RUDOLF KASSNER
BUCH DER ERINNERUNG
1938
9. GEDANKEN
ÜBER DAS GLÜCK
S. 326—332
326
GEDANKEN
ÜBER DAS GLÜCK
Fortuna hat in
sich die Wurzel fere, fors, womit angezeigt ist,
daß in einer von ihr, vom Glück beherrschten Welt alles von
außen zugetragen werde oder werden müsse. So empfinde ich
auch Glück. Physiognomisch liegt in diesem runden Wort ohne Enden,
Fransen, ohne Gliedmaßen das von außen Zukommende,
Zurollende, das von unserem Selbst Getrennte, Abgeschlossene, Runde,
Polierte. Wenn es Dinge gäbe ohne Gliedmaßen zur
Eigenbewegung, voneinander gelöste, einzelne, wurzellose so wie
die Atome, Sterne, nur noch unendlich viel mehr losgelöst, so
dürfte es in dieser Welt dann keinen Spiegel, sondern statt des
Spiegels würde es eben das Glück geben, oder auch jedes Ding
von den unendlich losgelösten müßte sich in Glück,
in eine Glückskugel, in einen Träger des Zufälligen
verwandelt haben.
Es ist zu verstehen, daß in einer Welt voll von Dingen: ohne den
Menschen, ohne das Gesicht und den Spiegel des Menschen, daß also
in einer Welt von Atomen, kleinsten und größten Teilen,
Sternen, Zahllosigkeiten, das Glück, sollte es darin noch
vorkommen können, sich in die Ursache, in den Urgrund verwandelt
haben müßte und die Welt nicht mehr nach Ursache und
Wirkung, heißt das, sondern nach den Gesetzen der
Wahrscheinlichkeit regiert werden müsse. So viel über die
Wahrscheinlichkeit, die absolut eines voraussetzt: eine Welt von
Dingen, Atomen, Gestirnen, Zahllosigkeiten ohne
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die Divergenz von Innen und Außen,
Wesen und Erscheinung, Bild und Spiegel.
Der äußerste Widerpart zu diesem Glück, so
aufgefaßt, wäre dann Gott, darin Spiegel und Grund eines
sind, der Gott Meister
Eckharts und der Mystiker, welcher sich allein
von allen Wesen selbst durchdringt und bis auf den Grund sieht.
Wenn uns das Glück am Wege trifft oder wenn wir dem Glück
gegenüberstehen, so sind wir immer ganz einig mit uns selbst,
nicht zerfallen. So ist das Glück, und so sind wir. Darum
dürfen wir nicht sagen, daß das Glück uns im Notfalle
ergänze. Es kann uns auch nicht vermehren an Umfang und Gewicht,
gleichwie ein Stern den anderen vermehrt, indem er in ihn stürzt
und sich eingräbt, so daß dann aus zwei Sonnen eine geworden
ist.
Ich möchte es so sagen, daß unsere ganze Persönlichkeit
dem Glück gegenüber darin liege, daß wir ganz sind,
fest, dicht, ungebrochen, ohne Riß.
Doch kann alles das, was ich damit vorbringe, nur der verstehen, der
auch das andere weiß, daß wir uns nämlich vor dem
Spiegel nur darum teilen oder auseinandergehen, weil und insoweit wir
ganz sind, noch mehr: der weiß, daß der Ausdruck dieser
Ganzheit und Teilung in uns — vor dem Spiegel — die Einbildungskraft
ist oder auch, daß wir vor Gott, wenn wir vor ihm ohne den
Glauben erschienen, zerrissen werden müßten.
E i n e K e t t e : Die Evangelien sprechen in keiner
Zeile vom Glück. An dessen Stelle ist das Kind getreten, die
Kindschaft des Menschen. So muß man das ,G l ü c
k‘ der Alten verstehen und die Tatsachen, daß die Alten
die Kindheit des Menschen nicht sahen.
