Leben entschwand.
Füchsel oder wie er meist genannt wurde: Fixel kam zweimal im Jahr, im Herbst und im Frühjahr, ins Dorf, und zwar so sicher wie die Äquinoktien; er kam in einem sogenannten Komödiewagen, den zwei Klepper zogen, und hielt zuerst im Dorf unten beim Pfarrer und dann am Straßengraben nicht weit von unserem Hause, ,Schloß‘ genannt. Kaum daß sich die Kunde verbreitet hatte, der Fixel sei da, sah man schon vor dem Wagen sich einen Halbkreis von Männern, Frauen und Kindern bilden, daraus sich dann der Reihe nach und ohne Gedränge der eine und die andere lösten, um Fixel die Wünsche vorzutragen, leise ins aufmerksame Ohr, und dessen genaue Ratschläge entgegenzunehmen. Nach erzielter Einigung langte dann Fixel mancherlei Stoffe, Tuche, Leinen, Zitze und Schale heraus, es wurde gewählt, und ein jeder zog dann mit etwas Buntem befriedigt, ja erfreut vom Komödiewagen nach Hause. Nur den Herrensleuten, den städtischen, trug Füchsel oder Fixel den Stoff selber ins Haus, in hohen Stiefeln durch den Kot der Straßen watend, vorsichtig, gemessen, nicht ohne das Gefühl einer Mission.
Um noch einmal auf Spatni zurückzukommen, obgleich er schon im Eisenbahnzug auf und davon ist für immer, so glaube ich, daß er sein Leben, sein wirkliches, zu welchem er weiter keine Zeugnisse vorzulegen brauchte oder hätte vorlegen können, ganz woanders lebte, ferne von uns, gewiß auch im Dorf unten, aber noch weiter weg. Mag sein, daß er darunter litt, sein Leben lang Hauslehrer zu sein, da es kaum mehr zu erwarten war, daß er je die Lehramtsprüfung machen würde. Nichts lag ihm darum so ferne wie sich zu rühmen. Welcher

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Dinge immer, und wenn es keine anderen wären als das Heimatdorf in der Hanna und was dazu gehörte. Wir wußten nicht einmal, ob seine Eltern noch lebten oder ob er Geschwister hatte. Wir wußten nur, daß er in Olmütz ins Gymnasium gegangen war, weil das so im Zeugnis stand. Vielleicht litt er im allgemeinen darunter, daß er dienen mußte. Aber auch dafür fehlte es ihm an Ausdrucksfähigkeit. Die Revolte, diese in ihrer geistigsten Form als Paradox, das Paradox als bloße Erscheinung, Ironie, Witz, blieb ihm völlig versagt. Da kenne ich heute einen alten, zum mindesten älteren Butler, der ein trauriges Ereignis welcher Art immer, einen traurigen Zustand niemals ohne ein gewisses Lächeln sagen oder melden kann. Dieses Lächeln ist auf den Bericht wie ausgestreut. Ob er nun während eines sehr heftigen Gewitters bei Blitz und Donner hereinstürzt und der Herrschaft meldet: Jetzt brennt auch schon der zweite Bauernhof, diesmal aber ganz in der Nähe, oder ob er auf meine Frage, wie es den Bauern in der Gegend gehe, antwortet: Gut, immer gut, so lange, bis der Steuerexekutor da ist, stets dieses Lächeln auf allem. „Was macht Ihre Frau, Schiffner?“ „Sie ist gesund, danke, nur im Frühjahr war sie wieder ein bissel verrückt wie alle Jahre, so zwei Monate lang dauert das alleweil.“ Wiederum das Lächeln. Warum aber lächelt er? Um zu zeigen, daß an allem nichts sei und er die Dinge darum leicht nehme? Ach nein, sondern im Geheimsten, ihm kaum oder nie zu Bewußtsein Kommenden will er damit mehr ausdrücken, will er sagen: Ich bin nicht, der ich bin, und ihr seid alle miteinander auch nicht das, was ihr seid, niemand ist das, was er ist, alles ist anders und alles zuletzt nur Feuer, Zerstörung, Exekution und Wahnsinn. Das will er damit sagen. Ohne es zu wissen. Zu einem solchen oder

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einem ähnlichen Paradox hat es also Spatni nicht gebracht. Daran war manches, daran war alles, daran waren sicherlich auch die zahllosen Vorzüglich in seinen Zeugnissen und das Musterhaft im Betragen schuld.
In meiner Jugend war Erziehung zunächst und zuoberst Ausstrahlen der Autorität des Lehrers. Diese ist nun mythenbildend und nicht zu denken ohne Ruhm, Ruhmsucht und das, was sich daraus unmittelbar ergibt. Meine Lehrer im Gymnasium der kleinen südmährischen Stadt, in welches ich als öffentlicher Schüler nach der vierten Klasse eingetreten bin, versuchten mit wenigen Ausnahmen alle durch ihre Persönlichkeit zu wirken, durch angeborene, angenommene Autorität und nicht durch ein tiefes Gewissen in Sachen des Berufes und dadurch, daß sie einfach diesen schwer nahmen oder daß ihnen der Schüler wichtiger erschien, als sie sich selber vorkamen. Oder war es so, daß alles mehr Gesicht, daß alles sein Gesicht hatte und ein Professor so wie ein Professor und nicht wie ein Steuerbeamter, daß sogar ein Physikprofessor nicht wie ein Lateinprofessor aussah, daß so ein Lehrer und Bildner der Jugend mit seinem Gesicht, mit dem Bart, der Brille, dem Gang, der Grußform und Betonung der Worte zu wirken suchte, magisch also, und schließlich auch wirkte? Die Menschen heute machen weniger Umstände, und wenn sie welche machen, so wissen sie es und wird es registriert oder psychologisch gedeutet. Der erste große Zahnarzt meines Lebens, zu dem ich als Junge in Wien gebracht wurde, trug während der Ordination einen Samtrock mit weißen Perlmutterknöpfen, um den Hals die Lavallièrekrawatte, denn er wollte als Artist wirken und vom Marterstuhl mit den samtgepolsterten und befransten Armlehnen weg vielleicht auch verführen. Das wollte er, und das wurde zu-

