RUDOLF KASSNER
BUCH DER ERINNERUNG
1938
10. BRIEFE
HOUSTON STEWART CHAMBERLAINS AN RUDOLF KASSNER
S. 333—368
333
BRIEFE
HOUSTON STEWART CHAMBERLAINS AN RUDOLF KASSNER
334
(Leere
Seite)
335
Wien,
13. 5. 1900
Sehr geehrter Herr!
Schon seit vielen Wochen warte ich auf den Tag, wo ich die Muße
fände, Ihnen über Ihr Buch ¹ zu schreiben — doch die
Arbeitswellen folgen einander unaufhörlich, und auch heute habe
ich nicht ein Viertelstündchen Zeit. Gewöhnlich nämlich
danke ich sofort bei Empfang für jede Sendung und ohne
hineingeguckt zu haben, denn da fast täglich etwas kommt, wo
sollte denn ich selber hinkommen, wenn ichs anders hielte. Ein
Dämon hielt aber meine Feder zurück, als ich die übliche
Karte auch an Sie adressieren wollte, und ich warf einen Blick in das
Buch — und da war ich verloren. Seitdem habe ich in Ihrem Buch nur
genascht, aber sehr oft und sehr viel, abends so wenn mir irgendein
Weiser gar zu dumm geworden war, um mich zu erholen. Es ist eines der
exquisitesten Werke, die ich überhaupt kenne, ich tauche da hinein
wie in ein Wonnebad. Solche Dinge wie zum Beispiel die Definition des
Ideals p. 11 sind einfach köstlich; solche Worte wie das von den
Dingen, die ,im Schatten unserer Wünsche leben‘ — und
ähnliches finden sich auf jeder dritten Seite —, sind ... ja, wie
soll ich sagen? Mich überkommt dabei ein Trostgefühl — man
ist erlöst aus den gräßlichen drückenden
erstickenden Bleikammern der Empirie und vor allem — denn die Welt an
und für sich wäre ja immer erträglich mit ihren
lieblichen, sonnigen, ewig neuen Gleichnissen und ihrer
rücksichtslosen
¹ Die Mystik, die Künstler
und das Leben (jetzt gekürzt: Englische Dichter. Insel-Verlag).
336
Gewaltsamkeit,
die einen lehrt und ermutigt, selber Bestie zu sein, soweit das eigene
ästhetische Gefühl es zuläßt —, vor allem
erlöst aus der entsetzlichen Blutsgemeinschaft mit ihn umgebenden
Menschenaffen, die von früh bis abends von Evolution sprechen und
in Wirklichkeit nach wie vor nur Nüsse zu knacken verstehen und
jedesmal glauben, was sie darin finden sei eine Entdeckung. Sie aber
haben eben den kleinen großen Schritt vom Pithecanthropos zum
Menschen zurückgelegt. ,Geselle dich zur kleinsten Schar‘ ruft uns
Goethe zu; diese kleinste Schar wird Sie sicherlich hochwillkommen
heißen und noch Großes von Ihnen erwarten. — Eine
persönliche Sache hat mich noch gerührt, manches an Ihrer Art
gemahnt mich an meinen teuren unvergleichlichen Jules Laforgue,
das ,leuchtendste Genie‘, das ich gekannt habe.
Ihr
verehrungsvoll ergebener
Houston S. Chamberlain
22. 11.
1901,
VI., Blg. 1
Lieber
Freund!
Herzlichen Dank für Ihre Worte. Menschen wie ich sind dazu da, um
zu dienen, das ist ihre raison d’être; und gelingt es ihnen
sogar, den wenigen schöpferischen Geistern helfend an die Hand zu
gehen, so daß diese festen Boden unter den Füßen
fühlen und sich um so ungebundener bewegen können, dann haben
sie gewiß nicht umsonst gelebt.
Doch davon genug, und jetzt erwarte ich mit großer Ungeduld Ihre
,Revanche‘; denn was der Bruckmann
kennt, darf ich wohl auch kennen? Und aus jener Gegend reicht so wenig
bis an mein sehr tief und unzugänglich gelegenes Seelentrommelfell
heran, daß ich eine wahre Sehnsucht nach künstlerischen
Eindrücken habe und diese von Ihnen nicht bloß
337
,erwarte‘
im Sinn des Hoffens, sondern erwarte im Sinn des ganz Gewissen, das
unfähig ist, die Erwartung nicht zu erfüllen.
Also, auf bald!
Ihr
Houston Stewart Chamberlain
20. 1.
1902
Lieber Freund!
Gestern physisch elend und geplagt von nach Erledigung drängenden
Geschäften, abends dann Wagner, kam ich nicht dazu, Ihnen zu
schreiben; auch heute wird es wenig sein und morgendlich nüchtern.
Und doch kann ich diese Stimmen, die in meinem Himmel bunt
durcheinander rufen und jubeln und lachen und weinen, nicht zum
Schweigen bringen, und sie alle sagen mir, daß ich zu Ihnen noch
wenigstens ein Wort sprechen muß — jetzt schnell, denn schon
drang ein fremder Laut dazwischen, fragend nach ,Erfolg‘ und
dergleichen, und nur gar zu bald wird der reine Besitz ein geteilter,
befleckter sein; ,Dornen und Disteln soll sie dir tragen‘, heißt
es seit Adams erstem genialen Einfall, die Erde zu bebauen.
Wie neulich schon gesagt, ich habe den berauschenden Genuß eines
Zwiefachen erlebt: die Erfüllung der sicheren Ahnung und die
Erfahrung des Niegeahnten.
Zunächst und zuvörderst: Ihr Werk ¹ ist g a
n z Ihr eigenes. Jede Zeile ist Ihr Besitz, Konzeption und
Durchführung sind Ihnen allein eigentümlich. Von den 16327
,Deutschen Schriftstellern‘ des Kürschnerschen
Kalenders kann kein
einziger sagen, das hätte auch ich machen wollen und können.
Und außer der Blutsverwandtschaft mit Laforgue, wobei der
Unterschied so groß ist wie nur zwischen Brüdern,
wüßte ich aus der Weltliteratur niemand, dem Sie sehr nahe
stünden. So leicht ist es, original zu sein, wenn man es ist! Und
für mich standen Sie
¹ Tod und Maske
(Insel-Verlag).
338
schon
seit den ersten Zeilen Ihres namenlosen ersten Buches (es hat in
Wirklichkeit gar keinen Titel, weil es ,Kassner‘ heißt) eben so
klar und fest da, als wäre Ihre Gestalt schon eine durch die
Jahrhunderte monumentalisierte.
Ich will Ihnen jedoch nicht verschweigen, daß mich im vergangenen
Winter, wenn ich in Ihre Aufsätze der Wiener Rundschau einen Blick
hineinwarf, bisweilen fast eine Sorge beschlich — f a s t.
Daß sie voll Geist waren, konnte mir bei Ihnen nicht
genügen, es haftete ihnen doch etwas von Purgatorio-Stimmung an.
Es ist nicht quite fair die
Werke anderer so zu besprechen, als habe man unmittelbar mit dem
Urstoff zu tun, der aller Natur und Dichtung zugrunde liegt. Man kann
nicht sagen, Sie hätten jemals ,auf dem Rücken der Dichter‘
gedichtet; doch war es Ihre auszeichnende Art — schon in Ihrem Buche
¹ —, die einzelnen Dichter bis zur Durchsichtigkeit aufzuhellen,
so daß sie zuletzt ganz verschwanden und man die Welt erblickte —
was nichts anderes heißen kann, als die Welt im Auge Kassners.
Diese Ihnen ganz eigene und durch und durch geniale Art schuf ein Werk,
das einzig dasteht und ohne Zweifel bleiben wird; doch im kleineren
Maßstabe wiederholt, drohte die ,Art‘ eine ,Manier‘ zu werden.
Der Blitz des Paradoxons, mit dem Sie die Gestalten durchglühen
und durchsichtigen, bedarf eines ziemlich weiten Himmelsraumes, um sich
zu entfalten; mag auch der aus einer Voltaischen Batterie gezogene
elektrische Funken im Grunde genommen denselben Dienst leisten, bei
diesem Verfahren riecht es doch nach Laboratorium, nicht nach Natur. —
Und obwohl mein Glaube an Sie nie wankte — denn es war ein Wissen —,
überschlich mich doch hin und wieder die Sorge: sollte er wirklich
nicht den zweiten Schritt zu tun wissen und wagen? Nun aber lache ich
laut auf über mich selber! So herrlich und kühn und
hinreißend ist er gelungen! Jetzt stehen Sie mir
¹ Englische
Dichter.
