RUDOLF KASSNER
BUCH DER ERINNERUNG
1938
7. RAINER
MARIA RILKE ZU SEINEM SECHZIGSTEN GEBURTSTAGE AM
4. DEZEMBER 1935
S. 302—318
302
RAINER
MARIA RILKE ZU SEINEM SECHZIGSTEN GEBURTSTAGE AM 4. DEZEMBER 1935
In wenigen Wochen
werden es neun Jahre sein, daß ich unmittelbar unter dem Eindruck
seines Todes meine Erinnerungen an ihn veröffentlicht habe, worin
auch der Versuch gemacht wurde, so gut es unter solchen Umständen
in Kürze möglich war, das Grundwahre seiner
Persönlichkeit und seines Werkes herauszukehren. Heute, sind es
sechzig Jahre, daß er in Prag zur Welt kam, vielleicht als der
größte Sohn dieser Stadt, zu der er zeit seines Lebens
selten den Weg zurückfinden sollte. Heute, da ich sein ganzes Werk
noch einmal, nachdem ich damit alt geworden bin, mit Aufmerksamkeit und
Eifer durchgegangen bin, erscheint er mir bedeutender, wichtiger und
erfüllter denn je, so daß ich aus seiner Zeit niemanden
über ihn und nur ganz wenige ihm an die Seite zu stellen
wüßte.
An Künstlertum und Sammlung war ihm unter den Dichtern
Deutschlands Stefan
George ebenbürtig, doch ist der Glanz, der von
Rilkes Versen ausgeht, reiner. Vielleicht hatte es George, der
leidenschaftlichere von beiden, schwerer mit sich selbst und mit der
Welt, etwas in seinen Gedichten bleibt gewaltsam, hart, ungut, und
vergessen wir das eine nie, daß im Reiche des Geistes alles
Gewaltsame, Vergewaltigende unvermeidlich man-
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cherlei Trübes, Undurchsichtigkeiten im
Gefolge nach sich zieht. Damit darüber — beiläufig — kein
Zweifel mehr unter den Menschen herrsche: Rilke war sich bei tiefster,
innerer Bescheidenheit innerhalb des rein Menschlichen seines eigenen
hohen Ranges als Dichter immer bewußt. Ihn konnte etwas wie
Zurücksetzung (hinter George von seiten der Anhänger
desselben) vielleicht kränken, besonders wenn jene sich auf eine
ziemlich lächerliche, ja direkt alberne Weise manifestierte, wie
es in der Tat zeitweise geschehen ist, sie konnte ihn aber niemals an
sich selbst irre machen. Das übliche
Minderwertigkeitsbewußtsein des Menschen von heute, vornehmlich
des schreibenden, war ihm fremd, dazu war seine Seele zu adelig. Von
den vielen Menschen, denen ich im Leben begegnet bin, war er fraglos
der reizvollste, oder sagen wir lieber gleich: derjenige, der am
meisten die Art bewahrt hatte. Er war gänzlich durchsetzt mit Art.
Alles an ihm hatte Art oder war Art.
Ich würde von selbst gewiß nie darauf gekommen sein, neben
Rilke Nietzsche zu stellen oder bei dem einen des anderen zu gedenken.
In einem Buch über Rilke aber (von Katharina
Kippenberg) geschieht
es an mehreren Stellen, und so will ich für einen Augenblick auf
einen Vergleich zwischen zwei so durchaus entgegengesetzten,
gewissermaßen unvereinbaren Geistern und Menschen eingehen und
dabei vom Physiognomischen her das Ganze anpacken. Nietzsche war
Ohrenmensch, Rilke Augenmensch. Nietzsches dunkle Augen glühten
schwarz-glänzenden Gestirnen gleich hinter einer sehr dicken
Glaswand schärfster Brillen. Er ist Prophet durchaus, es handelt
sich bei ihm niemals um mehr oder weniger glückliche Voraussagen,
was immer leicht zu
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haben
ist und nicht viel mehr Wert hat als andere Eigenschaften des Gehirns,
als etwa ein gutes Gedächtnis, nein, Nietzsche hatte das Zeugende,
er hatte die Eingeweide des Propheten, dessen Herz, dessen Nieren.