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weilen wohl auch erwartet. Und somit suchte er sich unbewußt sehr deutlich von jenem Friseur zu unterscheiden, der in unserem Bezirksstädtchen für den besten Zahnzieher galt und es besonders auf starke Backenzähne abgesehen hatte. Wer zu ihm in leidendem Zustand mit geschwollener und verbundener Backe kam, der fand zunächst einmal, daß er nicht da war und statt seiner ein Lehrling am Haar eines Bürgers der Stadt herumschnitt oder das ragende Gebilde des eigenen pomadisierten Lockenhauptes im Spiegel besah. Der Meister mußte also erst geholt werden. Woher? Das wechselte je nach der Jahreszeit. Einmal vom Dreschen, im Herbst aus dem Weinberg oder dem Keller vor der Stadt, an Markttagen vom Markte. Er kam aber dann auch nach einigem Warten, man wurde gezwungen, sich auf den ungestrichenen Fußboden zu setzen, und nun wurde der Zahn schnell, nicht ohne den Ausruf und das Gefühl des Triumphes und unter großen Schmerzen gezogen und wie ein Böses, auf das man endlich gekommen sei, dem Bürger vor dem Spiegel, dem Lehrling mit dem pomadisierten Lockenhaupt und dem Leidtragenden selber gezeigt.
Das waren so Umstände, um die Persönlichkeit, die höchst wirksame, herum gebaut und gelagert. Letztere kam nämlich nur in sehr seltenen Fällen ohne eine mehr oder weniger große Anleihe beim Schauspieler oder bei der Schauspielerei aus. Was viel inniger, als man für gewöhnlich annimmt, mit der Rangordnung der Stände und Berufe, mit dem Typenhaften zusammenhängt und keineswegs Ausdruck von etwas Falschem und Nichtdazugehörigem, Aufgetragenem ist. Fräulein Bache war noch Mythos gewesen. Ihre Welt war durchaus ptolemäisch, Sonne um die Erde, Mitte, kapitale, gründliche Unwissenheit. Fräulein Bache hatte so wenig Talent zum Nach-

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machen, zum Gesichterschneiden wie ein Igel. Wo der Mensch in Gefahr kommt, aus seiner Mitte und dem entsprechenden Igeltum herauszufallen, dort muß etwas Schauspielertum und Nachahmung, auch Nachäfferei helfen. Und das ist ganz in der Ordnung so. Meine Lehrer am Gymnasium waren alle, ohne dadurch an Trefflichkeit einzubüßen, ein wenig Schauspieler, Deklamatoren, Liebhaber sonorer Zitate und schöner Umschreibungen. Manche begnügten sich freilich damit, ihre eigenen Gewohnheiten, Schliche, Tricks und Witze zu wiederholen und sozusagen sich selber nachzumachen und zu grimassieren. Das waren aber keineswegs die berühmten, gerühmten, der Beobachtung und Phantasie der Schüler am meisten ausgelieferten. Wer aber waren diese, wer zählte unter sie?
Der Direktor zuallererst, dem Rang gewissermaßen entsprechend. Wenn der kleine, schmächtige Mann mit dem großen Kopf und dem langen Bart, von welchem er zuweilen eine Locke gedankenvoll in den Mund nahm, um daran zu kauen, wenn dieses durchaus würdige und von Grund aus gütige Wesen, die ersten Verse der Ilias sprechend, vom Katheder sprang, den Zeigefinger der rechten Hand mit dem mächtigen Siegelring auf den Text legend, so war das keine gar so einfache und uns nicht berührende Angelegenheit, sondern so war das, was uns Schüchterne, aber keineswegs Erschrockene, jetzt anging, ein Löwe mit Löwenhaupt und Mähne und wohl auch mit der zuweilen etwas komischen Divergenz zwischen Vorne und Hinten beim Löwen, beim veritablen. Ja, das war es, oder so erschien er uns. Mit ein wenig List in den kleinen, guten, ach so guten Augen und ebensoviel Schwärmerei, süßer, darin, beides wunderbar, ja köstlich zusammengemischt. Dieselbe List zusammen mit der süßesten Schwär-

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merei sah ich einmal genau so im Blick eines wirklichen Löwen im Berliner Zoologischen Garten, der, während seine Kameraden ins Ferne und Leere blickten, ein hellblaues Täublein anging, und zwar mit allem Schleichen, Sichducken, Krümmen eines solchen löwenmäßigen Angehens oder Angreifens. Gleich als ob dieses hellblaue Täublein ein Zebra, ein Gnu oder gar eine riesengroße Giraffe wäre. Genau so und nicht anders wurde das Täublein angegangen. Doch dieses wußte sehr gut, daß es nichts dergleichen, weder ein Zebra oder Gnu noch sonst etwas von ähnlichem Ausmaße sei, und fuhr darum fort, ohne sich im geringsten stören zu lassen, die Körner vom Boden aufzupicken. Nur ab und zu flog es ein wenig auf, doch setzte es sich gleich wieder auf den Boden nieder, nicht aus Furcht, sondern nur darum, damit der Löwe etwas mehr Raum zum Anlauf bekäme und das ganze Manöver weitergehen könnte. Als ich dieses Schauspieles einmal ansichtig wurde, da fiel mir gleich unser Direktor ein. Es war dieselbe List und Schwärmerei in beider kleinen Augen, in seinen und in denen des Löwen mit dem hellblauen, einsamen Täublein.
Unser Geschichtslehrer hatte das Auftreten eines Kobolds, eines Hofnarren. Dabei war er ein durchaus wohlwollender und gerechter Mensch, den seine Schüler in allen Klassen liebten. Ich glaube, er hatte nie oder nur in den seltensten Fällen eine schlechte Note ausgeteilt, weil das auch seine eigene Lebensfreude herabgesetzt haben würde. Es war so, wie wenn Gott ihn dazu verurteilt hätte, jedes weitere Gerichtsverfahren damit abschneidend, um der Gerechtigkeit willen den Hanswurst oder Hof- und Hausnarren zu spielen. Auch war der Buckel, den er trug, kein Zeichen von Bosheit, sondern wie die Ausbiegung, das Ausgebogene eines sehr Geraden und