339
ganz
anders nahe — ich meine meinem innersten Seelenempfinden — als in Ihrem
ersten Buche, das ich eigentlich nicht mag, wenn ich auch nicht anders
kann, als es lieben. Was sollen mir Browning und D. G. Rossetti und
Keats? Alle Literaturgeschichte ist langweilig, und die Literaturkritik
führen Sie — wohl betrachtet, es braucht ja nicht öffentlich
wiederholt zu werden und von selbst kommen die Leute nicht darauf —,
führen Sie ad absurdum. Ach! wie hat sich die Brust neulich
ausgedehnt! das war Luft! Es ist ein ganz herrliches, einziges Werk,
reif für Jahrhunderte, von denen jedes es anders deuten, andere
Dinge daran goutieren, andere Geheimnisse daraus ausheimsen wird. Heil
Ihnen, daß Sie es schufen; Heil mir, daß ich es so aus
ganzer ungeteilter voll genießender Seele mit erleben darf!
Einzelnes will ich Ihnen heute nicht sagen. Die rasche Folge ihres
ununterbrochenen Lesens macht, daß das Ganze ohne Teile
augenblicklich in meinem Bewußtsein weilt. Außer ,Psyche
und der Faun‘, das durch die breite Ausführung, und ,Der Spiegel‘,
welches aus der Art schlägt (was aber nichts weniger als Kritik
sein soll), haben sich nur die in grellen Farben gehaltenen Stücke
wie ,Eifersucht‘ und wie ,Der Bajazzo‘ in allen Einzelheiten dem
Gedächtnis eingeprägt. Und doch haben gerade die
,Hemdknöpfe‘ — wie sie Wagner nennt — für mich unendlichen
Reiz. Ich werde Sie für ,Zitate‘ plündern!
Übrigens — und wenn es auch völlig gleichgültig ist, ob
sich zunächst viele oder wenige Ihrer Dichtung mit
Verständnis annehmen — man soll und darf, wo es sich um ein
derartiges Werk handelt, nicht z w e i f e l n. Es
wird — allen Nörglern zum Trotze — die Welt besiegen; dessen bin
ich völlig sicher.
Ihr
dankbarer
Houston S. Chamberlain
340
Dienstag
abend,
18. 3. 1902
L. Fr.! — Also auf Wiedersehen morgen abend. Ich habe seit Freitag
früh 7.45 noch nicht ein Mal gesprochen; fühle mich wohl,
losgelöst, frei. Aber die Entbindung war eine schwere, eine echte
Zangengeburt. Ich fühle, als ob die Ehre des Dilettantismus ganz
allein auf meinen Schultern ruhte, und will den Fachleuten schon
zeigen, was das heiße: gründlich sein und sachlich. Von der
ganzen Bibliothek, die ich nun über Bruno zusammengestellt habe,
ist der eine Mann — Felice Tocco — wirklich ehrlich, zuverlässig,
ein Mann, der ein Gefühl der Verantwortlichkeit besitzt. Und
Windelband — obwohl er es überall vermeidet, bis auf den Grund,
den festen Boden, wo man Fuß fassen kann, zu gehen, ist doch
wenigstens nicht direkt falsch und ein Schwätzer.
Alles übrige — ein Jammer, und Heinrich *** im Grunde genommen
ebenso ein Um-den-Busch-Schläger wie die anderen.
Schreibt ein wunderschönes Sonett: Ach meine unbarmherzigen
Gedanken — nun hat Bruno in Wirklichkeit keine Silbe davon gesagt,
sondern nur genau das Gegenteil. Eigentlich eine Gemeinheit, nicht wahr?
Daß kein Leseabend stattfindet, wissen wohl alle unsere Freunde?
Im Notfalle bitte ich Sie gütigst, sie davon zu avisieren.
Vielleicht nächsten Mittwoch. Herrenabend??
Ihr
H. S. Cha.
Viele Glückwünsche.
2. 4.
1902
Lieber Freund!
Der ,Faun und Psyche‘ ¹ ist herrlich, unerschöpflich und
darum auch unsterblich. Gerne überspränge ich 500 Jahre, um zu
¹ Fehlt in der zweiten Auflage von Tod und Maske.
341
sehen,
was man alles hineingelesen haben wird. S i e
können ja nichts dafür und sehens nicht einmal so deutlich
wie ich, weswegen sollte ichs Ihnen also nicht offen sagen?
,Bescheidenheit gehört nur für persönliche Gegenwart‘,
sagt Goethe; brieflich darf ich also ruhig unbescheiden sein und
aussprechen, was ich weiß.
Auch gestern wieder bekam ich einen unangenehmen Ruck — zuerst — beim
Wort ,Fatalist‘. Schicksal, Tod, Pan, Eros, Seele, Bild ... es ist
alles Natur; und nun kommt auf einmal ein ,ismus‘, also ein System,
eine Theorie. Und doch, ich sehe ein, es ging nicht anders, denn sonst
wären wir des herrlichen Genusses verlustig gegangen, daß
gerade der Unsterbliche, der kein Schicksal hat noch haben kann, ein
,Fatalist‘ ist. Es ist stark, aber wohltuend.
Wirklich b e t r ü b t war ich, daß meine
liebe unvergleichliche Frau, meinem willen entgegen, Ihnen min Buch
¹ für die Theaterdirektion geschickt hat. Es
gehört g a r n i c h t für Sie. Und
ich möchte von Ihrer Freundschaft mit aller Bestimmtheit das
Versprechen erwarten, daß Sie es n i c h
t l e s e n w e r d e n. Ja, bitte.
Geben Sie es Ihrem Vater zu lesen. Spielt einmal die Duse die
Antonie,
dann erlaube ich, daß Sie hineingehen; sie hat noch Schlechteres
gespielt in ihrem Leben.
Mein Kantbuch werde ich
Ihnen schon schenken. Habe schon ein feines Motto von Pomponatius
für Ihr Exemplar.
Herzlichst
dankend
Ihr
Houston S. Chamberlain
12. 4.
1902. Abend
Lieber Freund! — Wenn Sie
nicht S i e Wären, müßte ich mich
entschuldigen — und könnte es kaum —, daß ich Ihnen nach
¹ Houston S. Chamberlains Drei Dramen (Bruckmann).
342
Empfang
des schönen Exemplars ¹ gar nicht schreibe. Doch da Sie
zufällig S i e sind, werden Sie es begreifen.
Ich bin nämlich jetzt zu der näheren Betrachtung des Werkes
fortgeschritten; statt der kühnen Silhouette am Horizont, sehe ich
jetzt die Histologie dieses merkwürdigen Stückes menschlicher
Erfindung, und so ist ein Schweigen über mich gekommen. Ich habe
vom Baum gegessen und decke ein Feigenblatt über meinen vorher so
redseligen Mund, schäme mich fast, über solche Dichtung
gesprochen zu haben und rechne darauf, daß wir auch in dieser
Empfindung uns ohne Erklärungen verstehen.
Für den nächsten Leseabend möchte ich vorschlagen, und
zwar in dieser Reihenfolge:
1. In
der Garderobe
2. Die Seele
3. Die Geliebte des Dichters
4. Der Eitle
5. Der Traum des Verräters
6. Der Bajazzo
7. Die beiden Diener
8. Empedokles
Bitte sagen Sie, ob Mittwoch passen wird
für Brockdorff-Rantzau;
ob Bülow
² gern käme; ob
Schönaich
³ verständigt werden soll, und dann: was vor
Ihnen gemacht werden soll? Vielleicht sind Sie so gut, vorzusprechen,
damit wir uns verständigen? Wenn schon, denn schon, einen
ratierten Abend möchte ich nicht erleben. Und auch ein
bloßes repoussoir zu Ihren Dichtungen ist nicht würdig.
Glauben Sie, daß irgendeiner gerne selber etwas vorläse?
Schroeder
⁴ kommt nicht.
In treu
herzlicher Gesinnung
H. S. C.
¹ Luxusausgabe von Tod und Maske. — ²
Militärattaché in Wien. — ³ Gustav Schönaich,
Musikkritiker in Wien. — ⁴ Leopold v. Schroeder, Indologe.
343
14. 9.
1902
Hurra! lieber Freund!