Daher kommt dann sein Sagen, Ansagen, sein ganzer großartiger
Ein- und Ansatz. Doch wie fehlt er dort, wo es aufs Auge ankommt! Wie
sieht er da vorbei und hilft sich und anderen mit allerhand
Geistreichem, Langweiligem. Gibt es doch nichts Langweiligeres als das
Geistreiche, worin sich das Langweilige zum Unerträglichen zu
steigern scheint! Wie viele von Nietzsches Urteilen sind darum nicht
Vor-Urteile! Vorurteile des prophetischen Menschen. Wie viele seiner
Ideen nicht falsche Ideen! Ist die ,Wiederkehr des Gleichen‘ nicht das
wunderbare Beispiel einer falschen Idee, der Idee eines Ohrenmenschen,
die wahre Idee eines falschen Propheten oder die falsche eines wahren?
Von allen Menschen, um die ich irgendwie aus unmittelbarer und
mittelbarer Erfahrung weiß, würde sich keiner so wenig oder
so schlecht zum Propheten geeignet oder zu Prophetischem hergegeben
haben wie Rilke. Sein Lachen, unvergeßlich für die, die es
je gehört haben, das sich überstürzende, ihn oft selbst
wie erschütternde, das Lachen eines Knaben, das treuherzigste,
darin auch etwas vom Lachen oder dem Maulverziehen eines überaus
guten, unendlich dem Herrn ergebenen Hundes war, ich sage, dieses
wundervollste Lachen, das ich bei Männern gekannt habe,
könnte wie ein Protest gedeutet werden dagegen, das heißt:
gegen mögliche Zumutungen oder Andeutungen der Freunde oder
Freundinnen, Möglichkeiten eines Prophetischen bei ihm betreffend.
Man sehe und denke nur das Gesicht dieses völligen Augenmenschen!
Die ungepeinigte, junge, nebenbei
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ganz
unmusikalische, gar nicht ,große‘ Stirn, der zarteste, reinste
Bogen der Brauen, zwei Augen blauesten Blaus, eines Blaus, das man
zuweilen unter französischen Adeligen, den Bourbons des 17.
Jahrhunderts, findet, Augen zugleich des Knaben und des Sehers,
darunter dann die häßliche, anscheinend slawische Nase, ohne
Adel, dafür aber spürend wie keine, vor Spüren
aufgenüstert, im Atem und Sturm der Worte, sooft er, wie niemand,
vorlas, sich aufblähend. (Die Nase bei Nietzsche war in der Anlage
unbedeutend, was dann bei jener seiner Schwester so entschieden
hervortrat, zwischen dieser Stirn und diesem Kinn wie vergewaltigt und
in ihrem Lebensraum bedrängt.) Rilkes Gesicht hörte im Mund
auf, mündete im Mund, ward hier Mündung. Nach oder unter
einem solchen Mund gibt es kein Kinn mehr, das in Betracht käme.
Dieser große Mund, der da war, damit die Worte in einem
Großen, Größeren, Allgemeinen mündeten, hatte
etwas Krankes, Totes. Wie stimmt das nicht zu seiner Lehre, daß
jeder seinen eigenen Tod sterben, seinen eigenen Tod gebären
solle! Eine Lehre, die — darauf werden wir noch kommen müssen —
ebenso einer falschen Idee entsprungen ist wie die Nietzsches von der
Wiederkehr des Gleichen. Nur handelt es sich hier um die Idee eines
Augenmenschen, eines Menschen, der oft zu scharf sieht, zu sehr
hinsieht oder sich das Sehen übertreibt.
Sein Werk liegt gesammelt vor uns da. Seit seinem Tode ist nur ein Band
Späte Gedichte
hinzugekommen. Die Briefe ergänzen das Werk auf eine ganz einzige
Art und Weise. Man möchte sagen, Werk und Brief sind hier wie Rock
und Futter, doch ist letzteres aus so kostbarem Material, daß
wohl einer einmal auf den Gedanken ver-
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fallen
könnte, den Rock mit dem Futter nach außen zu tragen. Es
gibt gewiß noch wichtigere oder ebenso wichtige Briefe, aber
keine schöneren. Und hier ist auch gleich die Gelegenheit gegeben,
einem Einwand zu begegnen, der zuweilen laut wird, dem Einwand, sie
wären alle von vornherein für eine Veröffentlichung nach
dem Tode als wesentlicher Bestandteil des Gesamtwerkes geschrieben
worden. Dieser Einwand hält schon darum nicht Stich, weil er auf
einem Mißverständnis der ganzen Persönlichkeit Rilkes
beruht, denn Rilke operierte laut oder im stillen nie und unter gar
keinen Voraussetzungen mit den seit Schiller dem Deutschen allzu
geläufigen Antithesen von Kunst und Natur, Spontaneität und
Reflexion, Naiv und Sentimental und wie man es sonst ausdrücken
möchte. Alle Rhetorik, welche von sich auf Antithesen angewiesen
ist und ohne solche keinen Atem fände, ist ihm immer ganz fremd
und fern geblieben. Bei Gelegenheit kommt es in seiner Sprache zu
zierlich Versteiftem oder zu schnörkelhaft Geronnenem, niemals
aber zu bloß Begriffhaftem. Ich will auch gleich sagen, worauf
das bei ihm zurückzuführen ist, was herauszubringen mir auch
darum dringlich erscheint, weil ich dadurch in die Lage versetzt bin,
gleich jetzt das Geheimnis seiner Form aufzudecken und in Zusammenhang
damit auf die Grundidee seines ganzen Dichttums hinzuweisen.