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ganz und gar Richtigen. Franck war alles eher als boshaft, oder wenn man es lieber so will, Francks ganze Bosheit stak im Buckel, war darin verborgen, versteckt, wie aufgehoben. Durch diesen Buckel und in ihm wurde die Menschenbosheit, die mögliche, in Güte verwandelt. Ach, es war Süßigkeit, es war Milch in Francks Buckel. Dieser lag auch verborgen in Francks immer ein wenig geschwollener Rede, vornehmlich in den Zitaten aus fremden Sprachen. Wenn er die roundheads der englischen Revolutionskriege Raundhiehds mit dem allerlängsten I aussprach, so war das nicht nur falsch, sondern auch ein Schauspiel und zischte wie eine Rakete.
Einer aber von allen war kein Schauspieler, in nichts, sondern Dionysos selbst, hatte schwarzes, lockiges, weiches Haar, kam einmal betrunken in die Klasse mit einer blutenden Beule auf der Stirn und ließ in diesem Zustand die Odyssee aus der Hand fallen, so daß sie von mir aufgeklaubt werden mußte. Er glaubte ganz sichtlich nicht an das Walten der Autorität, meinte, es müßte sogar besser ohne sie gehen, wenn man nur wollte. Was war das nicht meist für eine wichtige Angelegenheit: dieses Grüßen zwischen Schüler und Lehrer! Was wurde da nicht alles von beiden Seiten hineingelegt: in den Gruß des Schülers und in den des Lehrers. Tschager legte nur Freundlichkeit, Menschenfreundlichkeit hinein, nichts anderes. An die glaubte er ebenso wie an manches, das außerhalb des Bereiches der Schule irgendwo weit weg lag und ganz vielleicht nur im Rausch dem Menschen einverleibt werden konnte. Er war Deutsch-Tiroler und sprach Italienisch wie seine Muttersprache. Das war überhaupt etwas sehr Ungewöhnliches, daß einer irgendeine fremde Sprache auch zu sprechen verstand. Fremde Sprachen — daraus wußte man Vokabeln abzuhören, dar-

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aus und dahinein wußte man zu übersetzen, die waren Anlaß zu Kompositionen. Wer würde da je mehr erwartet haben? Nun kam aber heraus, daß dem Tschager auch das Französische geläufig und er darin eine Konversation ganz mühelos stundenlang zu führen imstande war. Ein Franzose ist da unversehens in die Stadt gekommen. Vielleicht aus Frankreich selbst, direkt aus Paris. Ein ganz echter, ein Marquis, wer weiß es, oder ein Weinreisender, wahrscheinlich ein solcher, der Emissär einer Kognakfirma. Er bleibt einige Tage in der Stadt und sitzt den ganzen Nachmittag über bis spät in die Nacht in einem der zwei Cafés der Stadt. Und Tschager sitzt mit ihm am selben Tisch den ganzen Nachmittag bis spät in die Nacht und bringt ihn dann noch ins Hotel. Und spricht Französisch, spricht es so, als ob das gar nichts wäre, lacht, spuckt, niest, hustet und schneuzt sich auf französisch, spricht mit dem Bissen im Mund und bläst den Rauch auf französisch aus seiner Zigarre. Es soll ganz toll zwischen beiden zugegangen sein, und zwar immer auf französisch, sagten einige von den Gästen des Kaffeehauses, die von ihren Tischen dem Schauspiel zusehen durften. Auffallend aber war noch eines, daß nämlich unser geliebter Geschichtslehrer, der zudem Französisch als unobligaten Gegenstand lehrte und sich in diesen Tagen hätte bewähren können, daß der Mann der französischen Zitate (l’état c’est moi usw.) gestern und heute im Café, zu dessen Stammgästen er zählte, nicht erschienen war, ja daß er sogar seinen Nachmittagspaziergang in die entgegengesetzte Richtung machte auf der Wiener Straße, um ja nicht dem Franzosen zu begegnen und auf solche Weise das eigene Französisch arger Gefahr auszusetzen.
Und trotz allem, trotz geläufigem Französisch und Ita-

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lienisch, war Tschager ohne Autorität; was er wußte, das wußte er so nebenbei, so daß er sein Wissen, wenn es zum Ausdruck kam, nur verschwenden konnte. Doch dazu war die Klasse nicht der geeignete Ort. Zum mindesten fühlte er, daß es niemand dort erwartete; vielleicht aber fühlte er auch das nicht, sondern war ihm das alles gleichgültig. Nach mehr als einem Menschenalter erfuhr ich zufällig, daß er sich eine Kugel durch den Kopf gejagt hatte. Mir fiel gleich die blutende Beule an der Stirn ein, da er an jenem Nachmittag betrunken in die Klasse kam und ich ihm die Odyssee aufheben mußte.
Was also die Schauspielerei anbelangt, die ganz unschuldig und, wie ich wiederhole, durchaus in der Ordnung war, so ist in der Tat keiner von meinen Lehrern davon freizusprechen gewesen, wenn ich Dionysos-Tschager ausnehme und vielleicht auch noch den Lateinlehrer, von dem gleich die Rede sein wird. Da ertönt etwa sehr vernehmlich am Stadtplatz nach der Sonntagsmesse, während sich die Schüler der oberen Klassen, Töchter der Stadt, geliebte, ungeliebte, der eine oder andere von den Lehrern, Beamte vom Bezirksgericht, Bürger und andere auf dem Trottoir ergehen, das Wort: Darwin. Kein Zweifel, daß der Professor der Naturgeschichte auf dem Plan erschienen ist. Zwischen zwei Fräulein, Lehrerinnen, Schwestern, ihm kaum bis zu den Schultern reichend, Lämmern mit Glöckchen. Da war er, der Atheist und Feind des Katecheten, wieder einmal auf seine eigene triumphale Art auf Darwin gekommen, und es war gut, daß es gleich die Stadt, soweit sie sich nach der Messe am Platz versammelte, erfuhr und von da aus weiterverbreiten konnte, nämlich daß er dafür stets einzustehen in der Lage sei und eben wieder dabei halte: bei Darwin, er Zelenka. So war Zelenka, und so ging er im Stadt-