Zwar bin ich augenblicklich nicht hochgradig
gesellschaftsbedürftig, nach diesem Sommer ununterbrochener
Sozietät — Plato genügt vollauf, und dazu, wenn ich mich mal
ärgern will, Zelter oder Teichmüller oder Windelband;
doch S i e im Umkreis der gänzlich leeren
Fülle Wiens zu wissen, wirkt wie ein steigender Barometer.
Gerade hatte ich mich in zerstreuten Augenblicken an Tod und Maske wieder ergötzt.
Zwar bezweifle ich nicht, daß die Welt nach und nach diesem Werke
gerechter werden und mit Bewunderung nicht kargen wird,
doch e i n Vorzug wird sicherlich mir H. S. C.
allein vorbehalten bleiben: dieses raffinierteste Erzeugnis
höchster, paradoxester, mit sich selbst spielender
Begabung v ö l l i g n a i v z u
g e n i e ß e n, als wäre es eine berauschende Musik,
bei der man dem eigentlichen Denken die Zügel schießen
läßt, so daß es nur noch ein Schwärmen ist und
daß das ,Verständnis‘ Ihrer Absicht zu dem anderen,
gegenüberliegenden Tor hereintritt ...
Kann ich Sie heute oder morgen — lieber wäre mir heute — besuchen?
Und zu welcher Stunde? Oder sind Sie lieber allein? Ein Wort bitte dem
Überbringer mündlich.
Wir sind seit dem Abend des 31. 8. hier. Waren gar nicht in Schorn. Ich
brauche keine Theologie, gar nichts. Bin wohl und ruhig und harmonisch
gestimmt, selig den öden Bruno überwunden zu haben und bei
dem strahlenden Plato angekommen zu sein.
Herzlich
Ihr
H. S. C.
344
30. 12.
1902,
VI., Blg. 1
Lieber Freund! — Unser verehrter Arier
¹ speiste vorgestern bei uns und erschreckte mich durch seine
schlaffe, arbeitsscheue Disposition. An Bhagawadgita, sagte er, denke er
gar nicht. Es sei außerordentlich langweilig, die Anmerkungen zu
schreiben, er wolle lieber erst sein Religionsbuch fertigmachen, es
komme ja gar nicht darauf an, ob B. früher oder später
herauskomme etc. etc. Einen kleinen Schreck bekam er allerdings, als
wir steif und fest behaupteten, Sie reisten im März nach Italien,
doch schien mir auch diesem Gewaltmittel gegenüber die
Trägheit bald zu siegen. Und das geht doch nicht. Es ist schon
wegen der Freunde unmöglich, die ein ganz falsches Bild Ihres
geistigen Werdeganges bekommen, wenn Ihre Arbeit ² ein Jahr oder
womöglich mehr im Schube warten muß. Anderseits ist es mir
eingefallen, daß die Veröffentlichung Ihres Indischen
Idealismus ² in der Zeitschrift zu einer Zeit, wo das Erscheinen
in Buchform noch gar nicht in Sicht steht, ein wirkliches Unrecht gegen
den Verleger sein würde — etwas, was er sich sicher verbittern
darf und wobei ich nicht gern eine Hand im Spiel haben möchte.
Bitte betrachten Sie obige Mitteilung als vertraulich, denn unser
wackerer Freund ist empfindlich und mißtrauisch, doch wenn Sie
gleicher Ansicht sind, fahren Sie Ihre schwere Artillerie auf.
Waren gestern in Einquartierung
und haben gelacht; doch mir bestätigte sich die alte Erfahrung,
daß Obszönität nicht wirklich amüsant ist, sie
macht grinsen, nicht aber von Herzen lachen; die erectio m. v. ist
eigentlich nicht unterhaltender als das Gravitationsgesetz, und eine
Aufführung wie die der Einquartierung
hat nur dann einen Sinn, wenn sie als Ein-
¹ Leopold v. Schroeder.
² Vergriffen, später in den Indischen
Gedanken (Insel-Verlag) übergegangen.
345
leitung
zu einer im Bordell verlebten Nacht dient. Das völlig harmlose,
alte deutsche Stück Pension
Schöller ist hundertmal witziger und macht weinen vor
Lachen.
Doch hats mir gut getan, und ich gehe jetzt alle Abende ins Theater.
Ihr
H. S. C.
München,
Samstag, 7. 2. 1903
Lieber und verehrter
Freund!
Gestern telegraphierte ich Ihnen aus der Fülle des ersten
großen Eindruckes. Dann habe ich noch den ganzen Nachmittag Ihren
Indischen Idealismus studiert,
alle Störungen barsch abweisend, bis ich endlich die verfluchte
einschichtige Wand der Hotelzimmertür absperrte und unserer neuen,
sehr klugen und energischen Jungfer befahl, Schildwache zu stehen, so
daß auch kein Klopfen zwischen Ihre Sätze käme. Aber,
wissen Sie, ich glaube, diese Wirtshausatmosphäre, dieser
ausgesprochene Charakter unbedingter Charakterlosigkeit, war gar nicht
so ungünstig; die Schale wölbte sich, und ich lernte Ihre
wundervolle Schöpfung mehr zeitlos und ortlos kennen, als
hätte ich daheim gesessen unter dem schweigenden Lauschen meiner
lieben Bücher. So gab ich mich Ihnen ganz hin.
Und nun hatte ich Ihnen so viel zu sagen, so viel! Aber, lieber Freund,
aus dem Schreiben wird nicht viel werden, die Ermüdung eines
weiteren Tages ist dazu gekommen und des vielen, mir ungewohnten
Geschwätzes; und geklopft hat man weiter ohne Unterlaß an
der Hoteltür; und als ich nach wunderbarem Traume über das
Wesen des ,Organischen‘ aufwache, mit so vielen Einfällen zum
Platothema, daß ich nach Papier und Bleistift sogleich vom Bett
aus klingeln mußte, da kam gleich so grausige Unterbrechung,
Besuch, während ich
346
im
Waschbecken steckte, und meine Frau ¹ verschnupft und ,weiblich‘
zum Verzweifeln — kurz, ich habe das Gefühl, als hätte man
mein Gehirn durchgeprügelt mit Birkenreisig, und es ist ein recht
armer, gehetzter Kerl, der sich hinsetzt, Ihnen für die
königliche Freude zu danken.
Es ist ein g a n z h e r r l i c h e s
Werk; ich sage es sans réserve und strecke Ihnen beide
Hände dankend entgegen. Die Steigerung bis zum Durvasa und das
Verweilen auf diesem Höhepunkt (wie auf regungslosen
Albatrosflügeln), dann das stille Sinken, damit es nicht mit einem
full stop hart ende, sondern decrescendo verklinge, gerade dazu kam
Buddha wie gerufen, es ist ein wahrhaft großes, schönes
Werk; ,wahr‘ — nicht wie 2 x 2 = 4, sondern von jener Wahrheit, die
nach Graden gemessen wird, nicht Hitzegrade, aber photometrische
Lichtgrade und somit pulsierend zwischen hellem Schatten und blendendem
Licht, doch nie (oder höchstens an einer einzigen Stelle) unter
den Nullpunkt dem Wahrheitsskala sinkend; ,groß‘ von einer echt
indischen, überpersönlichen Größe, trotzdem Sie
Ihre eigene Individualität mit einem fast heftigen Eigensinn immer
wieder in den Vordergrund schieben, so daß man bisweilen einem
Kampf zwischen Ihnen und dem Größeren als Sie, der in Ihnen
schafft, beizuwohnen glaubt; ,schön‘, weil Sie zwar herb und hin
und wieder mit offenbarer Absicht geradezu häßlich
schreiben, nur aber um sich mit Axthieben rechts und links den Weg zu
hauen bis zu ganz einsam gelegenen, noch niemals betretenen Lichtungen,
wo die Sonne im Zenit strahlt und man für Augenblicke von allem,
auch von sich selbst vereinsamt ist und dasjenige blitzartig erkennt,
was das Individuum als solches nie erkennen kann, da es ja die Negation
dieser Erkenntnis seinem ganzen Wesen nach i s t. Da
nützt es nicht, den Satz wieder zu lesen, ,um ihn zu verstehen‘
(wie ich das vorgestern abends bei
¹ Houston S. Chamberlains erste Frau Anna.
347
Bruckmann
erlebte), denn der Satz, das Satzgefühl, die Syllogistik der
Gedankenreihe ist nur ein Werkzeug gewesen; auf den W e g
selbst, den man unbewußt, vom Autor geführt,
zurückgelegt hat, kommt es an; wer ihn ging, strahlt jetzt da, in
der Lichtung, wer ihn nicht ging, blieb draußen.
