RUDOLF KASSNER


Kassner — Buch der Erinnerung

BUCH DER ERINNERUNG

1938

8. FÜRSTIN MARIE VON THURN UND TAXIS-HOHENLOHE

S. 319—325
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FÜRSTIN MARIE VON THURN UND TAXIS-HOHENLOHE


Es wird behauptet, was manchem vielleicht einen Trost bedeuten mag, daß wir uns heute in einem Zustand der Krise befinden, der vorbeizugehen pflege. Da aber im Begriff der Krise nichts über deren Dauer enthalten ist, so darf es nicht als ausgeschlossen gelten, daß wir durch einige Jahrhunderte nicht aus ihr herauskommen. Und so bliebe dann nur noch die eine Frage zur Beantwortung offen, ob ein solcher Dauerzustand überhaupt noch Krise genannt werden dürfe, deutlicher: ob darin nicht nur alte Typen ausgestorben erscheinen, sondern auch Ansätze zur Bildung neuer sich aufweisen ließen, denn das sichere Kennzeichen einer geschichtlichen oder gesellschaftlichen Krise bleibt der Untergang alter und die Geburt neuer Typen. Je schwerer sich eine solche Geburt vollzieht, oder auch: je undeutlicher sich die neuen Typen unserem Sinne darbieten, um so länger, möchte man sagen, werde eine Krise dauern.
Innerhalb des verhältnismäßig sehr engen Zirkels, den in Europa die sogenannte Gesellschaft bildete, hat es zwei Erscheinungen, Typen, gegeben, die heute im Aussterben sind. Erstens den Mann von Welt, wie er genannt wurde, ein Produkt des 18. Jahrhunderts, das den honnête homme des 17. abgelöst hat. Was soll auch dieser Mann von Welt im Zeitalter des Radio und der


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Flugzeuge? Mußte Welt nicht dem zweifellos umfangreicheren   K o s m o s,   der geruch-, geschmack- und auch gottlos ist, nur mit etwas Benzingestank hier und dort, geopfert werden? Zweitens, mit dem Mann von Welt eng verbunden, die große Dame. Davon dürfte es in Europa nur noch sehr wenige Exemplare geben. Auch sie ist dem Untergang geweiht, da Schutzgebiete innerhalb des Gesellschaftlich-Sittlichen nun einmal nicht abzustecken sind.
Jede Erscheinung ist bedingt, und der Reiz, der Zauber, die leichte Form einer solchen liegt darin: alle Bedingungen mühelos zu tragen und somit zu erfüllen. Es hat sicherlich niemals etwas Bedingteres gegeben als eben den Mann von Welt oder die große Dame. Und einer Epoche wie der unseren, die das Abschieben und Abwälzen mit großer Virtuosität zu handhaben weiß und in gegebenen Fällen dem Geheimnis die Anonymität vorzieht, mußten beide fremd bleiben oder darin ihre Wurzeln verlieren.
Marie von Thurn und Taxis, geborene Prinzessin von Hohenlohe, deren Erinnerungen an Rainer Maria Rilke ebenso wie die an die eigene Kindheit und Jugend einen so großen Leserkreis schnell zu gewinnen wußten, war zunächst einmal das, was man eben große Dame nennt, sie war es im eminenten Sinne und hat wohl auf alle Menschen, die ihr nahekamen, als solche unmittelbar gewirkt. Als Österreicherin jenes größeren Österreichs, das durch den Weltkrieg zerstört wurde und trotz politischen Unzulänglichkeiten, ja vielleicht gerade darum als deren Begleiterscheinung, mehr Typen auszubilden verstand als irgendein anderes Land in Europa, ja darin, in der Typenbildung, einen unverkennbaren Segen anzeigte für den, der Österreich so sah, wie es wirklich war, wurde sie in