Worauf es also zurückzuführen ist: auf sein Gefühl
für Raum, für die Raumwelt, in welcher Rilke fühlte und
sah, auf seine Art, alles in den Raum hineinzustellen und in Raumhaftes
umzuwandeln. Man lese einmal auf das, auf den Raum hin, seine Gedichte
von Anfang bis zu Ende durch. Ich könnte hier ganze Spalten mit
Zitaten solcher Raum-Metaphern bedecken. Wenn es für Rilkes
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Geist
überhaupt einen Begriff gab oder geben konnte, ein Umgreifendes,
Begreifend-Begriffenes, eine Umfassung und einen Zaun der Welt, so war
es der Raum und kein anderer, der Raum des Sehers, der Raum, in welchen
Gott mit ,Schöpferhänden‘ die Dinge hinein stellte, der
mythische Raum der Verwandlungen, eben der Raum, der zugleich Welt war,
Gottes- und Kinderwelt. Und im Anschluß daran will ich auch
gleich etwas vorbringen, was viele seiner Leser, mehr noch die
Leserinnen, überraschen, vielleicht sogar enttäuschen wird:
Es gilt nämlich unter diesen für ausgemacht, Lyrik und
Mathematik, Empfindung und Zahl — das müsse einander
ausschließen und habe nichts miteinander zu schaffen. Nun
weiß ich es aus Rilkes eigenem Munde, daß er als
Schüler, mit seinem Hauslehrer lernend, alles Mathematische, vor
allem auch Geometrie sehr geliebt und mit größtem Eifer zu
Hause, über das bei den Privatistenprüfungen Geforderte
hinaus, geübt habe. Es kostet nun nicht viel Mühe und ist
zudem in hohem Maße faszinierend, eine Verbindung herzustellen
zwischen dieser frühen Neigung für die Welt der Zahlen und
dem, was ich Rilkes Raumwelt nenne. Wenn es schon Begriffe geben
müsse, heißt das, dann sollen es lieber gleich Zahlen sein.
Denn das sind sie, die Zahlen: Begriffe aus Raum, oder als das lassen
sie sich darstellen. Rilke würde das gleich verstanden, vielmehr
eingesehen und gefühlt haben, daß sich der reine Raum in
Zahlen aufteilen ließe oder besser so: daß die Zahlen eine
Kontur, einen Rand von Raum besitzen. Ich kann darauf nicht näher
eingehen, obwohl ich den Hinweis auf solche Dinge bei ihm für
unendlich wichtiger und fördernder halte als das häufige und
völlig leere Gerede über seine Religion, und will hier nur
noch so viel darüber sagen, daß
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Rilke
mein Zahl und Gesicht, worin
von solchen Dingen gehandelt wird, besser und richtiger erfühlte
als manche andere, die gewöhnlich für derlei Dinge mehr
Kenntnis, Wissen und Spezialverstand zur Verfügung haben als die
Dichter. Rilkes Gefühl war etwas überaus Wunderbares, war
pure Genialität, so daß bei ihm nie die Gefahr von
Sentimentalität bestand. Warum? Weil es so sehr Gefühl war,
daß sich darum herum von selbst (wie am Rand der Zahl Raum) der
Verstand ansetzte, als sollte damit das Gefühl vor dem
Auseinanderfließen geschützt werden.