Den Abend vorher hatte ich im Bett Prometheus gelesen, und mir fielen
bei Ihrem Werk auf seinem Höhepunkte die Worte ein:
So war ich selbst nicht selbst,
Und
eine Gottheit sprach,
Wenn
ich zu reden wähnte;
Und
wähnt ich, eine Gottheit spreche,
Sprach
ich selbst.
Und das ist, was ich wahrhaft
,schön‘ nenne.
Diese Ausführungen nur, damit Sie sehen, daß ich keine
Phrasen spreche, sondern für jedes Epitheton mit meinen
Gründen einstehen kann.
Doch überschwenglich würde es sich anhören, wenn ich es
unternehmen wollte, Ihnen mein Glücksgefühl, als ich Sie las,
zu schildern.
Was Reue ist, habe ich nach und nach im Laufe des Lebens erfahren. Es
kann nur das Verhältnis zu anderen betreffen, denn das eigene Ich
ist nicht faßbar, es verschwimmt, sobald man es fixieren will,
hier wäre ,Reue‘ schon Erkenntnis und somit würde sie sich
selbst im Augenblick ihres Entstehens aufheben. Unwiederbringlich ist
aber alles, was das Verhältnis zum anderen betrifft; denn das
Unrecht, was ich gegen den anderen begangen habe, ist eine reine
positive, ein für allemalige Substraktion; i c h
bin eine Amöbe ohne feste Gestalt, e
r aber nicht. I c h bin ja potentiell
das All, e r ist der bestimmte Einzelne. Und da
preise ich in meinem Verhältnis zu Ihnen, daß es ein
unbedingt r e u e l o s e s ist, das Minuszeichen
kam noch nie vor, Sie mögen vieles sein, was ich nicht ahne,
348
was
ich nicht designiert bin zu verstehen — doch alles, was von Ihnen kam,
habe ich positiv, unmittelbar, sofort, fraglos aufgenommen. Es war
alles reiner Genuß, reines Lebensgefühl. — Und seit jenem
ersten Abend, wo ich zufällig Ihr auf dem Tische liegendes
Mystikbuch aufschlug, bis zu gestern war es ein stetes Crescendo. Sie
so miterlebt zu haben, wird eine der schönsten und reichsten
Erfahrungen meines Lebens gewesen sein.
Vielleicht hätten Sie es gerne gehabt, wenn ich noch ein wenig
polemisiert hätte? Doch ein Punkt, der mir diese Nacht einfiel und
wo mir scheinen wollte, als hätten Sie nicht recht gesehen, ist
mir im Augenblick nicht genügend gegenwärtig. Ich
müßte doch die Arbeit genauer kennen, ehe ich es wagen
dürfte, Ihr Interesse durch Widerspruch zu verdienen.
Damit aber dieser Ton nicht ganz fehle, will ich Ihnen gestehen,
daß ich Ihren Stil, an den Sie selber uns lehren so hohe
Anforderungen zu stellen, an einzelnen Stellen nicht ganz vollkommen
finde. Ich glaube, Sie könnten da noch mit Vorteil feilen. Es
frappiert mich hier wieder, daß der Stil eigentlich bei Ihnen
mehr in dem Gedankengefüge als in dem Satzbau oder dem Wortschatz
liegt. Ich begreife es, daß Sie Rhetorik verabscheuen, bisweilen
kommt es mir aber so vor, als ob Sie das Gefühl für Wortklang
doch etwas vernachlässigen. Sie instrumentieren gern sehr hart.
Und ich glaube — ich kann mich irren, aber ich glaube, daß Sie
infolgedessen bisweilen direkt inkorrekte Gefüge stehen lassen.
Was soll das zum Beispiel heißen (p. 1), daß ,eine
Oberflächlichkeit f r e i g e s p r o c h e n‘
ist? Daß man einen Menschen von dem Vorwurf der
Oberflächlichkeit freispricht, verstehe ich, wie man aber dazu
gelangen kann, die Oberflächlichkeit freizusprechen, ist mir
unbegreiflich.
Solcher Dinge sind mir mehrere aufgefallen, doch nenne ich nur das
eine, da Sie vielleicht anders denken.
349
Eine
andere Art von stilistischem Sprachfehler — nach meinem Empfinden — ist
die, für welche p. 10 ein gutes Beispiel steht: ,Das indische
Denken ist ganz Sprache, und e s unterscheidet das
mystische Denken...‘ Dieses e s kann zunächst
nur das ,indische Denken‘ bezeichnen; jeder Mensch ohne Ausnahme wird
den Satz unterbrechen und wieder von vorn anfangen müssen, wenn er
entdeckt, daß es impersonal gemeint ist; abgesehen davon finde
ich diese Konstruktion vollendet häßlich.
Auch die Interpunktion ist häufig wüst und vermutlich noch
nicht von Ihrem Berliner Freund revidiert worden. So quälte sich
der arme Bruckmann beim Vorlesen p. 5 schrecklich herum, sechs Zeilen
von unten, bis ich ihm zeigte, daß sich die Stelle leicht und
unmißverständlich liest, sobald man nach ,sozial‘ statt
Punkt Semikolon und nach ,will‘ statt Komma Semikolon setzt.
Auch p. 10 oben wird sofort klar, wenn man ein paar Kommas in
Semikolons verwandelt.
P. 7 haben Sie entschieden verschlimmbessert. ,Die Lehre von der Seele
als des Schöpfers der Welt‘ — das ist ja grausig.
Hin und wieder haben Sie schrecklich vulgäre Fremdworte: nichts
passieren (p. 48), arrangiert (p. 35) und dergleichen. Gehört das
zu den gewollten und so wirkungsvollen Häßlichkeiten? Oder
lohnt es Ihnen nicht, sich an solchen Orten edler auszudrücken?
Dann möchte ich Sie fragen, finden Sie es rein stilistisch
zulässig, in einem so kurzen Stück z w e i m a l
einen so vortrefflichen, aber grellen Ausdruck wie ,schlechte
Lyrik‘ zu gebrauchen? P. 28 hat mich die Vokabel entzückt, p. 40
hat sie auf mich wie eine Geschmacklosigkeit gewirkt.
P. 7 die kurze Anführung Spinoza-Leibniz ist die e i n
z i g e Stelle des ganzen Essays, wo Sie mir bis auf
das p e d e s t r i a n zu sinken scheinen. Diese
Stelle habe ich ein paarmal gelesen, sie macht mich ganz
unglücklich. Was Sie da sagen, ist unbedeutend
350
und
(so kurz und unzusammenhängend gesagt) nur halb wahr. Das Ganze
klingt, als hätte i c h es in einem meiner
Popularisierungsversuche geschrieben.
Ganz vortrefflich finde ich das von Ihnen häufig angewandte Bild
des ,Verschluckens‘. Wäre es aber unmöglich, einen Ausdruck
zu finden, der nicht den ins Komische spielenden Anklang hätte?
Doch mehr als genug!
Kennen Sie Sternes Tristram Shandy
gut und ist Ihnen das Kapitel gegenwärtig, wo er auf die
großen Gefahren eines sehr erhabenen Stils hinweist — da bei
einem solchen nämlich schon ein Zurücksinken auf das Niveau
des sonst Vortrefflichen schmerzhaft wirke und den Eindruck des
ungleichmäßig Geschriebenen, Stillosen hervorbringe. Hin und
wieder habe ich (ganz vorübergehend) das bei Ihrem Ms. empfunden,
und ich gestehe es, ich wünschte, Sie könnten sich
entschließen — hat nicht ein Goethe Monate und Jahre und mit
Hilfe vieler Freunde an seinen schönsten Sachen gefeilt! —, sich
entschließen, dieses Meisterwerk — denn es ist eines — bei den
Korrekturen noch ein wenig zu feilen.
Wollen Sie es aber nicht, so ist es auch gut; ich habe es
überhaupt nur gesagt, damit Sie ein Zeugnis meines bis ins Detail
reichenden Interesses haben und auch weil man von dem, was Sie und mich
hierbei wirklich interessiert — dem Indischen
Idealismus selbst —, nicht so à bâtons rompus
sprechen kann.
Bruckmann und Cie. sind aufrichtig begeistert, und Sie können sich
vorstellen, wie stark ich noch eingeheizt habe.