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Venedig geboren, als es noch zu Österreich gehörte. Diese Tatsache, ferner die Jugendjahre in Duino, Sagrado und im Toskanischen, die enge Verbundenheit durch ihre Mutter aus dem Geschlechte der della Torre, welches Aquileja seine Patriarchen und Mailand eine Reihe von Herzögen gegeben hatte, mit dem Hof des Grafen von Chambord, auch die Beziehung zum Rom Pius’ IX. durch ihren Onkel, den Kardinal Hohenlohe, haben ihr Wesen mehr bestimmt als später Wien oder die ,böhmischen Wälder‘, wie sie sich gerne ausdrückte. Italien war ihr nicht wie Deutschen sonst Sehnsucht und Flucht, sondern Erinnerung. Ich denke der Stunde, da ich an ihren Krankenstuhl auf der unvergleichlichen Terrasse des Lautschiner Schlosses herantrat, um mich nach ihrem Befinden zu erkundigen — es war wenige Jahre vor dem Tode —, und sie mir zur Antwort gab, sie habe schon den ganzen Morgen nur einen einzigen Gedanken, und dieser Gedanke sei Geschmack, Geruch, Gefühl, Erinnerung, Sehnsucht und Seligkeit, alles, alles zusammen: die Weintrauben im Herbst an der Ziegelmauer in Sagrado, da sie ein Kind gewesen, und dazu der Geruch der Lorbeerbüsche mit der Sonne darauf und der von brennendem Holz. Das alles habe ihr so deutlich ihre Kindheit zurückgebracht, daß sie nur noch eines daneben zu fühlen vermöge, die Angst, sich aufwachend davon trennen zu müssen. „Und sehen Sie, das ist das Glück, das ist wirklich das Glück. Es gibt kein anderes.“
Sie sagte das mit großer Leidenschaft, mit einer gewissen Heftigkeit und leidenschaftlichen Eindringlichkeit.
Zur ,Welt‘ in dem eben angegebenen Sinn gehört wesentlich Geschmack, gehört der Geschmack als Bestimmung. Wo Welt wirklich vorhanden ist oder im Augen-

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blick herrscht, stellt jener sich ganz von selbst ein und kann gar nicht entbehrt werden. Das 18. Jahrhundert hat beide kreiert, eben weil sie zusammengehören und das eine ohne das andere nicht zum Vorschein gekommen wäre.
„Doktor, Sie werden zugeben, daß Ibsen da und dort sehr geschmacklos sein kann“, sagte sie mir einmal zu einer Zeit, da es nicht an Leuten fehlte, die den norwegischen Dichter neben Shakespeare stellen zu dürfen meinten. Vielleicht neigte ich vor mehr als einem Menschenalter auch zur Ansicht, daß man für das ,Tiefe‘ oder ,Sublime‘ oder wie immer man das nennen wolle, was bei jungen Menschen damals einen so starken Eindruck hinterließ, Geschmacklosigkeiten wie etwa die Wildente auf dem Dachboden der Werleschen Wohnung und der dort nach Kaninchen jagende alte Leutnant Gregers Werle und so weiter hinnehmen müsse. In Wirklichkeit sind sie nicht nur nicht oder nur mit Widerwillen hinzunehmen, sondern der unmittelbarste Ausdruck von etwas sehr Konstruiertem, Zusammengedachtem, ja Krudem und ein Zeichen dafür, daß wohl eine außerordentliche Kenntnis des Theaters, ja eine sehr ausgesprochene Gerissenheit im Verkehr mit dem Publikum und sehr viel weniger Welt im Großen oder Kleinen vorliege, als man damals meinte. So viel zum Zusammenhang von Welt und Geschmack.
Indem Marie von Thurn und Taxis für den Geschmack eintrat, tat sie es nicht aus Ziererei oder Ästhetizismus, sondern aus Weltgefühl.
Das Bürgertum im alten Österreich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war liberal, der Adel hingegen in seinen besten Vertretern mehr oder weniger international. Doch war dieses Inter- oder Übernationale durch