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pelz zwischen den beiden Schwestern, Lämmern, über den Platz. Er wollte nicht weiter wirken, sondern nur dasein und vernommen werden. Zelenka war auch auf seine Weise dagewesen, was immer später mit ihm oder Darwin geschehen ist. Die Noten, die er verteilte, waren Einschnitte im täglichen Leben des Schülers. Nur so schienen sie oder schien ihre Verteilung Sinn zu gewinnen. Und wenn er die Grüße der Gymnasiasten auf überaus nuancierte Art erwiderte, waren das auch Noten, Gunstbezeigungen, die er so oder so verteilte, war das etwas, woran man sich für den Tag und die nächste Zeit zu halten suchte. Er konnte zuweilen mit einem in der Klasse schöntun, einen in die Wange kneifen, was alles im letzten Grunde nur Ausdruck des Machtgefühles, Gunst des Starken bedeuten sollte.
Der Lateinlehrer war also kein Schauspieler oder brauchte keine Anleihe bei der Schauspielerei zu machen, um wirken zu können, denn er war die Verkörperung seines Berufes und lebte in einer Welt von Schülergenerationen. Lächerlich zu denken, daß er etwa Physik statt alter Sprachen zu lehren gehabt hätte. Er war nicht häßlich, aber doch bis zu einem gewissen Grade abschrekkend mit seinem schwarzen drahtigen Haar, das früh grau zu werden anfing. Auch das gehörte zu ihm: dieses ein wenig Fürchterliche seines Äußeren. Unter einem sehr dicken Brillenglas quoll das Auge auf und glich, von der Seite gesehen, einem Vogelei. Sooft er die Brille abnahm, veränderte sich sofort das ganze Wesen, Sprache, Gang und alles. Das war jetzt etwas ganz anderes als vorhin bei Spatni, welcher bei derselben Prozedur gleich seine Identität verlor und wie Luft wurde, sooft er den Zwicker herunternahm und anhauchte, um ihn zu putzen. Wenn Kornitzer die Brille abnahm, war es, um

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einen Augenblick allein mit dem Text oder der Schularbeit zu sein, allein mit sich, allein auch mit dem Notizbüchlein im schwarzen Glanzledereinband, das er so unvergleichlich elegant mit der Hand aus der linken unteren Rocktasche herauszuholen wußte, um darin winzige Zeichen des Lobes oder Tadels einzutragen. Man hielt dann inne, bis die Brille, dieser Zugang, dieses Fenster zum Schüler hinaus, wieder aufgesetzt war, vielmehr man hatte sein eigenes Wesen, den Atem bis zu diesem Augenblick suspendiert. Kornitzer kannte keine Wutausbrüche, ward nie sehr laut und ungebärdig, sondern hatte so eine Art, ganz dicht an einen heranzutreten, die Distanz für den Moment aufzuheben, womit angedeutet wurde, daß man jetzt aus dem Allgemeinen herausgenommen und bis hart an die Grenze der Vernichtung gebracht sei. Das war äußerst wirksam und kostete wenig Aufwand an Stimme. Gleich in der ersten Lateinstunde der Fünften, meiner ersten öffentlichen, stellte er an Kern neben mir in der Bank eine Frage. Nur um zu versuchen, auf den Zahn zu fühlen, wie man sagt, um zu spielen. Darüber war doch kein Zweifel, daß da noch kein Ernst mit dabei sei. Bis dorthin hatte es noch Zeit, weiß Gott. Auch Kern gegenüber lag keine Absicht, keine schlimme, vor. Das Notizbüchlein wird erst in ein paar Tagen in Aktion treten, darüber herrscht allenthalben nur eine Meinung. Trotz dem unverkennbar Leichten und Spielerischen der Frage schwieg aber Kern und drückte nur ein wenig an dem herum, was nicht herauskommen wollte und wahrscheinlich überhaupt nicht da war, denn an Stelle der richtigen Antwort auf die Frage, des richtigen Wissens, diesem vorgebaut, was für andere Dinge und Vorstellungen herrschten jetzt nicht in Kerns Gehirn und Schädel! Dinge, Vorstellungen, Bilder lieblich-

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ster Art aus dem Dorf, wo sein Vater Bauer war: Kern fährt am Morgen mit dem Knecht im Leiterwagen aufs Feld, er hält die Zügel, Kern hilft der Mutter beim Füttern der Kühe und Schweine, Kern ist beim Heuaufladen dabei, Kern ministriert am Morgen bei der Messe und erhält zuweilen eine Birne dafür aus dem Pfarrgarten, Kern hat den Duft warmer Trauben in der Nase, es ist Herbst, und er denkt, daß er heuer ebenso wie im vergangenen Jahr und immer dazu verurteilt sein werde, die Weinlese zu versäumen, als ob das so sein müsse. Kern findet also die Antwort nicht und bietet den Anwesenden ein Bild drückender Angst. Währenddessen aber recken sich zwanzig- oder mehrmal zwei Finger aus allen Bänken in die Höhe und taumeln in der Luft. Auch meine. Was alles nur Kerns Angst und Nichtwissen zu verdichten vermag. Endlich ist die Antwort draußen, aber sie kam nicht von Kern, sondern von mir, der nicht gefragt ward und noch nicht wußte, daß der Ungefragte bei Kornitzer nie zu antworten hätte, selbst wenn mit seiner Antwort ein neues Sphinxrätsel zu lösen gewesen wäre. Im selben Augenblick steht Kornitzer vor mir, so dicht, daß ich seine Weste und die Uhrkette darauf schmecke, und fragt mich: Was ich wollte? Ich hätte doch etwas gesagt? Warum ich jetzt etwas gesagt hätte? Ob ich wüßte, wo ich wäre? Wie ich hieße? Auf die Frage sollte ich ihm jetzt antworten und auf keine andere.
Rebellion gegen ihn oder in seinem Bezirke wurde immer nur als sinnlos empfunden, so sinnlos, wie ein solche gegen die indirekte Rede bei Cicero oder sonstwo gewesen wäre. Es gab freilich auch, den Augenblicken der Verengung entsprechend, solche der Relaxation, der Distanz, Weite und Offenheit. Da trat dann der Oberkörper zurück, und es weitete sich der Raum zwischen