Dagegen sieht es mit unserem vortrefflichen S[chroeder] schlecht aus.
Br. findet seine Arbeit ¹ so miserabel, daß er sie nicht
drucken könne. Ich habe erst opponiert; doch jetzt habe ich das
Ms. durchstudiert und muß gestehen, daß das Zusam-
¹ Die Übersetzung der Bhagawadgita, zu der Der Indische Idealismus als
Einleitung gedacht war.
351
menkoppeln
mit Ihrer monumentalen, von A bis Z vom Hauche des Genies durchwehten
Studie geradezu absurd wäre.
Da S. so schön übersetzt hat: ,Wem jeglichen Verlangens bar,
obs schön ihm oder unschön geht‘, so hoffe ich, er wird es
nicht bitter empfinden. Was sagen Sie zu folgenden zwei Versen:
Immer wieder mich erinnernd der
Erscheinung höchst wunderbar,
Erfaßt gewaltges Staunen mich,
und ich freue mich fort und fort.
Gewaltges Staunen hat auch mich erfaßt, aber nicht Freude fort
und fort, und ich kann nicht de Verantwortung auf mich nehmen, Br. zur
Veröffentlichung zu bestimmen.
Sonntag
vormittag.
Gestern unterbrochen und heute alle
Stunden besetzt. So muß ich denn abbrechen.
Meine ,Kritik‘ wollen Sie nur als einen heroischen Versuch, nicht in
Sentimentalität zu verfallen, betrachten; wie sollte ich denn
anders diesen Sachen eine humoristische Wendung abgewinnen. Und Ihr
Werk ist schön genug, daß man darüber schweige.
Als ich das erste Mal im Leben den ersten Band der 12 Upanishads der Sacred
Books in
die Hand genommen und die einleitenden Seiten der Chandogya gelesen
hatte — Oum, Oum de etc., da hatte ich kein Wort verstanden; ich legte
aber das Buch auf den Nachttisch mit einem innigen
Glücksgefühl hin, mit dem sicheren Gefühl, hier einen
Lebensschatz gefunden zu haben. Bei solchen Dingen erwächst nur
aus bedingungsloser Hingabe jenes Erleben, welches hier einzig
,Verständnis‘ ausmacht.
Und sehr ähnlich empfinde ich Ihren Indischen Idealismus. Ich will
nur n e h m e n, n e h m en.
Ich drücke Ihnen beide Hände von hellster Freude.
Ihr
Houston Stewart Chamberlain
352
Gestern
abend allein bei Bruckmanns. Sie und Ihr Werk waren das
Hauptgespräch. Br. hat große Angst, Sie könnten das Ms.
jetzt zurückfordern, da er es nur allein herausgeben will.
Ihre Forderung findet er an und für sich nicht zu hoch, doch rein
geschäftlich — seinem Verlagsgewissen gegenüber —
unmöglich (so als Direktor einer Aktiengesellschaft).
Ich hoffe sehr, daß, wenn Ihnen eine Kleinigkeit zur Abrundung
Ihres Reisebudgets fehlt, Sie es sich von mir vorstrecken lassen. Mit
meinen lit. Freunden haben wirs alle gegeneinander stets so gehalten.
Ich denke in diesen Dingen ganz unmoralisch oder wenigstens amoralisch.
Man bittet nicht und gibt nicht und dankt nicht, aber man reicht das
Metall weiter. Faire la chaine,
sagt der Franzose.
VI.,
Blümelgasse 1,
Wien, 20. 4. 1903
Lieber Freund!
Lassen Sie mich nur in allem Kürze Ihnen sagen, daß wir das
Buch erhalten und jetzt mit der Ruhe und Sammlung, die eine gedruckte
Seite einem einflößt, neuerdings genossen haben. Ich bin
heute nicht in der Stimmung und habe auch nicht die Zeit, Ihnen irgend
etwas Neues über Ihr Werk zu sagen, was für Sie sich lohnen
könnte zu hören. Diese 90 Seiten wollen überhaupt — wie
eine Upanishad — immer wieder und wieder gelesen werden, wobei ich mir
vorstelle, daß der Eindruck gleichsam wie in einem Spirallinie
steigen wird: dieselben Einwürfe werden sich vielleicht immer
wieder mit steigender Potenz einstellen, dann aber wieder, sobald die
Wendung einen auf die andere Seite hinübergetragen hat, wird man
in immer höherem Maße bewundern und hingerissen sein. Und
ich glaube, so ists recht. Denn dieser Eindruck, daß wir ein
lebendiges Wesen vor uns haben — und wenn auch Schopenhauer mit seiner
Bemerkung recht hat, daß man eine Persön-
353
lichkeit
entweder gleich oder gar nie erkennt —, der Eindruck bleibt nichts
destoweniger ebenso wahr, daß man an einer Persönlichkeit
nie auslernt.
Um meiner Frau besonders schwierige Stellen überhaupt begreiflich
zu machen, bin ich darauf verfallen, die von Ihnen geschriebenen Worte
durch andere zu ersetzen, das wirkt Wunder; und ist nur ein Keim des
Verständnisses erst da, so kommt das übrige schon nach und
das Schillernde des uneigentlichen Ausdruckes wird in seiner Absicht
verstanden.
Also nochmals warmen Dank. Sie können sicher sein, daß Sie
jetzt im Leuchtturm viel gegenwärtig sind.
Endlich bin ich mitten in meinem Plato
drinnen und kaum fähig, an irgend etwas anderes zu denken. Er
schreitet äußerst langsam vorwärts, doch habe ich
Hoffnung, daß die Mühe nicht umsonst gewesen sein wird.
Freilich, ein weiter Abstand ist es, der zwischen Ihrem esoterischen
und meinem exoterischen Wirken gähnt. Doch gelingt es, zu
belehren, so ist das nie banal.
Herzlichst
Ihr
Houston S. Chamberlain
VI.,
Blümelgasse 1,
Wien, 4. 5. 1903
Lieber Freund!
Nur kurz will ich heute etwas nachholen. Ich hatte nämlich Ihr
Werk in einem von Bruckmann mir verehrten Exemplare gelesen (Nr. 9) und
habe darum erst jetzt bemerkt, daß Sie mir Nr. 1 geschickt haben.
Sie wissen ja, wie abergläubisch ich in bezug auf Zahlen bin, und
Sie wissen auch, daß ich durchaus nicht unempfänglich bin,
gerade für solche kleine, nicht in die Augen fallende
Aufmerksamkeiten zwischen Freunden. Haben Sie also warmen Dank.
354
In
diesem Augenblick enthielt ich von Frau Cosima Wagner einen Brief aus
Florenz, in dem sie mir von Ihrem Idealismus
spricht. Sie scheint davon (obwohl sie das Buch noch nicht
durchgelesen) einen sehr günstigen Eindruck erhalten zu haben. Nur
meint sie: ,Der Stil stehe stark unter dem Einfluß des letzten
Nietzsche‘ — und dies hält sie für einen Nachteil —, denn sie
meint: ,kurze pointierte Sätze sind nicht im Geiste der deutschen
Sprache.‘ Sie scheint zu meinen, daß Sie bedeutend genug
wären, um Ihre eigene Sprache sich auszubilden.
Ich erzähle Ihnen das, weil es Sie interessieren wird. Ich selber
habe nicht die geringste Sorge. Nur der unbedeutendere Geist beginnt
mit allseitiger Originalität; derjenige, der etwas Eigenes zu
sagen hat, muß sich zunächst für die Formgebung an
andere anlehnen.
Hier ist ein so interessanter Mensch jetzt, daß ich Ihre
Abwesenheit bedaure. Ein Doktor Paira Mall
aus dem Punjab, ein echter
Arier aus der Kriegerkaste. Er ist Arzt eines Maharadschas und bleibt
einige Wochen hier, für einen Operationskurs. Doch träumt der
junge Mann schon jetzt mit unendlicher Sehnsucht von der Zeit, wenn er
seine Lebensaufgabe vollbracht und — wie alle seine Familienmitglieder
— wird in die Urwälder wegziehen können. Diese vollendete,
natürliche, zwanglose, widerspruchslose Neigung zur mystischen
Versenkung in das All hat mich tief ergriffen, zugleich habe ich
gesehen, welche Welt uns Germanen von den Indern trennt.