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Mit
der Kindschaft ist freilich auch das Ärgernis gegeben, das es
davor nicht geben konnte — als Idee genommen. Das Glück — als Idee
— schließt es aus. Wie wundervoll hier sich eines an das andere
schließt! Ich kann mir ferner den Glücksgedanken, die Welt,
darin das Glück statt des Kindes steht, nicht ohne den Sklaven
denken, nicht ohne die Einteilung in Freie und Sklaven. Dort, wo Freie
und Sklaven ineinander aufgehen oder sich mischen, muß sich das
Ärgernis bilden. Und gegen dieses hilft nicht die Tugend, sondern
wiederum die Kindschaft. Das ganz Neue im Evangelium ist, daß es
nicht mehr von der Tugend, sondern statt dessen vom Kind in uns redet.
,Es sei denn, daß ihr wie Kinder werdet.‘
Oft denke ich mir, ob nicht der allein ,glücklich‘ (unter
Anführungszeichen gesetzt) genannt zu werden verdient, der das,
was er erreicht, ohne Opfer erreicht. Müßte aber dieser
rundherum ,Glückliche‘ nicht völlig wesenlos sein? Und darum
ohne Mitte? Und ist das Opfer nicht Mitte allein dort und darum, wo und
weil das Glück nicht Mitte sein kann unter Menschen und Gebilden?
Ob aber diese beiden, Opfer und Glück, dennoch nicht
zusammenkommen und somit eine Mitte bilden, und zwar in jenen Wesen,
welche wir dämonisch nennen, in den Halbgöttern wie Adonis
und anderen, die sterben und wiedergeboren werden im ewigen Kreislauf
der Dinge? Der e i n e Gottmensch war gekommen, die
Dämonen zu besiegen, indem er Opfer und Glück
auseinanderriß und den Kreislauf durchbrach. Und das konnte nur
gelingen, indem er sich Sohn Gottes nannte, Sohn des einen, des
unsichtbaren, des verborgenen Gottes.
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Das
Glück geht den Tätigen an, und zwar so weit dieser allein ist
mit sich selbst, gesammelt, gespannt wie ein Bogen im Augenblick, da
der Pfeil der Tat abgeschossen wird. Das Glück tritt dann, wenn
man es so sagen darf, in die Einsamkeit des Tätigen (im
höchsten, im endgültigen Sinne) ein. Hat ein solcher
Tätige nicht Glück, gleichwie ein Mensch, ein
Un-Tätiger, einen Doppelgänger hat? So sah Cäsar, als
ein solcher im höchsten, im endgültigen Sinne Tätiger,
das Glück, da ihn der Schiffer im Boot, ihn ganz allein, über
das sturmgepeitschte Meer von Brundisium nach Dyrrhachium
hinübersetzte, und darum sprach er zu ihm die unvergänglichen
Worte, vor denen ich jedesmal erschauere, sooft sie mir in den Sinn
kommen: Habe
Mut, denn du fährst Cäsar und sein Glück. In dieser
Weltstunde vor der Tat, welche das Schicksal von Jahrtausenden zu
entscheiden hatte, war Cäsar allein. Allein nicht wie Dichter,
Seher, Propheten, Erlöser allein sind, welche vor Alleinsein oder
auch in das Alleinsein, in die Einsamkeit, in die Gesichte und Reden
ihrer Einsamkeit überströmen. An Stelle des
Überströmens ist hier auf stürmischem Meer die Spannung
und das Gesammelte derselben und statt des Spiegels und der Gesichte
das Glück. Das mit Cäsar im Boot sitzt, ihm gegenüber.
Dieses Glück hatte nur einem einzigen seinen Platz räumen
können oder wollen: dem Tod. Es ist in der Tat so, daß im
Augenblick, da das Glück von seinem Platz, Cäsar
gegenüber, gewichen wäre, sich der Tod an dessen Stelle
gesetzt hätte. Doch das wollte Cäsar nicht, und daher oder
darum seine Tat, darum der Augenblick, vielmehr die Weltstunde der Tat,
das Glück der Tat.
Denken wir uns einmal so etwas wie eine Welt des ,Glücklichen‘,
dessen Kugelwelt: was müßte sie vor
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allem,
vor jeder schöpferischen Welt kennzeichnen? Daß Leben und
Tod gleich wiegen und sich gegenseitig aufheben oder wie die belichtete
und unbelichtete Hälfte des Mondes sind oder wie die rote und
weiße eines Apfels. Eine solche Welt des ,Glücklichen‘
wäre in einem unaussprechlichen Sinne eine ohne Ideen. Diese
könnten darauf nicht gedeihen, nicht Wurzel fassen, denn Idee
beruht auf dem Überwiegen des einen über das andere, des
Lebens über den Tod und genau so umgekehrt: des Todes über
das Leben. Idee schließt Entscheidung, das Ursprüngliche
aller Entscheidung in sich. Daher die Gestalt, und daher weiter die
Tatsache, daß das Lebendige niemals Kugelgestalt hat.