Ein geistreicher Mann aus Berlin hatte für Rilkes Art zu Anfang
des Jahrhunderts das Wort ,b e dichten‘ gefunden, was dann einer dem
anderen bewundernd weitergab. Er wollte damit offenbar sagen, daß
Rilke mehr ein Bedichter als Dichter sei. Wie viele andere ähnlich
geistreiche Worte ist, vielmehr: wird auch dieses mit der Zeit falsch
oder halbwahr und vermöchte einen gewissen Sinn und damit eine
gewisse Berechtigung nur dann erlangen, wenn man dabei sich das vor
Augen hält, was ich über Rilkes Beziehung zum Raum, über
die ihm eigene Raumwelt sage. In der Tat steht Rilke damit allein da
und kann mit keinem anderen Dichter welcher Literatur immer verglichen
werden.
Ich sehe nur einen einzigen Künstler, der hierin mit Rilke
verwandt ist, und dieser war die größte Schauspielerin ihrer
Zeit und wahrscheinlich aller Zeiten, war Eleonora Duse.
Wie wußte sie nicht die leere Rhetorik der Gioconda des d’Annunzio
so zu bringen, daß daraus Dichtung wurde! Je schlechter das
Stück, um so besser war sie, weil sie um so heftiger angeregt
wurde, ihren eigenen Raum, den Raum der Seele, herzugeben oder
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aus
dieser herauszuspinnen, damit die Worte, die dastehen und zu sagen
sind, leben und wachsen. Darin bestand ihre Kunst zuhöchst: den
Bühnenraum in Weltraum zu verwandeln. Sarah Bernhardt
tat genau das Umgekehrte: sie verwandelte alles, die ganze Welt, in
Theater. In der Tat hat die Duse nur in einer einzigen Rolle versagt:
als Kleopatra in Shakespeares Tragödie, weil hier der Weltraum
schon da war und nicht aus ihr erst genommen, gesponnen werden
mußte. Nur auf diesem Weg konnte es ihr gelingen, dem Theater den
alten mythisch-kultischen Sinn der Verwandlung zurückzugeben und
im wahrsten Wortsinn die Seele des Menschen oder deren Handlungen
darzustellen. Jede Handlung der Seele ist Verwandlung; was nottut, ist
allein die Seele oder die Wirklichkeit und das ganz und gar
Unersetzliche der Seele, deren reine Magie. Die Verwandlung stellt sich
dann ganz von selbst ein. Darum durfte, um das noch zu sagen, die Duse
jugendliche Rollen im eigenen, früh grau gewordenen Haar ohne
Perücke spielen.
Mit der Statuierung der Raumwelt hängt bei Rilke auch dessen
Beziehung zur Musik zusammen. Er nennt Musik in einem Gedicht: Du uns entwachsener Herzraum. Rilke
war im üblichen Sinne des Wortes unmusikalisch, hatte auch keinen
direkten Weg zur Musik. Es half ihm auch nichts, daß er eine Zeit
lang diesen Weg zu gehen und der Musik sich von der Musik her zu
nähern versuchte. Ich erinnere mich noch, wie er einmal in
München vor einem mäßigen Orchester und der noch viel
mäßigeren Symphonie eines großen Klaviervirtuosen sich
die Augen zuhielt, um auf diese Weise mehr Ohr zu sein, worauf ich, der
hinter ihm saß, ihm leise ins Ohr flüsterte, ob es nicht
trotz allem angezeigter wäre, die Ohren zuzuhalten und die Augen
aufzumachen. Was er auch gleich tat.
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Nach
dem vorhin Gesagten wird man mich wohl verstehen, wenn ich jetzt sage,
daß auch Rilkes Musik räumlich war, die Musik seines Orpheus
der Sonette: Ordnung heißt das, Ordnung innerhalb des Raumes,
Gestalt gewordener Zwischenraum, genau dies. Seine Musik ist gleichsam
der Zwischenraum im Raum und ist da, damit ,der Widerspruch rein‘ sei.
So tönen seine Dinge von selbst: aus Reife, so tönen sie das
reine Wachstum im reinen ,Herzraum‘. Die andere Musik wäre dann
die übermusikantische eines Richard
Strauß, die Musik, um in Rilkes Terminologie zu bleiben, des
unreinen Widerspruchs, die Musik des ewig Unheiligen, die Gabe also,
die überaus erstaunliche und ganz an der Oberfläche
gewiß auch geniale, alles, auch eine Folge von Speisen oder
Getränken, in Musik zu setzen.