Persönlichkeit existiert für jene ganz und gar nicht. Sie hat
gar keinen Sinn; Doktor Paira Mall ist unfähig sich zu denken, was
wir uns darunter vorstellen; Napoleon und ein Mistkäfer: für
ihn ist beides ganz dasselbe. Er sagt es mit einem rührend
kindlichen Blick. Ich hoffe, ihn oft zu sehen. Ich muß leider
abbrechen und bitte nur um ...
355
12. 9.
1903
Lieber Freund!
Herzlichsten Dank. Sie sind zu gut und nachsichtig; doch nur das
Unverdiente ist wahre Gabe, und ich nehme sie gerne an.
Ich wollte Ihnen, wie Sie wissen, von München aus, v o
r der Schweiz, schreiben: einen langen Brief als Antwort auf
Ihren Stilbrief und mit allerhand Geschwatze, doch als meine Frau
verfrüht dort eintraf und die Reise gleich angetreten wurde, da
wars aus. In Grimmialp war ich, und namentlich fühlte ich mich
nicht wohl; auf Tarrant ging ich spazieren und ver,ochste‘ (aber nicht
im üblichen, sondern im buchstäblichen Sinne) wie
gewöhnlich vollkommen. Keine geringste Gedankenregung; calme plat.
Dazu viel Kummer Appias,
woraus mir tägliche Sorge entstand. Dann
ein furchtbar trauriger Todesfall in der Familie meiner Frau — eine
blutjunge Frau und Mutter im Kindbett, völlig unerwartet, ein
ärztlicher Mißgriff, wodurch diese nun auch im Gemüt
viel litt ... kurz, wir waren eine triste Gesellschaft. Und als dann
endlich die Sonne kam und große Besteigungen über das
Elendigliche zu siegen begannen (ich bin noch nie so gut gelaufen wie
in diesem Jahr) — dann kam das unerwartete Verhängnis in aller
Eile: eine 5. Auflage der Grundlagen. Da sank dann mein
Mut ganz hin — wie wenn man unten in ein Wasserfaß ein Loch
gebohrt hätte, nicht etwa als freute ich mich nicht über die
Verbreitung, aber wenn wir im November 1902 statt 3000 15000
herausgegeben hätten, wäre mir diese furchtbare Arbeit und
noch mehr, diese intellektuelle, zweimal erspart geblieben — zum
fünften Male in fünf aufeinanderfolgenden Jahren Wort
für Wort und Buchstaben für Buchstaben das Buchmonstrum
durchzugehen. Ich versichere Sie, es hat mich ganz demoralisiert. An
den ,Kant‘ kann ich natürlich nicht
356
denken,
wenn ich täglich was anderes in den Kopf kriege. Zum Glück
sinds gerade die Grundlagen
und das Buch als B u c h fesselt mich doch immer von
neuem, und zum Glück geht es rasend, so daß wir — wenns Gott
erlaubt — bis Ende des Monats fertig sind.
15. 9.
Wenn Sie scharfsinnig sind — und Sie
sind es —, wird Sie der Anblick dieses Bogens mit seinen zweierlei
Daten über eine Tatsache aufklären: nämlich, daß
ich augenblicklich allein zu Hause bin, Strohwitwer. Samstag abend vor
Tisch (nach Tisch schreibe ich nie) begann ich diese Zeilen an Sie;
Sonntag früh aber geriet ich in Buffon, verschlang bis abend
spät, schlief zehn Stunden, verschlang wieder — bis auf einige
abwesend durchgeführte Korrekturen ... und erst heute früh im
Bett fiel es mir auf Umwegen ein, daß ein angefangener Brief an
Sie in einem Schube liegen müsse. Ich vergesse alles in diesem
heiligen Schweigen und lebe wie ein dauernd Berauschter dahin. Wenn ich
trotz fünfundzwanzigjähriger Übung mich noch immer nicht
in des Wortes bürgerlicher Bedeutung ,heiratsfähig‘
fühle, es war doch gut, daß ich die Dummheit beging; ohne
Ballast hätte ich leicht alle Berührung mit dem Tage
verloren, wäre unpraktisch, vergeßlich, zerstreut geworden.
Und jetzt liegt wieder ein solcher Haufen Bogen zum Korrigieren da,
daß Sie mir vergeben müssen.
Gern hätte ich — ich kann aber heute nicht — auf Ihren Stilbrief
geantwortet; daß i c h nicht daran
dachte, S i e über Stil zu belehren — das
werden Sie mir leicht glauben, ich weiß ganz gut, wer Sie sind
und wer ich nicht bin; ich sehe das ebenso objektiv, als wären es
zwei Mineralien, die vor mir liegen. Ich habe lediglich geglaubt,
daß der erste Eindruck einer so begabten Frau wie Frau Wagner
für Sie Interesse haben muß; darum teilte ich ihn mit.
357
Was
aber die Vergleiche anbetrifft, so ist es ein notwendiges
Phänomen, daß man Unbekanntes sich zunächst nur durch
Vergleich mit Bekanntem erklären, deutlich machen, einreihen kann.
Was hat man für Unsinn geschrieben, als das Okapi entdeckt wurde.
Ein bißchen Pferd, ein bißchen Giraffe, ein bißchen
Zebra, ein bißchen Stier usw. Man hätte glauben müssen,
das arme Vieh wäre aus ganz separaten Teilen zusammengebracht. Und
doch war es nur der Mensch, der nach Analogieen suchte, um sich ohne
allzu große Mühe ein neues Gedächtnisschema zu
konstruieren.
Gehen Sie weiter zurück, zu abgelegeneren Formen, da wirds gar
erst toll. Sie wissen, was Ichthyosaurier
sind? Wesen, die in der
sekundären oder mesozoischen Zeit über die ganze Welt
verbreitet waren und eine so eigene Physiognomie besitzen, daß
jedes Kind, einmal aufmerksam gemacht, sie ebenso leicht wie einen Hund
oder ein Pferd erkennt. (Herrliche Sammlung in München. Alte
Akademie, wenn Sie oben sind, gleich links durch zwei oder drei Zimmer,
höchst sehenswert und auch für S i e
anregend.) Nun hören Sie bitte die Beschreibung in Zittels
Handbuch der Paläontologie: ,Die Ichthyosaurier haben den Schwanz
eines D e l p h i n s, die Zähne
eines K r o k o d i l s, das Kopf- und Brustbein
einer E i d e c h s e, die Flossen eines
W a l s, die Wirbel und den Schwanz eines F i s c h
es.‘ Wenn das wahr wäre, das Tier hätte nicht
zehn Sekunden
leben können — statt daß es zehn Millionen Jahre lang die
Welt beherrschte. Hier sind nicht bloß — wie beim Okapi —
verwandte Wesen herangezogen, sondern Delphin und Wal sind Mammalia,
Krokodil und Eidechse sind Reptilien, Fische Pisces-Ordnungen, die so
weit voneinander stehen, daß heute selbst die enragierten
Darwinianer zugeben, sie könnten nicht voneinander abstammen. Es
ist natürlich einfach alles nicht wahr; der Ichthyosaurus hat den
Schwanz eines I. und die Zähne eines I. und den Kopf eines I.
358
und
die Flossen eines I. und die Wirbel eines I. Zunächst aber — und
bis wir das uns neue Wesen nicht bloß physisch gesehen, sondern
gleichsam von innen heraus neuerlich k r e i e r t
haben — behelfen wir uns auf die soeben vorgeführte groteske
Weise, weil wir eben nicht anders können. Wie Buffon sagt: nous ne
pouvons acquérir des connaissances que par la voie de la
comparaison; ce qui est absolument incomparable est entièrement
incompréhensible.
Also, lieber Freund, einstweilen müssen Sie sich darin ergeben,
als Ichthyosaurus betrachtet zu werden.
Viele herzliche Grüße an Ihre verehrten lieben Wirte.
Getreu und in alter Wärme
Ihr
Houston Stewart Chamberlain
19. 10.
1903
Lieber Freund! Jetzt weiß ichs
ganz genau und muß es Ihnen — zur Fortsetzung unseres gestrigen
Gespräches — gleich sagen: Bielschowsky
ist ein elender
talentloser Schuft, ein Kujon, ein Arschpauker; Lewes, obwohl an
ähnlicher Beschränkung des Geistes leidend — es ist komisch
und ekelerregend zu sehen, wie alle diese Leute parallel miteinander
marschieren, der Gänsemarsch in die Breite umgesetzt —, ist doch
ein Mann von weit interessanterem Bildungsmaterial und wirklicher
Kulturbelecktheit, dazu von Haus aus ungleich begabter, frischer,
origineller. Lewes ist einer jener geistig rührigen,
blitzgescheiten Juden, denen man fast Satz für Satz widersprechen
möchte und die doch etwas geben, weil sie eben etwas sind;
wirklich aufregend wirkt nur das eine, daß sie nicht ahnen, die
Hauptsache bleibe ihnen immer und überall verschlossen, ungesehen,
unbemerkt, woraus dann eine parvenüartige Sicherheit in der
Aburteilung über Dinge, die sie absolut nicht kennen, entsteht,
die bisweilen ein ohrfeigendes Jucken in den Fingern verursacht.