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Lehrer und Schüler und damit des letzteren Seele. Diese Art mit dem Körper zu operieren und ihn einzubeziehen in das Erziehungswerk war ebenso eindrucksvoll wie ökonomisch, insofern als daneben keine anderen Gebärden mehr in Betracht kommen konnten. Zudem wiesen sie hin auf das antike Ideal der Selbstbeherrschung, das mit den Vokabeln der lateinischen Sprache Einzug gehalten hatte in die Seele des Lehrers. So ein ganz richtiger Lehrer der lateinischen Sprache, wie Kornitzer es war, war philosophisch eher ungebildet, war auch kein Psychologe, sondern verstand es, die Magie der Sprache auszunützen und wirken zu lassen.
Weil hier Selbstbeherrschung und Herrschaft über den Schüler zusammenfielen, so standen beide, Lehrer und Schüler, stets in der richtigen Situation zueinander oder ergab sich diese stets von selbst. Was freilich nicht auszuschließen brauchte, daß es bei Gelegenheit doch auch zu falschen gekommen ist. Ich mußte in der Siebenten aus irgendeinem Grunde nach Wien. Zu einem Familienfest und um photographiert zu werden. Ich hatte dazu die notwendige Erlaubnis erhalten, denn es geschah in den wenigen Tagen der Semestralferien. Ich treffe auf der Rückfahrt im Lokalzug mit Kornitzer zusammen, der gleichfalls aus irgendeinem Grunde in Wien gewesen war. Wir zwei allein im selben Abteil: das war eine falsche Situation. Beide blickten zum Fenster in die Nacht hinaus, der eine nach rechts, der andere nach links. Vom Bahnhof ging ich zu Fuß nach Hause trotz dem kalten Winterwetter, da der enge Bahnomnibus der Stadt die falsche Situation zu einer beinahe lächerlichen gemacht haben würde. Ich kam auch einige Zeit in Latein nicht daran: es mußte Zeit vergehen, damit sich alles zwischen uns beiden wieder einrichtete.

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In Kornitzers Leben gab es keine Geschichten, keine Abenteuer, auch keine armseligen, gab es nichts daneben. Ach ja, in Wien, da war die Universitätsbibliothek, dahin, hieß es, ging er in den Ferien, und das war immerlich schon etwas. Ich will bei dieser Gelegenheit, zurückdenkend an einen Mann, den ich verehrt habe und der nun lange tot ist, die Bemerkung anbringen, daß die Menschen heute, natürlich auch schon damals, weniger Abenteuer und Abenteuerhaftes haben und hatten, weniger Zufälle, als sich das Novellisten für die Helden ihrer Erzählungen auszudenken pflegen. Nun frage ich, was jetzt an deren Stelle, an Stelle der fortune und des Zustoßenden und Zustößlichen, getreten sei. Nicht die Einsamkeit, den Begriff derselben wollen wir hier nicht mißbrauchen. Die nicht, sondern etwas anderes, sondern der Andere, der Nächste, irgendein Anderer, irgendein Nächster. Das Mittelalter konnte den Menschen noch nicht so sehen. Aus der Geschlossenheit der Gotteswelt heraus nicht. Unsere Welt hingegen ist entsetzlich offen. Was soll da die aventiure, das Zufallende, die Lockerung der festen und begrenzten Welt durch beides? Und gerade darum, wegen der unendlichen Offenheit und der damit gegebenen Abgründigkeit unserer Welt, hat jeder von uns den Nächsten, den Anderen, sind wir Doppelgestirne, die umeinander kreisen. Habe ich nicht irgendwo gelesen, daß das Weltall ebenso viele Doppelgestirne berge wie Gestirne? Muß man es ferner nicht so sagen, daß jedes Gestirn implicte ein Doppelgestirn sei? Um der Unendlichkeit, unendlichen Offenheit, um der Abgründigkeit und Ziellosigkeit der Welt willen also hatte Kornitzer den Meyer, der gleichfalls Latein lehrte. Das war bestimmt so, wir brauchen vor einer solchen Deutung keineswegs zurückzuscheuen. Beide bewohn-

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ten in einem kleinen, ebenerdigen Haus zwei einander gegenüberliegende Zimmer. Ich glaube, das Haus hat wirklich nur aus diesen zwei Zimmern bestanden. Daraus sah ich sie nun zuweilen zusammen zur Schule gehen. Wer war aber Meyer? Das ist trotz allem Einfachen eines solchen Lebens nicht ganz so leicht zu sagen. Er lehrte, habe ich eben gesagt, Latein. Daneben Deutsch. Er hätte auch etwas anderes lehren können: Mathematik, Physik, Turnen, Fechten oder Zeichnen. Er hätte aber auch gar nichts lehren können, denn niemand würde ihn für einen Gymnasialprofessor gehalten haben. Man mußte das schon wissen und Meyer kennen. Ich sehe also beide aus dem kleinen Haus treten, ich sehe sie daraus die Richtung zur Schule nehmen. Nicht immer gehen sie zusammen, aber ab und zu trifft es sich eben so. Jeder trägt einen mehr oder weniger dicken Stoß blauer Hefte. Doch wie verschieden tragen sie diese! Kornitzer, wie man sehr wichtige Dokumente trägt, Strafurteile, Entscheidendes. So etwas trägt man selbst und läßt es niemals von einem Schüler, auch nicht vom besten mit der besten Sittennote, tragen, abholen, abgeben. Meyer trägt sie schlenkernd, wie er etwa seine leere Jagdtasche zum Sattler am Stadtplatz hinträgt, weil da etwas aufgerissen sei. Man geniert sich auch vielleicht ein wenig der Hefte, geniert sich überhaupt, etwas zu tragen. Darum schlenkert man damit und tut, als ob das kein Gewicht hätte. Oder läßt sie von einem Schüler, einem Günstling, abholen. Was sind das auch schon für Geheimnisse: solche blaue Hefte mit rot angestrichenen Fehlern und Noten darunter? Meyer sieht darin nichts Geheimnisvolles, gar nichts dergleichen. Meyer war groß, breit, blond, hatte einen federnden Gang, der sich notwendig im Schlenkern mit den Heften fortsetzte. Vielleicht trägt er diese