Um auf den ,reinen Widerspruch‘ zurückzukommen, wir sagen:
Körper und Seele — und meinen damit zunächst Gegensätze,
weil wir in Gegensätzen zu denken haben und, soweit wir denken,
der Satz des Widerspruches gilt. Für Rilke aber, auch für die
Duse oder Cézanne,
der hier als Raumkünstler im eben bedeuteten Sinne nicht vergessen
werden darf, ist das, was Körper und Seele verbindet im Weltraum,
ist das, was den Zwischenraum zwischen beiden füllt oder
überspannt, Musik, ist die Ordnung, die tönende, des Orpheus.
Von hier aus wäre auch Rilkes Versmaß und die Vorherrschaft
des Rhythmischen einzusehen, ja noch mehr: sein und jeder Rhythmus zu
begreifen. Auch das, daß Rilke nie ein Verskünstler,
Strophenbauer wie Platen
und andere hätte sein können, denen allen der reine, heilige
Raum gründlich abgegangen ist, der Raum der Seele und der
Verwandlung. Rilkes Sonette sind als solche, als bloße Form
keineswegs überzeugend.
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Zu
dieser seiner Raumwelt möchte ich noch das eine hinzufügen:
Rilke war nicht Romantiker, seine Lyrik ist aus vielen und ganz
bestimmten Gründen unromantisch. Und an Stelle der romantischen
,Faulheit‘, gegen welche darum schon nichts vorgebracht werden soll,
weil ihr die Wunderblüte eines Mörike,
des letzten und dichtesten Romantikers, entsproß, an Stelle auch
des romantischen ,Einfalls‘ setzte Rilke die ,Arbeit‘, einen Begriff
und ein Wort, das er einwandfrei aus der Werkstätte der im Raum
bildenden Künstler bezogen oder dessen Gültigkeit er sich bei
diesen, im besonderen bei Rodin, hatte
bestätigen lassen.
Die Romantiker sind von der deutschen Musik nicht wegzudenken und ihre
schönsten Lieder sind Texte zu Noten. Rilkes Gedichte stehen, ich
wiederhole, in unmittelbarer Beziehung zu den bildenden
Raumkünsten. Rilke befindet sich, um ihn einmal historisch genau
zu fixieren, innerhalb der hohen europäischen Lyrik des 19.
Jahrhunderts am Ende jenem Bewegung, die in England mit dem nie genug
zu preisenden John
Keats ihren Anfang genommen hat und als Lyrik des Augenmenschen
bezeichnet werden kann, wenn man sie von jener des deutschen sangbaren
Lieds Eichendorffs
oder Mörikes im Sinne meines physiognomischen Weltbildes
unterschieden haben will. Das soll nicht mehr bedeuten als eine
bloße Konstatierung und sei vor allem denen gegenüber
festgehalten, die vielleicht auch das Werk Rilkes unter den Begriff
oder den Sammelnamen des Barocks gebracht haben möchten, und zwar
aus mancherlei Gründen, denn Rilke war nun einmal
Altösterreicher, stammte aus Prag, der schönsten Barockstadt
der Welt, und schließlich ist es angenehm und zudem ganz
ungefährlich, mit einem so großen Wort vor einem staunenden
Publico allerlei Sprünge zu versuchen dahin und dorthin.
312
Wodurch
sich aber Rilke von der ganzen Nachfolgeschaft des John Keats
unterscheidet, besser: worin er über sie hinausgeht, ist etwas
ganz anderes als der Barock, etwas, das schließlich nur einem
Deutschen, im besonderen Falle einem Deutschen des alten
Österreichs, gelingen konnte: eine deutliche Vertiefung. Das Wort
ist leider so abgegriffen. Ich meine aber, daß hier wirklich, wie
man sich da ausdrückt, dem Faß der Boden ausgeschlagen wurde
und durch Hartes hindurch die Spur uns zu Quellen führt, die
verstopft schienen, und sich somit alles flüssiger, bewegter,
schwebender und grundloser darstellen konnte. Wir sind hier abermals
bei unserer Raumwelt angelangt, denn in der Tat ist die in den meisten
Fällen etwas ästhetenhafte Bilderwelt der anderen hier Bild-
und Raumwelt, der Raum Seele geworden. ,Räume aus Wesen‘ nennt er
in der zweiten Elegie, der schönsten von allen, die Engel.