359
Gestern
abend sind wir zu dem ersten großen ästhetischen Kapitel
gelangt: Egmont. Je l’attendais là. Denn schließlich
über Götz und Werther — wenn man nicht gerade das Pech hat,
R. M. Meyer
zu heißen — ist es schwer, größere
Dummheiten zu sagen; ja, ich muß gestehen, B[ielschowsky]s
,Werther‘ ist sogar das Beste, was ich bisher von ihm las. Aber die
platte Seichtigkeit des Ganzen ließ mich befürchten,
daß, sobald wir Goethes Reife näher kommen, die Sache schief
gehen würde. Ekelhaft, sage ich Ihnen, ekelhaft. Ich habe
über das Kapitel geschrieben: Staub von den Stiefeln eines
deutschen Literaturprofessors. Und wenn der Mensch wenigstens direkte
Dummheiten sagte, wenn er mit Enormitäten herausplatzte wie der
redliche Lewes, aber nein, alles ist so ,unanfechtbar‘ wie nur
möglich; der dünnste Philistertischwein mit Wasser gemischt,
de l’eau rougie; man kann nicht einmal widersprechen, man bringts nicht
bis zur Empörung. Immer die alte Leier: Goethe nicht dramatisch.
Daß das Volk im zweiten Akt frech redet und doch nichts tut und
daß es im fünften, als Egmont schon festsitzt, nicht einmal
zum Reden es bringt — ,nicht dramatisch‘. Wo doch gerade in diesen
Szenen jedes Wort von Gold ist. Klärchen ist diesem Weisen aus
Jerusalem so ziemlich überflüssig; ihre Sterbeszene mit dem
erlöschenden Lichte hat keinen Wert für das Drama. Der Sohn
Albas hätte einen Aufruhr zur Errettung seines Freundes anstiften
und mit ihm zusammen, die Waffen in der Hand, sterben sollen. So wird —
Schritt für Schritt — alles, was die Poesie des Stückes
ausmacht, vernichtet. Und alles im ruhigen, sicheren,
leidenschaftslosen Ton des akademisch geklärten, verklärten
Richters gesprochen. Pfui, und so etwas läßt sich das
deutsche Volk als ein epochemachendes Buch über Goethe aufbinden.
Überhaupt Sie sollten sich diese prosaische E r z
ä h l u n g von einem jedem Werke G.s ansehen; ganz so wie
in unseren landläufigen Wagnerbüchern. ,Dann bringt Sieg-
360
fried
einen Bären aus dem Walde mit und hetzt ihn auf Mime, und dann
fleht Mime; bitte, jage den Bären fort, und dann geht der Bär
hinaus etc. etc.’
Da ist doch Lewes ein ganz anderer Kerl (trotz der buchstäblich
idiotischen Dummheiten), wenn er keck ansagt: As a tragedy, criticism
makes sad work with it: but when all is said, the reader thinks of
Egmont and Klärchen and flings criticism to the devil.
Jener Doppelcharakter dieser Dichtung, wodurch sie ein Markstein in der
Geschichte der Kunst und, was mehr ist, eine Offenbarung des Wesens
dieses Dichters wird: nämlich die Verlegung der Poesie ganz ins
Auge und ins Ohr, woraus dann das Schwanken zwischen abstrakter
Vielrednerei (weil doch der Zusammenhang der Historie hergestellt
werden muß — siehe Walküre
II. Akt) und ekstatisch-musikalischer Vision entsteht, und alles
übrige, was das L e b e n dieser Schöpfung
ausmacht, davon haben natürlich beide nichts erblickt, nichts
geahnt, nichts, nichts.
Es ist schon ein Jammer und paßt zum heutigen Wetter und zum
Zustand meines Kopfes.
Herzlich
Ihr
H. S. Ch.
20. 11.
1903
L. Fr.! Sie haben das armselige kleine
Briefbögelchen hier liegen lassen. Alles, was vom absoluten
Egoisten, dem armen Schlucker, übrig bleibt; bald nimmt sich die
Markowitsch ein ,anderes Genie‘, und dann ist er auf immer
ausgelöscht.
Kaum waren Sie zur Tür hinaus, fiel mir das richtige Wort ein,
nicht ,Härte‘, nicht ,Dichtigkeit‘, sondern Starre, englisch:
rigidity.
Lord Kelvin sagt: ,One cannot refuse to call Ether matter, but it is
not subject to the Newtonian law of gravitation. It is a
361
distinct
species of matter, which has inertia, rigidity, elasticity,
compressibility, but not heaviness.‘
Früher hieß es, der Äther sei 15 Trillionen mal
leichter als Luft, Kelvin wies aber mathematisch nach, daß
er g a r k e i n Gewicht haben darf,
sonst stimmt die Rechnung nicht. Dabei aber übertrifft seine rigidity die des gehärteten
Stahles.
Das hatte vor 120 Jahren unser verehrungswürdiger Kant schon alles
a priori deduziert. In seinem gänzlich unbekannten nachgelassenen
Fragment zeigt er, der Äther müsse imponderabel, inkoerzibel,
inkohäsibel und inexhausibel gedacht werden. Das ,inkoerzibel‘ ist
ja die Starre. Ich weiß es nicht, ich denke mir aber, diese
muß einen Wert = ∞ haben; oder vielleicht in der mathematischen
Praxis jene Grenze erreichen, wo der plötzliche Salto mortale aus
dem Reiche der Ziffern in das des ∞ stattfindet.
Verzeihen Sie, daß ich gestern abend so viel schwatzte und teils
so konfuses Zeug. Hoffentlich schliefen Sie wie ich darauf brillant.
Ihr
H. S. C.
25. 11.
1903
L. Fr., daß Sie die
Flaubert-Briefe I und II erst heute erhalten, ist n i c h t
meine Schuld, denn i c h verstehe die Eile in
solchen Dingen. III und IV stehen Ihnen bald zur Verfügung.
Mich hat diese Lektüre erhoben und gekräftigt. Er ist ein
wahrhaft großer Mensch. Und wenn auch sein Haß manchmal ihn
ein wenig blind machen mag, es ist doch wohltuend und fürs ganze
Leben fördernd, so vieles ein für allemal abstreifen zu
lernen.
Und welchen verehrungswürdigen bump of veneration besitzt doch
dieser Mann! Welchen Männern wendet er seine Liebe zu, ungeteilt,
leidenschaftlich! Finden Sie nicht das Verhältnis zu Victor Hugo —
von dem man hätte glauben sollen,
362
er
würde ihm als phraseur zuwider sein — das charakteristischeste von
allen? Er hat eben einen unbeirrbaren Instinkt für
Größe (wie für die Pyramiden und die Sphinx) und ist
insofern das Gegenteil (genau) von allem, was man sonst als fin
littérateur zu bezeichnen pflegt. Sehr amüsant ist dann
später sein Entsetzen, als der Naturalismus aufkommt und er dessen
angeblicher Führer sein soll; er der Feind aller Schulen; und auf
Zolas Manifest bemerkt er nur: moi pas comprendre. Vielen Dank für
Ihre herzliche Güte neulich. Bei so langer, schweigender
Anspannung sind ermutigende Worte sehr wohltuend.
Ihr
H. S. C.
Sonntag,
17. 4. 1904
Lieber Freund!