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heute nur, weil er mit Kornitzer geht. Das hat dann schon eher ein Gesicht, und es soll alles ein Gesicht haben bei Meyer.
Meyer trägt, beiläufig gesagt, nie Hosenträger. In seiner Eleganz, im Rhythmischen derselben ist er aller Dinge sicher, auch der Hosen. Er war vor allem Jäger. Auch auf Frauen, hieß es. Doch die Hauptsache war die Jagd, der Anstand auf den Bock, wozu er gelegentlich vom fürstlich D.schen Oberförster, seinem besten Freund, eingeladen wurde. Ich sehe noch heute vor mir seine helle Haut, seine rosa Wangen, Milch und Blut, wie man da immer sagt; er war das, was man einen schönen Mann nennt, der schönste in der ganzen Stadt. Er braucht nur zu wollen, sagte meine alte Kostfrau, die ein wenig schief war. Mir fiel immer sein Hals auf. Was war das nicht für eine schöne, blonde Kalbskehle! Auch sehr weiß mit einem rosa Schimmer darauf, üppig, weich, zu üppig. Mit ihr zugleich fiel mir auch ein Messer ein, ein richtiges Fleischermesser. Nach nicht weniger als vierzig Jahren, in welchen ich ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen habe, erzählt mir einer, den ich nie vorher gesehen hatte und der gleich mir jetzt auf die Trambahn wartet, einer aus der kleinen mährischen Stadt mit dem ziemlich berühmten Gymnasium, der mich wiedererkennt: Ja, der Meyer, der ist vor Jahren an Kehlkopfkrebs gestorben, und einer seiner früheren Schüler hat den alten Mann operiert.
Ach, es war gut, die beiden jetzt nebeneinander gehen zu sehen, denn es war kein Neid zwischen ihnen, wenn auch Kornitzer gewiß lieber blondes Haar gehabt hätte, statt gar so schwarz auszusehen wie ein Teufel. Er wäre vielleicht nie auf den Bock gegangen, hätte aber gerne Erfolg bei Frauen gehabt. Diesen Ausdruck liebte er,

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wenn er nicht gerade zu Schülern sprach oder sooft er im Augenblick vergaß, daß der, mit dem er sich gerade im Gespräch befand, einmal sein Schüler war. Dafür hatte er manches andere vor Meyer voraus, das wußte man, das wußte jeder, und es ging da, während sie zusammen schritten, Kornitzer vorsichtig Pfützend ausweichend, Meyer im Gang sich wiegend und achtlos, manch ein überlegener, manch ein attischer, wissender Blick von Kornitzer zu Meyer hinüber, manch eine Finesse des gelehrten Mannes, die man später in der Klasse vor den Schülern doch nicht so leicht werde anbringen können und die vielleicht auch Meyer mit seiner ganzen Elastizität nicht immer zu verstehen Geist genug oder Lust hatte. Der Gang Kornitzers war keineswegs federend, sondern kam von weither aus dem Gang manch eines Vorfahren, der über Landstraßen, Dorf- und Feldwege höchst unverdrossen schreitend Waren getragen hatte, Felle gebräuchlicher Tiere, die zu sammeln und feilzubieten waren. Das merkte man erst, da er neben Meyer ging; die uralte Spur aber war verwischt, wenn er mit Cicero oder Tacitus in der Hand vom Katheder auf die Bänke zuschritt.
Als ich nach vielen Jahren zum letzten Male kurz nach dem Kriege sah, war er in Pension, aus seiner Schülerwelt herausgenommen, wie ausgeweidet, krank, verärgert, enttäuscht. Worüber? Natürlich darüber, daß man ihm in der Welt der Wissenschaft nicht genügend Anerkennung habe zukommen lassen. Als ich darauf erwiderte, ob es nicht hundertmal besser sei, ein ausgezeichneter Lehrer gewesen zu sein, als so ein bißchen Lob von irgendeiner Kapazität, irgendeinem Institut, irgendeiner Wissenschaftlichen Revue, und ihm erklärte, daß mein Latein, das noch immer ganz robust sei, von

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ihm allein herkomme, hielt er ein wenig inne, um diesen Satz ganz einzuziehen, einzusaugen.
Heute (nach Nietzsche) wird Ressentiment und ähnliches überschätzt, bei jeder Gelegenheit zitiert und als Erklärungsgrund herbeigebracht. Ressentiment ist so etwas wie das Ding an sich der Psychologen geworden Wer den Menschen entblößt oder ihm die Haut vom Leibe schindet, kommt freilich auf Ressentiment. Desgleichen derjenige, der den Menschen aus dessen Ordnung nimmt oder den Ordnungsbegriff leugnet. Je lebhafter, lebendiger die Idee der Ordnung im Menschengeist lebt, die Ordnung dem Menschen, der Menschenseele einverleibt ist, um so weniger empfindet der Mensch Ressentiment. Für den Menschen des Chaos bildet dieses freilich die Mitte des Wesens. Wo aber der Typus noch nicht zurückgedrängt, das Typenhafte noch fühl- und sichtbar ist, dort wird das Ressentiment sich leicht als Komik äußern oder im Komischen verflüchtigen.
So ein Mann des Chaos war wohl Hažmuka, mein Physiklehrer, ein Mann des Chaos mit Ansätzen des Komischen, um billig zu sein. Er mochte Symbole nicht. Symbole schienen ihm falsch, anmaßend, so etwas brauchte es gar nicht zu geben. Die Mütze und die Livree unseres Kutschers, der mich nach den großen Feiertagen vom Lande wieder in die Stadt zur Schule brachte, das waren für Hažmuka Symbole, und wenn so am Dienstagmorgen nach Pfingsten Wagen und Pferde über das Steinpflaster jenes Hofes klapperten, auf welchen Hažmukas Zimmer blickten, und er, bei der Morgentoilette begriffen, in Hosenträgern zum Fenster herausblickte, durch den Lärm der Hufe und Räder dazu aufgefordert, so ärgerte er sich zunächst über solchen Aufwand, aus dem Ärger aber reifte schnell der Entschluß, sich daran zu rächen