Von hier aus ist die Verwandtschaft des Glücklichen mit dem
Dämonischen zu überlegen. Auch im Dämonischen sind Leben
und Tod im Gleichgewicht. Weshalb auch in bezug auf das Glück, auf
seinen Stern der Mensch nie originell, sondern dämonisch ist. Was
nie oder nur vom mittelmäßigen Menschen verwechselt werden
darf.
Eine der wichtigsten Bestimmungen des Glücklichen ist, daß
seine Welt begrenzt ist, endlich. Darum ist die Glückswelt eine
solche der Dinge, darin es nur Nachahmung gibt oder Nachahmung gilt.
Ideenlosigkeit des abergläubischen Menschen.
Wie es kommen mag, daß gewisse Menschen die Neigung haben, alles
Äußere dem Glück zuzuschreiben, dem Zufall? Daher,
daß dieselben alles ,Innere‘ der Gnade oder Begnadigung
anheimzustellen das Bedürfnis empfinden. Für solche Menschen
ist alles Vernünftige ein Vorläufiges.
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Das
Gefühl am Ende, daß alles umsonst war, vertan ist, kann nur
einer haben, in welchem, wie man sagt, ein Spieler steckt. In ihm
muß dann das Gefühl der Schuld aufbrechen, wie sich ein
Abgrund auftut: plötzlich. Nicht anders. Das Schuldgefühl,
heißt das, muß ihn jetzt ebenso isolieren, wie ihn
früher, am Wege, das Glück, das Verlangen danach isoliert
hat. Es wird ihn mit den Mitmenschen nicht verbinden. Ist nun daraus
nicht die Figur des Erlösers hervorgegangen, aus dem Verlangen,
daß die Schuld gemeinsam sein solle und könne? Und
müßte dieser Erlöser bei seinem Auftreten und durch
seine Lehre nicht eines gleich kassieren: das Glück, die
Glücksidee?
Erinnerung an ein kurzes Gespräch mit dem jungen R. am Hofe des
Maharadschas von K., wo wir beide als Gäste weilten. Vom einem
Menschenaltem. R. war der Sohn eines sehr reichen Vaters, Mathematiker,
Schachspieler gleich dem Vater, militanter Materialist, sonst ganz
unscheinbar, vornehmlich im Vergleich mit seinen Mitteln, seinem Train,
glanzlos. Da man mich für einen Philosophen ausgab, setzte er mir
gleich zu und eröffnete ziemlich unvermittelt sein
Glaubensbekenntnis: Man müsse, lautete dieses auf das
kürzeste, innerhalb der Materie, welche die ganze Welt ausmache,
auf den Punkt kommen oder stoßen, von dem die ganze Bewegung, von
dem das Leben ausgehe. Darauf komme alles an.
Ich: Wird dieser Punkt aber nicht ein toter Punkt sein am Ende?
Er: Eben nicht. Darum geht es ja, daß er kein totem Punkt sei.
Ich: Also wird dieser Punkt Gott sein und kein Punkt? Er: Nein, nein,
Sie verstehen mich nicht, er wird eben
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Punkt
sein und immer wieder Punkt. Das ist das Entscheidende, daß der
Punkt Punkt, die Mitte Mitte sei und Sie nicht einen Namen daraufpicken
auf den Punkt.
Ich: Es kommt aber dann nicht allein auf den Punkt an.
Er: Sondern worauf?
Ich: Darauf, daß diesem Punkt, daß diese Mitte sich spalte
und öffne.
Er: Und?
Ich: Mich verschlinge, Sie verschlinge, Sie samt dem Gewehr, mit dem
Sie heute abend den Panther schießen wollen.
Er: Wieso — ?
Ich: Damit Leben in den Punkt komme und der Punkt kein toter bleibe.
Wenige Monate darauf hatte R. sich erschossen.
Letzte Änderung: 24. August 2025