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das Höfische gebunden, wodurch es sich etwa vom russischen Internationalismus unterschied. Bei Marie von Thurn und Taxis war das Höfische völlig natürlich und angeboren. Es hätte sie, will das sagen, niemals in einen Gegensatz zum Natürlichen, zum Natürlich-Menschlichen bringen können. Was auch damit zusammengehen mag, daß ihre Beziehung zur Natur ganz und gar die des südlichen Menschen war, Genuß von Farbe und Linie, ein Geschmack von den Dingen, und gar nicht aus dem Gefühl der Distanz, der Distanz und Entfremdung des Städters und Bürgers, kam. So hatte sie kein Organ für Rousseau, für dessen Bedeutung in der Geistesgeschichte, für dessen großartige Rhetorik, sondern spürte in ihm immer nur das Lakaienhafte, die nicht zu verdeckenden Bas-fonds von Gemeinheit, welche dadurch, daß er sie da und dort eingesteht, keineswegs verschwindet. Von deutschen Erzählern liebte sie am meisten Eduard von Keyserling, dessen Schwüle Tage in ihrer Übersetzung in einer der großen französischen Zeitungen erschienen sind.
Von hier aus, sagen wir es so: vom Höfischen, genauer: vom Höfischen des Goetheschen Torquato Tasso ist ihre Beziehung zur Kunst, die etwas sehr Lebendiges, Wesenhaftes war, einzusehen. Rilke schreibt kurz nach dem Weltkrieg in einem seiner Briefe an gleichgültig wen — der Brief war nicht an die Fürstin gerichtet, auch nicht an mich —, daß er, daß die Menschen jetzt, da der Weltkrieg einmal geschehen, nicht mehr so nach Venedig werden gehen können wie vor dem Kriege: um des Schönen willen oder um damit sich selbst und das Schöne vom anderen, das sie zu Hause gelassen, herauszuheben. Das habe, so will der Satz, den ich nicht zu zitieren vermag, da mir der Brief nicht mehr vorliegt,

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verstanden werden, von nun an aufgehört, das werde nie mehr wiederkehren, es dürfe in aller Zukunft nichts mehr isoliert oder in seiner Isoliertheit hingenommen und genossen werden, alles gehöre zusammen, das Häßlichste und das Schönste, jetzt nach dem furchtbarsten Erwachen. Nur dieses sei jetzt da und liege über den Menschen, und daneben gelte kein Ziel, kein Ideal, keine Absonderung im Namen eines besonderen Zieles oder Ideals. Auf mich hat dieses Aperçu Rilkes Eindruck gemacht. Ich fand darin etwas von dem Grundgefühl der Duineser Elegien wieder, die, vor dem Weltkrieg begonnen, erst nach ihm vollendet werden konnten.
Die Fürstin aber wollte den Satz Rilkes, den ich ihr vorlas, nicht recht gelten lassen. Ihre Welt war, wie gesagt, die Welt des Goetheschen Tasso, und hinter dieser steht im Glanz goldiger Luft die Welt Platons mit ihren Antithesen von Schönheit und Wahrheit, von Dichter und Leben, mit der Schönheit als dem ewigen Erlebnis der Seele, was alles auch durch das furchtbarste Zeitereignis nicht geändert werden könne.
Sie wußte den halben Dante auswendig, viel von Petrarca, von Torquato Tasso, Racine. Dichtung war für sie etwas Gegebenes, durch Einflößung Mitgeteiltes, die Seele Erziehendes, ein Kanon der Seele, möchte man sagen. Mit dem, was darin Erlebnis genannt wird, mit dem Humor oder der Ironie des Modernen, mit dem an den Grenzen Schwebenden, nur an den Grenzen sich Behauptenden alles Dichterischen von heute wußte sie nicht viel anzufangen. Darum war sie auch dem eigentlich Lyrischen mehr zugetan als dem Dramatischen und wollte nicht recht das durchaus Ungenügende solcher Dramen wie der Gioconda oder der Francesca da Rimini des d’Annunzio einsehen, worin die Handlung zwischen den

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Reden der Personen vor sich geht und vom Lyrischen erstickt wird.
Beides war in ihr stark entwickelt: das Gehör und das Gesicht. Durch beide Kanäle wußte ihre Seele Freude und Entzücken einzuziehen. Wir haben einmal die ganze Divina Commedia italienisch zusammen gelesen in einem meiner vielen Lautschiner Sommer. Ihr Gefühl für das Wort, für dessen Fleisch und Haut, für jede Nuance der Vokale und Konsonanten war erstaunlich. So konnte sie Racine so genießen, wie es sein soll: Vers für Vers, Wort für Wort, Silbe für Silbe. Ich glaube, ihrem Auge waren die meisten Bilder in den Galerien Europas mit allen Farben immer gegenwärtig. Menschen, bei denen Auge und Ohr ganz zusammengehen, zeichnen sich durch die männliche Einbildungskraft aus. Bei Marie von Thurn und Taxis ist es bei dem mehr weiblichen Enthusiasmus geblieben, der ihr im höchsten Grade eignete und die Stelle der schöpferischen Imagination einnahm.






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Letzte Änderung: 23. August 2025