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und mich gleich heute morgen als ersten und einzigen zu prüfen. Ich erinnere mich noch, wie ich ihm auf die Frage nach der Lichtgeschwindigkeit aus einem Zustand heraus, der zu gleichen Teilen aus Zerstreutheit und Verschlafenheit bestand, da ich um vier Uhr früh schon in den Wagen mußte, allerlei Ziffern anbot, abwechselnd größere und kleinere, und auf solche Weise die Prüfung sehr bald zu Ende war. Die letzte Ursache aber seines Ärgers waren, wie gesagt, die Symbole: Mütze, Livree, die schöne Peitsche und alles andere. Halbedel, der Sohn des reichen Weinhändlers zum Beispiel, den mochte er leiden und ließ er nie durchfallen, obwohl dieser nicht nur ganz unbegabt, sondern auch faul war. Da gab es keine Symbole. Halbedel war nur reich, war der einzige Sohn eines reichen Vaters mit Weinbergen und großen Kellereien. Es blieb Halbedel nichts anderes übrig, als für reich zu gelten und zu protzen. Er war einfach der reiche Halbedel. Und wenn er einmal nicht protzen wollte, so wurden ihm die Fragen so gestellt, daß er protzen mußte: ob er diesen Anzug oder diese Schuhe auch aus Wien habe, er solle nur gleich die Marke zeigen, sonst werde es ihm niemand glauben; was für Zigarren er und sein Vater am Sonntag rauchten, ob es dann solche mit Maschen gebe; was sie etwa schon zum ersten Frühstück äßen. Rebhühner, kalte. Kalte Rebhühner? Wer ißt denn schon kalte Rebhühner zum Frühstück! Alle auf der Bank und um diese herum in der langen Kastanienallee waren still und staunten im Inneren. Es waren zumeist Bauernsöhne, die Rebhühner bisher nur auffliegen gesehen hatten im Herbst aus Stoppel- und Rübenfeldern. Da rief Pillwein, dessen Vater etwas zwischen Bauer und Bürger war, Weinberge besaß und Leder gerbte: Rebhühner mit Linsen sind das Beste, aber es

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müssen Linsen dazu sein. Wiederum großes Staunen seitens der Bauernsöhne, denn es war diesen ganz neu, daß Pillwein schon Rebhühner gegessen hatte in seinem Leben, ob zum Frühstück oder zu Mittag oder am Abend. Doch der reiche Sohn lachte nur auf und rief: Wer wird denn Linsen zu Rebhühnern essen! Pillwein, das hast du wahrscheinlich geträumt. (Der reiche Sohn sprach im niederösterreichischen Dialekt.) Das war arg. Die Bauernsöhne glaubten natürlich ihm, dem reichen Sohn, hielten Pillwein für einen Aufschneider, und alles Staunen begann in etwas wie Hohn überzugehen. Die Position war weder für Pillwein noch für die Linsen zu halten. Da rief er seinen besten Freund zu Hilfe, dessen Vater Förster war: Sinnreich, sag du es ihnen, du mußt es doch wissen. Sinnreich war aber nicht nur Pillweins bester Freund, sondern zudem ein Biest, der jetzt die Gelegenheit gekommen sah, sich an seinem Freund zu rächen, da dieser ihm seine Liebste, das heißt: das Mädchen, das er abends zu begleiten pflegte, wegzuschnappen im Begriffe war und Anstalten zu diesem Zwecke schon getroffen hatte. Darum rief Sinnreich: Wir essen zu Hause wöchentlich dreimal Rebhühner im Herbst, aber niemals mit Linsen. Ich kann es mir auch gar nicht denken. Es hatte nicht viel gefehlt, daß Pillwein geweint hätte; jedenfalls sagte er kein Wort mehr und ging allein nach Hause.
Was war nun das, was Lehrer und Schüler miteinander verband, was war das Allgemeine in einem solchen österreichischen Gymnasium der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts? Mähren war das österreichischste unter allen Kronländern der alten, auf verbrecherische Weise zerstörten Monarchie, Südmähren hatte vollends nach Wien gravitiert und war nicht sudetendeutsch gleich Nordmähren oder gar Nordböhmen. Das Allgemeine also war

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zunächst eine sehr bedeutende Musikalität, welche freilich die Schüler mehr untereinander als mit den Lehrern verband. Es gab Schülerquartette, es gab ein ganzes Orchester, es gab viele, die vier Instrumente mit Virtuosität beherrschten. Davon aber abgesehen war eine ganz bestimmte österreichische Humanität das Verbindende und Durchgreifende; sie überwog entschieden Parteigesinnungen wie die deutschnationale, die christlich-soziale, vollends den Sozialismus. Ich glaube, es gab in der ganzen Stadt nur einen einzigen Sozialisten, den späteren ersten Kanzler der österreichischen Republik. Der geläufigste Ausdruck dieser Humanität war ein aus der Antike und der Klassik stammendes, ein wenig zu allgemeines Pathos, das sehr gut mit österreichischem Patriotismus und einem Gefühl für das Kaiserhaus zusammenging.
Das Innerste aller dieser Menschen, Lehrer wie Schüler, war weich. Der Starke oder der sich auf seine Kraft Berufende wurde leicht entweder eigensinnig oder ward als Streber erkannt, gekennzeichnet und oft auch nur mißverstanden. Beides scheint mir sehr österreichisch (im alten Wortsinne) zu sein, erstens, daß Kraft schnell zu Eigensinn gerinnt oder darin erstarrt, und zweitens, daß der Starke, dank seiner Stärke Vordrängende zunächst einmal für einen Streber galt oder zu gelten hatte. Es wurde kaum je auf so etwas wie das Recht des starken Willens hingewiesen. Die Idee des Machtstaates mit der allem Mächtigen eigentümlichen Sucht, sich zu rühmen, war der Gesinnung dieser Menschen fremd. Es wäre nebenbei manches Schickliche und Passende über das Verhältnis von Macht und Recht im alten Österreich zu sagen, wozu hier nicht der Ort ist. Vielleicht war kein Staatengebilde an sich so rechtsbildend und kein Staaten-