Aus dieser Idee der von mir angezeigten Raumwelt können und
müssen wir alles andere für die seelische Welt des Rilkeschen
Gedichtes Entscheidende und Bestimmende gewinnen. Und ich will hier im
großen und ganzen, Schlag auf Schlag, das aufeinander folgen
lassen, was deren Wesen umschreibt, wobei sich uns auch das zu ergeben
haben wird, daß es keine andere wie immer geartete Lehre eines
Dichters von hohem Rang gebe als die, welche aus der vollkommenen
Einheit von Dichter und Gedicht, Schöpfer und Werk selbst zu uns
spricht. Alles übrige ist kaum mehr als bloßes Gerede,
völlig ziel- und sinnlos, und gleicht einem Schlag ins Wasser.
Freilich ist es nicht immer leicht, diese Einheit und daraus oder damit
die Lehre zu gewinnen, und verlangt vom Leser ebensoviel Umsicht und
Würde wie Entsagung.
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Ganz
entscheidend für Rilke und als beinahe logische Folge aus dem
Begriff der Raumwelt erscheint mir das, daß der Mensch Rilkes,
und das ist immer ein Liebender, eine Liebende (,ihr in einander
Genügten‘), daß Rilke selbst, seine Seele nie aus dem
Paradies herausgegangen ist oder daraus herauszubringen war. Von jener
berühmten Vertreibung hat er sich tatsächlich nicht betroffen
gefühlt. Gott war (für die allerlängste Zeit wenigstens)
herausgegangen oder hat sich unsichtbar gemacht, die Engel sind ganz
sicher daraus verschwunden und hinter die Sterne getreten, nicht so der
Mensch. Darum hat sich dieser auch nicht vom Tier wesentlich oder,
besser, wesenhaft getrennt oder ist es zwischen Mensch und Tier zu kaum
mehr als einer Entfremdung gekommen. Das ist wichtig, aber nicht so
wichtig wie, daß darum dem Menschen Rilkes unter allen
Umständen eines fehlt: der Trotz, der Trotz Kains, der Trotz
Luzifers und aller Lichtbringer und Ausgestoßenen. Gibt es eine
Welt, worin Trotz so unvorstellbar und so sinnlos wäre wie in
jener Rilkes? Freilich ist dieser Mangel an Trotz darum noch nicht
Demut oder wozu sonst die eifrigen Prediger über Rilke so etwas
machen möchten. Dafür aber ist daraus ganz und gar der Engel
der Elegien zu verstehen und der Umstand, daß dieser nichts mit
dem christlich-katholischen Engel zu tun hat, worauf übrigens
Rilke in einem Briefe des letzten Bandes zu sprechen kommt.
Jeder Engel ist schrecklich.
Es ist nun klar, daß darum auch
zwei weitere Begriffe oder Ideen oder Vorstellungen bei Rilke nicht
vorkommen: die Schuld und noch weniger die Sünde. Der
,sündhafte‘ Mensch innerhalb seiner Raumwelt kann wohl lasterhaft
sein, wie die Tiere, von denen sich der Mensch, wie gesagt, nie
wirklich getrennt hat, wie etwa
314
Affen
Laster haben, aber niemals Sünder. Ich kann mir denken, daß
Rilke so etwas wie den Amfortas im Parsifal
als unerträglich empfunden haben würde, wenn er je den
Versuch gemacht hätte, auf die Welt Richard Wagners, die ihm
fremdeste, einzugehen. ,Sünder‘ in seiner Welt ist der
Versäumende, der ,Verfehlende‘, der Mensch des unreinen
Widerspruchs, der Ungenaue, derjenige, der nicht bis zum Sein (als dem
einzigen Ziel in einer Welt der Einheit und Einigung der Lebendigen und
der Toten) gelangt. Davon handelt mit größter
Eindringlichkeit die vorhin zitierte zweite Elegie:
Denn wir, wo wir fühlen,
verflüchtigen; ach wir
atmen uns aus und dahin; von Holzglut
zu Holzglut
geben wir schwächern Geruch. Da
sagt uns wohl einer:
ja, du gehst mir ins Blut, dieses
Zimmer, der Frühling
füllt sich mit dir... Was
hilfts, er kann uns nicht halten,
wir schwinden in ihm und um ihn. Und
jene, die schön sind,
o wer hält sie zurück?
Unaufhörlich steht Anschein
auf in ihrem Gesicht und geht fort.
Wie Tau von dem Frühgras
hebt sich das Unsre von uns, wie die
Hitze von einem
heißen Gericht. O Lächeln,
wohin?