Ich bin Ihnen als fanatischer Antievolutionist so gut bekannt,
daß ich von Ihnen gewiß nicht mißverstanden werde,
wenn ich das Wort Entwicklung brauche, um einen Teil meiner
großen, großen Freude über Ihren ,Baudelaire‘ ¹
Ausdruck zu geben. So wenig ich an jene Entwicklung aus einem X in ein
Y glaube, die heute das Heilsdogma aller Professoren ausmacht, um so
mehr erkenne ich an, daß im Kampf des Lebens gegen Stoff und
Kraft (seine Feinde) Bewegung die Waffe oder vielmehr die
unerläßliche Taktik ist. Und Sie bewegen sich. Sie
haben s i c h mehr in der Gewalt und betreten
bereits das Gebiet der Virtuosität. Ein einziges Mal — ich kann
die Steile nicht näher bezeichnen, sie steht aber ungefähr am
Anfang des dritten Drittels, will mir scheinen — war mir es, als ob Sie
diese Gewalt verlören; man geht da durch eine kleine rein
dialektische Wüstenei, wie Sie früher oft beliebten und etwa
ein Duns Scotus seine Freude daran gehabt hätte — Begriffe gegen
Begriffe, ein Turnier. Sonst war dieser Essay
¹ Gekürzt in Essays.
363
sehr
anschaulich, und ich meine doch, dies ist ein Gewinn, auch rein
stilistisch betrachtet, die ganze Anlage mit den beiden Gestalten
Mussets und Stendhals ruht auf dem Grundsatz der Veranschaulichung, und
daß dies mir Freude machen mußte, können Sie sich
leicht denken. — Das viele Exquisite, was Sie von jeher in alles, was
Sie schrieben, legen, kommt dadurch nur um so mehr zur Wirkung, man ist
genußfähiger, als wenn Sie einem das Gehirn erst gemartert
haben. Ich freue mich auf die Lektüre à tête
reposée, im Lehnstuhl, vorerst hat der Aufbau meine
Aufmerksamkeit so beansprucht, daß ich von den zahlreichen
,Hemdknöpfen‘ (wie Wagner sie nannte) nur einige wenige recht ins
Auge fassen konnte.
Der Titel ist zeitschriftenmäßig, der einfache Name Charles
Baudelaire wäre groß und würdig, das poeta
christianissimus scheint mir zu geistreich, um geschmackvoll zu sein.
Ihr
H. S. C.
23. 11.
1904
L. Fr.! Würde Ihnen Saint-Beuves Port-Royal von Nutzen sein?
Freilich spielt die Sache im 17. Jahrhundert und reicht nur in die
ersten Anfänge des 18. hinein, doch gehen manche Fäden von
dort aus weiter.
Vom anderen Ende des Jahrhunderts habe ich dann Sybels Geschichte der Revolution, die zwar
ganz unliterarisch ist und in bezug auf das zugrunde liegende
Gedankenwerk unbefriedigend, vielleicht aber doch im ersten Band dieses
oder jenes enthält, was Anregung gewährt.
Sonst sehe ich in meiner Sammlung nichts.
In St.-Beuves Portraits Lit.
t. 1. und in seinen Causeries du
Lundi t. III soll (nach meinem Vapereau) Gutes über Diderot
sein; in der Hofbibliothek jedenfalls zu haben.
Ich habe gut geschlafen, aber die ganze Zeit von Ihrem
364
Buch
¹ geträumt. Was mich am meisten frappiert und am innigsten
gefreut hat, ist, daß jetzt, wo Sie der Mystik als Titel und
Gewand entsagt haben, Sie im besten, tiefsten Sinne des
Wortes m y s t i s c h e Weisheit zutage
fördern. Ein Laien-Eckhart im 20. Jahrhundert.
Der Büffel hat mich die ganze Nacht angestarrt und den Sand
aufgescharrt — ein kleiner weißer Büffel mit
übergroßen braunen Augen. In diesem Zusammenhang und mit
Berufung auf die überragend prächtige Stelle über
Jupiter als Tier, hatte ich Lust Sie den m y s t i s c h e
n Büffel zu nennen. Die Mystik ist hier gleichsam urban
geworden oder, wie die Alten gesagt hätten, göttlich.
Es liegt mir viel daran, mir meinen Genuß nicht durch
Schwätzen zu zerstreuen und zu trivialisieren; Sie haben aus
jahrelanger Arbeit eine Einheit geboren, wir wollen sie nicht gleich
zerstückeln. Darum halte ich mich noch zurück und sage selbst
von dem ,dramatischen Menschen‘ nichts, wenngleich es wohl das
Genialste ist, was Sie bis zur Stunde geleistet haben.
Eine innige persönliche Freude erlebte ich dadurch, daß ich
Sie auf einmal wieder ganz nahe empfand — wie seinerzeit bei den Mystikern, wie später in Tod und Maske. Persönlich sind
Sie mir nämlich ziemlich fern gerückt. Verzeihung, ich meine
das durchaus nicht à la *** aber in solchen Gefühlen gibt
es ein Auf und Ab, so tausendfältig bedingt, daß keine Kunst
den Zusammenhang klarlegen könnte; ich habe den Grundsatz, mich
immer wie ein Schiff von den Wellen tragen zu lassen — sonst kommt
Sentimentalität und Unaufrichtigkeit, überhaupt Reibung
heraus, man darf sich selber und seine Gefühle nicht zu wichtig
nehmen, man muß sich mehr genießen als lenken. Aber
daß jedes Wort traf und daß Ihre Musik mich in eine Art
Rausch versetzte, war mir nicht allein
¹ Die Moral der
Musik.
365
ein
intellektueller Genuß höchster Art, sondern auch rein
persönlich eine herzinnige Freude.
Das Buch ist jedenfalls ein Meisterwerk; ich werde glücklich und
stolz sein, wenn Sie sich wirklich entschließen, meinen Namen
darauf zu schreiben.
Wegen der Bücher bitte ich um eine Karte.
Ihr
Houston Stewart Chamberlain
17
Promenadeplatz,
29. 1. 1906
Lieber Freund! — Haben Sie Dank für
Ihre Zeilen vom 12. 1. Ihre Nachrichten haben mich sehr betrübt,
denn wenn ich gleich Schönaich sehr selten sah und keine
große Sehnsucht hatte, ihn öfter zu sehen, so gehörte
er zu den wenigen Menschen, von deren Dasein zu wissen mir Freude
machte oder vielmehr m a c h t; denn ich will doch
hoffen, daß die große Kraft seiner Konstitution ihm noch
über etliche Jahre hinweghilft. Der angebliche Asthmaanfall deutet
offenbar auf Herzverfettung; bei geeigneter Diät und Lebensweise
dürfte es gelingen, eine kleine Lebensfrist zu erlangen. Bitte
grüßen Sie ihn bestens von mir. Es würde mich wirklich
herzlich freuen, wenn er mein Buch lesen könnte.
Von mir selber habe ich weiter nichts zu berichten als von einem
großen Ruhebedürfnis. Ich bin nicht sehr fleißig,
bringe aber doch einiges vorwärts.
Ja, ich habe mir Ihren Brief und Ihren entzückenden Plato ¹
und Ihre geniale Rezension seinerzeit abgeholt. Letztere ist als
Kunstwerk geradezu wunderbar. ² Ein Grad von Plastizität und
von unerschöpflichem Anregungsgehalt, wie ich es auch bei Ihnen
noch nicht erlebt hatte. Vielen Dank.
¹ Übersetzung von ,Lysis‘, ,Charmides‘,
,Ion‘. — ² ,Über Robert und Elizabeth Barrett-Browning‘ (Essays, Insel-Verlag).
366
Strafen
Sie mich nicht, schreiben Sie mir hin und wieder; verfolge den
Lebensgang, den das Schicksal mir bestimmt, und fühle mich dabei
wohl. Alles übrige wie Allah anbefohlen.
Wenn Sie M. C. begegnen, bitte von mir zu grüßen.
Ihr
stets getreuer
Houston Stewart Chamberlain
6. 8.
1906
L. F.! Mit aufrichtiger Anteilnahme
erfahre ich aus dem schwarzgeränderten Blatte, welcher Schlag Sie
getroffen hat. ¹ Ich weiß, daß Sie viel gebunden waren
und viel zu leiden hatten, doch mehr als alles andere attachiert sich
der Mensch an das, was ihm Opfer und Entbehrung auferlegt; Ihre
Freiheit wird Ihnen sehr leer vorkommen und Ihre Pflichtlosigkeit
öde. Möchten Sie in glücklich gewählter Arbeit
Zerstreuung aus Ihrem Schmerze und Erholung für Ihre gewiß
arg angegriffenen Kräfte finden.
In
treuer Ergebenheit
stets Ihr ergebener
Houston Stewart Chamberlain
¹ Tod meines Vaters.
——————
367
(Leere
Seite)
368
INHALT
——————
Gedruckt in der Offizin
Poeschel & Trepte zu Leipzig
Letzte Änderung: 29. August 2025