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bürger zugleich so rechtsbewußt wie der österreichische und konnte zugleich in keinem anderen Staat, am allerwenigsten etwa im britischen, Macht an sich so sehr und so oft nur als Eigensinn in Erscheinung treten und darum sich in Ungerechtigkeit verkehren, was die eigentliche Tragik der österreichischen Geschichte gebildet hat und worauf auch das Tragische, das Leidvolle des einzelnen Menschen in Österreich zurückgeführt werden kann. Ich darf hier nur mit ganz wenig Worten andeuten, was breiter ausgeführt zu werden verdient.
Jedenfalls sollte, wenn auf das Tieferliegende und Wesentliche dieses Menschen eingegangen wird in dem so überaus kostbaren Landstrich der alten Monarchie, darauf geachtet werden, wie sich da zwei Dinge kreuzten im Menschen: eine angeborene, echte Musikalität und dann eben der Umstand, daß der Starke zunächst wenigstens unter den Strebern passiert oder als einer von dieser Sorte verdächtigt wird. Das eine scheint mir das andere auf irgendeine Weise zu bedingen. Wenn ich an das Zusammengehen dieser beiden Eigentümlichkeiten denke, an deren Kreuzung recht eigentlich, so fällt mir stets der junge B. und sein Schicksal ein, das mir durchaus als ein österreichisches erscheint, wie aus einem Protest hervorgegangen gegen die genannte Kreuzung. Der junge B. war weder musikalisch noch ein Streber oder einer, der trotz seinen Erfolgen dafür gegolten hat. Wenn er beides gewesen wäre, so würde es nicht zu dem gekommen sein, was ich eine österreichische Tragödie nennen will. Er war der einzige Sohn vermögender Eltern, gehörte den sogenannten besseren Ständen an und ward auch im besten Kosthaus der kleinen Stadt untergebracht. Er stand zwei Klassen vor mir, und ich denke seiner heute noch nach beinahe fünfzig Jahren als einer der

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anmutigsten, ja lieblichsten Erscheinungen, die mir je im Leben begegnet sind. Wenn ich mir Platons Charmides vorzustellen versuche, so schwebt mir B. vor. Er war der beste Schüler einer ausgezeichneten Klasse, wurde von den Lehrern und Kollegen in gleichem Maße geliebt, der Neid versagte vor ihm, denn alles unterlag der Bezauberung durch sein ganzes Wesen. Ich selber, der, wie gesagt, zwei Klassen unter ihm war, was in diesem Altersabschnitt sehr viel bedeutet, war glücklich, wenn er mich ansprach oder ich ihn nur sah, und würde alles für seine Freundschaft hergegeben haben. Von den Studenten der höheren Klassen hatte in den meisten Fällen jeder sein Mädchen, das er abends bis an dessen Haustür zu begleiten und dort durch ein Gespräch hinzuhalten pflegte. So begleitete zuweilen der junge B. das hübsche Töchterlein meiner Kostfrau bis zu unserer Tür oder wurde mit ihm in einer entlegenen Gasse der Stadt gesehen, was alles recht selten vorkam und in den Grenzen äußerster Sittsamkeit verlief, denn auch Zurückhaltung, ja eine große Scham, Verschämtheit gehörten zum Bezaubernden des Jünglings. Jedenfalls liebten beide einander auf eine sehr diskrete Art und Weise, und obwohl mein Herz, das Herz eines knapp Sechzehnjährigen, derselben Mädchenerscheinung zustrebte, sah ich völlig ein, daß hier nur nachgegeben werden müsse, und begnügte mich damit, Anni beim Sticken oder Patiencelegen, hinter ihr stehend, zuzusehen und von Zeit zu Zeit ihren Zopf zu halten. Nachdem der Junge B. ebenso ruhmvoll die Matura bestanden hatte, wählte er den Soldatenstand als Beruf und besuchte eine höhere Militärschule. Alles, was ich in der nächsten Zeit von ihm hörte, lautete ebenso glänzend wie das, was bisher von ihm vernommen worden war. Er wurde als

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Leutnant ausgemustert, und ihm stand der Generalstab und damit eine außerordentliche Karriere offen. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seitdem er das Gymnasium verlassen, und dann viele Jahre auch nichts mehr von ihm gehört, bis mir kurz vor dem Ausbruch des Weltkrieges einer seiner ehemaligen Mitschüler erzählte: ja der B. sei ganz verkommen gewesen, er habe getrunken und sich mit Weibern der schlimmsten Sorte abgegeben und aus alledem, aus dem Saufen und Huren, eine Art Weltanschauung gemacht und sei im Gespräche immer darauf zurückgekommen, daß es das einzige sei, was schließlich gelte. Er wäre, hieß es, an einer bösen Krankheit gestorben. Möglich aber, daß er Selbstmord verübt habe. Ich weiß das jetzt nicht mehr. Es scheint mir in diesem Fall auch ganz gleichgültig zu sein.
Hatte es hier nicht an einer Erziehung des Willens gefehlt? An einer richtigen Wertung des Willens durch ein Allgemeines, eine Idee? Vielleicht war der letzte, sozusagen metaphysische Grund der Tragödie des jungen B. ein Fehlen des Musischen. Das Außerordentliche, Vollkommene, glücklich Gefügte zerriß und kam zu einem ganz schlechten Ende, weil da ein Musisches, Musik gefehlt hatte. Er, der innerlich Vornehme, Schamvolle, litt zuletzt daran, daß er jede entschiedene, auf das Ganze losgehende Willensäußerung für Streberei und damit für wertlos gehalten hatte. Mit ein wenig Musikalität würde er möglicherweise die ‚Streberei‘ des Lebens leichter hingenommen haben. Das war es. Darum nenne ich seine Tragödie eine österreichische, weil mir das bei den Menschen meiner Heimat zusammenzugehören scheint: eben die Musikalität und der Umstand, daß einer, der etwas wollte, leicht für einen Streber galt und sich selber auch dafür hielt.




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Letzte Änderung: 26. September 2018