Indem sich nach der Vorstellung und Angabe der Genesis das Paradies
hinter dem ersten Menschenpaar schloß und der ausgeschiedene
Mensch sich auf der übrigen, auf der freien Erde verteilte,
geschah es auch, daß sich Körper und Seele oder Seele und
Geist schieden und eine neue Welt sich formte: die Welt des Geistes,
die Welt der Ideen, die Welt auch des Monumentalen, jene Welt, in
welcher ein Strich gezogen ist zwischen Genuß und Arbeit,
Genuß und Pflicht.
Rilkes Raumwelt ist nun im bestimmtesten Sinne weder eine des Geistes
noch eine der Ideen oder der Monumen-
315
talität,
sondern ganz und gar eine der Seele. Wie keine andere eines modernen
Dichters. Geist ist nur wie der Rand der Seele, wie Entzweiung, wie die
Entzweiung Liebender. Die Verfasserin des zu Anfang genannten neuen
Buches über Rilke sagt sehr richtig, bei ihm gebe es nur Liebende
und Geliebte, aber nicht die Liebe als solche, Eros. Rilke ist ein
völlig unplatonischer Mensch, für welchen die Liebe, deren
Idee und Begriff wesenhafter ist als die Liebenden selber, als Gaspara
Stampa, als die portugiesische Nonne oder wie sie sonst heißen.
Oder wenn man bei Rilke von Platonismus reden darf, so ist es einer des
Fleisches, worin irgendwo und irgendwann einmal Entbehrung Genuß
wird:
Liebende, euch, ihr in einander
Genügten,
frag
ich nach uns. Ihr greift euch. Habt ihr Beweise?
Wie erschütternd ist nicht dieses:
Habt ihr Beweise? Der echte Platoniker hat sie: in der Idee und in der
Ordnung durch Begriffe, in der Monumentalität der Ideen und
Ordnungen, und lebt davon sozusagen a priori. Weshalb er auch das
unsägliche Ihr greift euch
von den oft allzu säglichen Beweisen getrennt haben will. Rilke
aber möchte, daß wir durch unser Greifen, durch den
,unendlichen‘ Genuß hindurch zum Beweis kommen. Woraus
natürlich niemals Sünde in irgendeinem dogmatischen Sinn,
wohl aber allerhand Laster entstehen können. Soviel ich
weiß, ist Rilke der Geisteswelt Chinas zu keiner Zeit näher
getreten, doch lebt in ihm etwas von dieser, denn auch sie sieht oder
findet keinen Grund, das Vernünftige und das Paradiesische zu
trennen, oder vermöchte in einer solchen Trennung nur den Ausdruck
der Flachheit zu erblicken.
Rilkes Raum- und Seelenwelt aber fände ihr hohes Beispiel weniger
in der des alten Chinas, als in jener des alten
316
Ägyptens,
ferner, wenn auch auf einem ungleich tieferen Niveau, in der
Gräberwelt der alten Etrusker. Daher bewußt-unbewußt
seine Vorliebe für beide. Die schon erwähnte Vorstellung vom
Tode, die Idee vom Gebären des eigenen Todes ist über
Jahrtausende hinweg dem Gräberkult der alten Völker verwandt.
Ich muß auf Rilkes Beziehung zur Figur Christi zurückkommen,
von welcher seinerzeit in meinen Erinnerungen an ihn der Eingang zu
einer Deutung seines Werkes gesucht wurde. Christus hat der
Gräber- und damit auch der Raumwelt der alten Völker ein Ende
bereitet. Das ist der Sinn seiner Worte: Lasset die Toten die Toten
begraben. Der Sinn aber seines Opfertodes ist neben anderem auch der,
daß wir unseren eigenen Tod nicht zu gebären haben oder
daß dieses Gebären des eigenen Todes der alten Könige
aus den Jahrtausenden der Pyramiden seit Ihm seinen Sinn verloren hat
und nicht mehr die Rede davon sein kann. In der Tragödie besteht
er gleichfalls nicht mehr, wenn er auch im Mythos von Dionysos Zagreus
(bezugnehmend auf W. Ottos bedeutsames Buch Dionysos), von jenem Gotte, der
zerreißt und dann zerrissen wird, bestanden haben mag. Doch Rilke
hat der Sinn für die Tragödie ebenso gefehlt wie der für
den Gottmenschen. Kann man ihn, ich meine den Sinn Christi, mehr
verfehlen als dadurch, daß man die Mutter über den Sohn
stellt (was auch nur in einer Raumwelt möglich ist) und Maria in
der Pietà des Marien-Lebens
sagen läßt:
Jetzt liegst du quer durch meinen
Schooß,
jetzt
kann ich dich nicht mehr
gebären.
Von hier führt dann ein direkter
Weg zur achten Elegie, die er mir gewidmet hat.
317
O Seligkeit der k l e i n e n
Kreatur,
die
immer b l e i b t im Schooße, der sie austrug;
o
Glück der Mücke, die noch i n n e n
hüpft,
selbst
wenn sie Hochzeit hat: denn Schooß ist alles.
Ich erinnere mich wohl, wie er zu mir
von diesem inneren Glück der Mücke viele Jahre vor der
Abfassung der Elegie in einer jener Unterredungen im Tiergarten von
Duino sprach, da auch die Rede vom Mittler und Mittlertum und von
seiner Beziehung dazu war. Wahrscheinlich bezieht sich die Widmung
darauf ebenso wie auf gewisse Stellen in meinem Grundriß einer
universalen Physiognomik, der Einleitung zu Zahl und Gesicht. Als ich ihn im
Sommer 1923, zehn Jahre nach den Duineser Frühlingswochen, zum
letzten Male sah, sprachen wir nicht mehr davon. Es war zwischen uns
darüber auch nichts mehr zu sagen.
Man lese in Verbindung mit dem, was über das Grab und den
Schoß hier gesagt ist, eines seiner bedeutendsten Gedichte, das Requiem auf den Tod des jungen
Grafen Wolf von Kalckreuth. Auf eine größere Art ist vom
Selbstmord nie gesprochen worden als hier. Es geht nicht um den
Selbstmord eines alten Römers und Stoikers, noch um den eines
christgläubigen Menschen, sondern um den einer Seele innerhalb der
Raumwelt.
Daß du zerstört hast. Daß
man dies von dir
wird
sagen müssen bis in alle Zeiten.
Ich habe gesagt, daß das
Monumentale aus Rilkes Welt ausgeschlossen bleibt, wobei ich aber, um
mit der Einschränkung nicht zurückzubleiben, an die
Monumentalität der Geisteswelt gedacht habe. Es gibt freilich auch
eine der Seelenwelt, welche sich mit jener der Gräber deckt. Die
sah Rilke, oder nach dieser eiferte seine Seele. Daher stammte dann
auch seine Liebe oder Vorliebe
318
fürs
Kleine. Ebensowenig wie es für ihn die Liebe an sich gab, sondern
nur Liebende und Geliebte, so gab es für ihn auch nicht die
Größe, sondern nur große Dinge, Könige,
Gottvater, Moses, den König, vor den Esther tritt im Gedichte, und
dann eben die Kleinen, die Mücken. Und dazwischen war er, der
Dichter, der Gespannte und Spannende.
Rilke fehlte jeder Sinn für die Idee des Geschichtlichen oder
für Ideenverbindungen und weiter auch für ideelle Bindungen.
Auch von hier aus gelangen wir zu seiner Raumwelt und zu seinem
Nichtverstehen der Christusfigur, welche gewissermaßen an der
Grenze von Mythos und Geschichte steht. Rilke wollte oder konnte nur
den Mythos einsehen.
Und jetzt komme ich zu einem letzten: zu Rilkes Beziehung zum Traum und
weiter zur Theorie der Psychoanalyse S. Freuds. Auch hier haben wir uns
seine Raumwelt als Unterlage zu denken, um ihn ganz zu begreifen, seine
Raumwelt mit den aufzudeckenden Traumschichten, in welcher dann der
Zeit keine andere Funktion bleibt, als die Bildung solcher Schichten
oder Lagerungen zu fördern. Es ist zu beachten, daß, was
immer man aus den vagen Vorstellungen der üblichen Leser heraus
dagegen vorbringen möchte, Rilke ganz und gar nicht als
Traumdichter zu bezeichnen sei wie etwa Swinburne oder Hofmannsthal,
dessen Andreas-Fragment in
seiner Eigenschaft als Traumdichtung die Stufe des Sublimen erreicht.
Rilke war auch im Leben viel weniger das, was man einen Träumer
nennt, und viel mehr das, was man als medial bezeichnet. Es ist in der
Tat so, wie wenn bei ihm kein Unterschied zwischen Träumen und
Sehen bestände oder wie wenn für ihn Träumen und Sehen
so eines wären wie Seele und Raum.
Letzte Änderung: 23. August 2025